himalaya : 3.12 — In einer Schublade meines Vaters entdeckte ich Bleistifte, Spitzer, Lineale, Rechenschieber, Uhren und eine Trillerpfeife. Zwei Klebstofftuben, hart wie Stein, waren nie geöffnet worden. In einer Schachtel von Metall eine Handvoll Batterien. Sie gehörten zu einem Blutdruckmessgerät, das ich selten beachtete, solange mein Vater noch lebte. Es war ein Gerät für alte Leute, scheinbar unsichtbar für die Augen eines jungen Mannes. Ich erinnere mich, beinahe hätte ich dieses Minutenbild vergessen, wie mein Vater vor seinem Schreibtisch sitzt, die Manschette des Prüfgerätes um den linken Arm gelegt. Das Geräusch einer Pumpe ist zu hören, ein Brummen. Wie mein Vater nun reglos wartet auf den Moment, da das Gerät die Umklammerung seines Armes lockern wird, ein scheuer Blick, so stelle ich mir vor, auf Leuchtziffern, deren Bedeutung er fürchtete oder über die er sich freute. Vor einigen Wochen fand ich in einem Ordner lange Zahlenreihen in Tabellen, die der alte Mann selbst angefertigt hatte. Seine akkurate Schrift, jede Zeile ein Zeugnis von Überwindung, ein Beweis, dass mein Vater sich kümmerte, dass er kein Flüchtender gewesen war. — stop
Aus der Wörtersammlung: minuten
ai : SUDAN
MENSCH IN GEFAHR: „Sandara Farouq Kadouda wurde am 12. April vermutlich von Angehörigen des sudanesischen Geheimdienstes entführt. Der Verbleib der Ärztin und zweifachen Mutter ist unbekannt. Sandara Farouq Kadouda war am 12. April zu einer Veranstaltung in Omdurman unterwegs, die von der politischen Opposition in den Räumlichkeiten der National Umma Party organisiert worden war. Kurz nach 17.00 Uhr wurde ihr Wagen von einigen Männern in Zivilkleidung angehalten, die allem Anschein nach Angehörige des Geheimdienstes (National Intelligence Security Service — NISS) waren. Die Männer nahmen ihr das Handy ab, als sie gerade mit einer Freundin telefonierte. Diese hörte laute Stimmen, als Sandara Farouq Kadouda jemanden nach seinem Ausweis fragte. Kurz darauf wurde das Handy abgestellt. Der Wagen von Sandara Farouq Kadouda wurde 30 Minuten später an der Straße gefunden, er war verlassen und die Schlüssel steckten noch. Die Familie von Sandara Farouq Kadouda zeigte den Vorfall bei der Polizei und dem NISS an. Bisher weigern sich die Behörden jedoch, Informationen über ihren Verbleib und ihren Gesundheitszustand preiszugeben. Sandara Farouq Kadouda hat keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder ihrer Familie. Sie leidet an chronischer Unterzuckerung und muss daher einen speziellen Ernährungsplan einhalten und täglich Medikamente einnehmen. Allerdings ist unklar, ob sie Zugang zu der benötigten medizinischen Versorgung hat. Sie ist zudem in Gefahr, gefoltert und anderweitig misshandelt zu werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 25. Mai hinaus, unter »> ai : urgent action
1 komma 2 minuten
nordpol : 8.08 — Im Begrüßungstext einer Kindle-Buchsammelmaschine (Paperwhite) werden für Péter Nádas Roman Buch der Erinnerung (1024 Seiten) 20 Stunden und 29 Minuten typische Lesezeit verzeichnet, präzise betrachtet: 1,2 Minuten Beobachtungszeit pro Seite des Buches. Kuriose Geschichte. — stop
14pt
echo : 2.15 — Unlängst beobachtete ich in meiner Vorstellung einen älteren Herrn wie er eine Textdatei öffnete, die er vor 12 Jahren notiert und seitdem nie wieder geöffnet hatte. Er wunderte sich über winzige Schriftzeichen, die er damals vor langer Zeit verwendete. Weil ich in dem Moment, da der alte Herr das Symbol der Datei mit einem Zeiger auf dem Bildschirm berührte, nicht bei ihm gewesen sein konnte, überlegte ich, was ich ihm vielleicht gesagt haben würde. Möglicherweise hätte ich gesagt: In der Tat, lieber Louis, sehr klein diese Schrift, lass uns die Schrift schnell etwas größer machen. Oder aber ich würde vielleicht gesagt haben: Wollen wir nicht nach Deiner Brille suchen? — In diesem Moment, es ist 1 Uhr und 58 Minuten am 22. April 2015, ahne ich gnädigerweise, was ich bald einmal, wenn alles gut gehen wird, unternehmen könnte. – stop
