sierra : 22.00 — Eine Frau betrat an der Station Charles Michels den Metrowagon, setzte sich und begann in einem Buch japanischer Zeichen zu lesen. Ich beobachtete ihre Augen, wie sie von der oberen Kante des Buches senkrecht nach unten wanderten, wie sie sofort wieder nach oben hüpften und ein wenig zur Seite, um dann erneut nach unten zu gleiten. — Eine vertikale Welt. — Als sie mich aber musterte, mich oder meinen Blick, eine horizontale Bewegung: Auge um Auge, von dem einen zum anderen und wieder zurück. — Ein seltsamer Moment. — Der Eindruck, dass die Frau meine Augen betrachtete, als wären sie Schriftzeichen, dass sie sich zunächst für die eine, dann für die andere Iris interessierte. Daraufhin die Einsicht, dass ich, wenn ich ein Auge, sagen wir, das linke Auge eines Menschen für sich betrachte, den Menschen hinter dem Auge weder sehen noch erkennen kann.
Aus der Wörtersammlung: mich
am viktoriasee
himalaya : 0.01 — Bilder. Bildschirmbilder, die ich wahrnehme, die mich berühren, weil meine Augen, mein Gehirn sie wahrnehmen, flüchtig, im Vorübergehen, im Nebenbeisehen. Ein Fischerboot auf dem Viktoriasee. Wie lebende dunkelhäutige Männer in Shorts ( sie stehen balancierend in ihrer hölzernen Schale ) dunkelhäutige leblose Körper ohne Shorts in ihren Netzen aus dem Wasser ziehen. Das leuchtende, hellblaue Fleisch der Toten, die in Ruanda gewaltsam ihr Leben verloren, Nilbarschspeisefische haben von ihren Körpern gefressen. Zwei Tage lang ein Loop ( CNN ) vom Leichenfang, dann verschwanden die Bilder aus der Übertragungswirklichkeit.
one man band
himalaya : 2.10 — Einmal, im Alter von fünf oder sechs Jahren, beobachtete ich einen Mann, von dem nichts zu sehen gewesen war, als die Spitzen seiner Schuhe, eine ramponierte Hose, ein rußiges Hemd und ein Hut mit Feder, weil der Mann von Musikinstrumenten geradezu überfallen gewesen zu sein schien. Ich hatte den Eindruck, dass nicht der Mann auf seinen Instrumente spielte, sondern die Instrumente auf einem Gefangenen. An diese Geschichte, von meinem damals jungen Gehirn vor einem wirklichen Bild entworfen, erinnerte ich mich gestern Abend, während ich an der Konstruktion eines Rasselkäfers arbeitete. Bald geisterte die Gestalt eines weiteren Mannes durch meinen Kopf, auf dessen Körper hunderte knatternde Käferwesen Platz genommen hatten. Nein, sie hatten sich nicht eigentlich niedergelassen, sie waren fest mit ihm verbunden, sie waren Teil, sie waren ihm aus der Haut gefahren und knisterten und klapperten ohne eine Pausenzeit einzulegen, weswegen es sich bei jenem von mir eroberten Menschenwesen, um eine Person ohne Gehör handeln musste. Könnte dieser Mann glücklich sein? Ich wüsste gerne, was nun zu unternehmen ist! Schluss jetzt. Fangen wir noch einmal von vorne an. Heute ist Dienstag, Frühling und Winter.
yanuk : xin
~ : yanuk le
to : louis
subject : XIN
date : mar 18 09 10.52 a.m.
Seit gestern Abend ist es wieder möglich, zu notieren, weil ich meine Schreibmaschine zurückerhalten habe. Mein lieber Louis, so vergehen nun die Tage wieder schneller, als die Tage zuvor noch ohne Schreibmaschine, da ich auf meiner Plattform Höhe 510 wartete, dass Xin, — so nenne ich das Mädchen, das mich meines Schreibgerätes beraubte -, sie mir zurückgeben würde, auch Bleistifte, Hefte und meinen Fotoapparat, die sie eines Nachts, während ich schlief, mit sich genommen hatte. Es ist seltsam, wenn man so sitzt und denkt und doch über keine Werkzeuge verfügt, aufzuschreiben, was man dachte, wird man müde. Natürlich habe ich in erprobter Weise, Zeichen in den Baumstamm hinter mir geritzt, aber während ich an ihnen arbeitete, wusste ich doch in jeder Sekunde, dass ich sie zurücklassen, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde. Ja, man wird müde, wenn man denkt, ohne notieren zu können, als würde man in lauwarmem Wasser liegen, im Halbschlaf alle diese feinen, vergeblichen Stimmen im Kopf. — Ich nehme an, Du hast Dich um mich gesorgt, weil ich keine Nachricht sendete. Vor wenigen Stunden noch hörte ich das Geräusch eines Flugzeuges, das sehr langsam den Himmel irgendwo dort oben durchkreuzte. Natürlich bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch nur ein Wunschgeräusch hörte. Das fliegenleichte Mädchen Xin jedenfalls schien nichts gehört zu haben. Sie verharrt wieder in meiner Nähe, hängt an einem Arm über dem Abgrund, schläft und spricht träumend in ihrer merkwürdigen Sprache leise vor sich hin. Ich wünschte, ich könnte sie verstehen. Morgen werden wir aufbrechen, werden weiter aufwärts steigen. Nach wie vor ist nicht zu erkennen, woher das Licht kommen mag, das uns so angenehm flatternd bestrahlt. Cucurrucu — Yanuk
eingefangen
20.58 UTC
1805 Zeichen
MELDUNGEN : YANUK LE TO LOUIS / ENDE
bellevue
ulysses : 6.08 — Vor Jahren einmal entdeckte ich nach stundenlanger Suche in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek eine Fotografie auf einem Mikrofilmstreifen und ich wusste sofort, dass ich dieses Lichtbild besitzen musste. Ich bat eine Bibliothekarin, aus dem Material das Beste herauszuholen, höchste Auflösung, weswegen ich bald einen kleinen Stapel Papiers entgegennehmen konnte, den ich im Arbeitszimmer an einer Wand zum Bild zurücksortierte, zur Ansicht einer Straße des Jahres 1934 präzise, einer Straße nahe des Bellevue Hospitals zu New York. Staubige Bäume, eilende Menschenschatten, die Silhouette einer alten, in den Knochen gebeugten Frau, der Wagen eines Eisverkäufers, rostige Hydranten, die spröde Steinhaut der Straße, zwei Vögel unbekannter Gattung, Spuren von Hitze, und ich erinnere mich noch gut, dass ich eine Zeile von links nach rechts auf das Papier notierte: Diese Straße könnte Malcolm Lowry überquert haben, an einem Tag vielleicht, als er sich auf den Weg machte, seinem Körper den Alkohol zu entziehen. Und weil ich schon einmal damit begonnen hatte, das Bild zu verfeinern, zeichnete ich in Worten weitere Substanzen auf das Papier, Unsichtbares oder Mögliches. Einen Schuh notierte ich westwärts: Hier flüchtet Jan Gabriel, weil sie Mr. Lowrys Liebe nicht länger glauben konnte. Da lag ein Notizbuch im Schatten eines Baumes und ich sagte: Dieses Notizbuch wird Malcolm Lowry finden von Zeit zu Zeit, er wird es aufheben und mit zitternden Händen in seine Hosentasche stecken. Schon segelten fiebernde Wale über den East River, der zwischen zwei Häusern schimmerte, ein Schwarm irrer Bienen tropfte von einer Fensterbank, und da waren noch zwei Mädchen, barfuss, — oder trugen sie doch Strümpfe, doch Schuhe? — sie spielten Himmel und Hölle, ihre fröhlichen Stimmen. Ich gestehe, dass Daisy und Violet nicht damals, sondern in dieser letzten Stunde einer heiteren Arbeitsnacht ins Bild gekommen sind.
auftauchen abtauchen
kilimandscharo : 10.27 — Texte, die wie aus dem Nichts auf dem Papier erscheinen. Texte ohne Anfang, Texte, die inmitten eines Wortes beginnen. Walfischlinien, deren dampfende Muschelrücken sich Zeile für Zeile aus dem Papier erheben. Ob es vielleicht möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen?
kofferzimmer
echo : 2.18 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Sogleich weiter gedacht. Seltsame Kerne leise in meinem Kopf hin und her bewegt, jene von den Schlafwaben zum Beispiel, von Kofferzimmern, in welchen arbeitslose Menschen dämmernd lagern. Wie ihnen schmerzlos die Zeit vergeht, wie sie, von besseren Zeiten träumend, Blutkonserven aus ihren Knochen destillieren. Kaum hatte ich aufgeschrieben und mich gewundert über das, was ich dachte, stand ich wieder in der Küche, aß eine weitere Banane und einen Pfirsich zum Nachtisch. Dann, endlich, bemerkte ich Geraldines Sommerhut, sein Schaukeln auf atlantischen Wellen. Ungeheuere Stille. Absolute Stille. In dieser namenlosen Stille, ein Hut allein auf dem Meer. Kein Schiff. Kein Land. Aber einhundert Seemeilenkreise von Stille in einem Bild, das ich niemals mit Augen sehen, sondern immer wieder nur denken werde. stop. Guten Morgen!
geraldine verliert ihren sommerhut
~ : geraldine
to : louis
subject : MEIN SOMMERHUT
Es ist windig heute, Mr. Louis, aber das Meer bewegt sich nicht. Sehr kleine Wellen nur, als würde das Wasser frieren. Weil dazu die Sonne scheint, hatte Papa am Vormittag den Schiffsfotografen und meinen Sommerhut mitgebracht. Jetzt schwimmt mein Hut auf dem Atlantik, weil ich einen Moment nicht aufgepasst und ihn nicht festgehalten habe. Bald werde ich eine Fotografie besitzen mit einem Hut, den es nicht mehr gibt. Ein lustige Geschichte, nicht wahr? Aber was erzähle ich Ihnen da für unwichtige Dinge. Ich muss immerzu an meinen kleinen, lieben Steward denken. Seit zwei Tagen liegt er in seiner Kajüte, weil er krank geworden ist. Nichts Ernstes, nur ein Schnupfen und etwas Husten. Und natürlich darf ich nicht zu ihm, ich könnte mich infizieren mit der Himmelsweißwas und das würde mich umbringen, sagt der Doktor, obwohl ich das nicht glaube, weil ich doch sehr verliebt bin. In zwei Tagen darf ich vielleicht zu ihm. Bis dahin schicke ich kleine Briefe, weshalb ich eigentlich überhaupt keine Zeit habe, an Sie zu schreiben. — Ahoi, Mr. Louis, Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 22.02.2009
22.18 MEZ
GERALDINE TO LOUIS / ENDE
mauritius
~ : louis
to : Mr. lichtenberg
subject : MAURITIUS
Mein lieber Lichtenberg, wie unermesslich meine Freude, seit ich weiß, dass Sie lesen, was ich notiere. Noch immer bin ich wie benommen, sitze herum und überlege, ob sich nun meine Schreibwelt möglicherweise wesentlich verändern wird. Nicht leicht für einen kleinen Schriftsteller, wie ich einer bin, zu wissen, wer von oben her zusieht, ohne sofort alle Unbefangenheit zu verlieren. Nehme an, Sie haben einen vollständigen Blick auf mich, auf meine Person, nicht nur auf Zeichen und Bilder. Ganz sicher beobachteten Sie deshalb meinen Luftsprung gestern kurz nach dem ich das Postfach geöffnet hatte. Ihr Brief, das wunderbar kräftige und raue Papier des Couverts, ein Stempel auf einer blauen Marke. Eine Mauritius, nicht wahr? Ich habe, nein, nein, ich habe sie nicht übersehen und wenn ich mich nicht irre, ausgesorgt mit Ihrer Hilfe bis an mein Lebensende. Jetzt frage ich mich natürlich, schreiben Sie denn noch mit der Hand dort oben? Sitzen Sie auf Stühlen oder schweben sie herum und denken sich alles nur aus und sofort aufs Papier? Wird noch Nacht und Tag oder ist immerzu das richtige Licht, so wie Sie’s gerade brauchen? Ob sie mir wohl manchmal zuhören, verzeichnen, was ich spreche, wenn ich träume? — Ihr Louis, mit herzlicher Freude!
regenkäfer henry
hibiskus : 3.25 — Kurz nach drei Uhr. Es hat aufgehört zu regnen, die Nacht ist still, alle Menschen um mich herum schlafen. Ich habe einige Stunden vergeblich versucht, eine Geschichte aufzuschreiben, die mir seit zwei Tagen durch den Kopf geistert. Hart habe ich gearbeitet, jetzt bin ich müde und sende anstatt meiner Geschichte, eine Zeichnung, eine Ahnung vielleicht vom Gespenst, das in dieser Nacht nicht gelingen wollte. — Guten Morgen! Heute ist Donnerstag.