vor agrigento
nach ferney nach essaouira und von einer kaktusblüte
nordpol : 2.52 — In Genf, an einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, sind seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegen, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarten. Bei genauerer Betrachtung möchte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie tragen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, sie sind vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befinden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney, oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz, die Sonne scheint, erste warme Stunden. Aber auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegen, in Kreisen oder auf und ab. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Straße, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnte ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Es ist 2 Uhr und 44 Minuten. Gerade eben noch habe ich meinen Kaktus beobachtet, wie er blüht. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop
landschaft überall
romeo : 1.02 — Irgendwann, nachdem er wach geworden am Nachmittag, muss K. einen Brief notiert haben. Bei diesem Brief nun handelt es sich um einen besonderen Brief, denn er ist von einem mutigen Mann ausgedacht, von einem Mann, der lange Zeit überlegte, wie er seine Gedanken formulieren sollte, an den Vorstand, der über sein Leben zu bestimmen wünscht. K. solle anstatt vier in Zukunft sechs Nächte einer Woche zur Arbeit an den Maschinen erscheinen. Es sind feine, ja zarte Worte, die K. für seine Ansprache wählte, ich hätte sie ihm niemals zugetraut, höflich und traurig: Nun werde ich, schrieb K., sechs weitere Stunden in einem Zug verbringen, die nicht bezahlt sein werden, Stunden, da meine Frau mich vermissen und möglicherweise einmal deshalb verlassen wird, es ist eine Tragödie! Ich habe diesen Brief, in dem von einer Tragödie die Rede ist, vor wenigen Minuten fotografiert, er wurde von Hand geschrieben, ich erkannte die Schrift eines betrunkenen Kindes, diese Hände, sie zitterten, weil K. sich fürchtete, in dem Moment, da er schrieb, oder überhaupt. Ob er mir den Brief auf seinem Computer aufschreiben könne, fragte ich K.: Würdest Du mir Deinen Brief bitte per E‑Mail senden, damit ich ihn weitergeben kann? So etwas habe ich nicht, antwortete K., einen Computer, E‑Mail, Internet. Er habe auch kein Telefon, fuhr er fort, kein Telefon mit Schnur, und auch kein Telefon, das er sich in die Hosentasche stecken könnte. Du bist der erste Mensch, setzte K. hinzu, der einen Brief, den ich geschrieben habe, fotografiert, als sei er eine Landschaft. Manchmal begegne ich K. im Zug, der zum Flughafen fährt, ich grüße ihn und er freut sich. Er liest dort seit Jahren immer in demselben Buch. Manchmal hält er das Buch fest an seine Brust gedrückt, dann ist er eingeschlafen. — stop
ein apfel
india : 1.02 — Der Blick vom 15. Stock eines Apartmenthauses mittels eines Fernglases über die Park Avenue hinweg. Es ist Abend geworden in Manhattan, schon dunkel. Hinter einem ungewöhnlich großen Fenster schwebt ein älterer Herr ungefähr einen Meter über dem Boden eines hell erleuchteten Zimmers. Es handelt sich um ein geräumiges Zimmer, beigefarbene Wände. Der alte Herr bewegt sich langsam wie in Zeitlupe. Er scheint mir zu winken, als ob er mich wahrnehmen könne, obwohl ich doch im Halbdunkel stehe und zugleich weit entfernt bin. In seiner linken Hand hält er einen Apfel fest, in der rechten Hand ein Messer. Er beginnt den Apfel mit einer kreisenden Bewegung zu schälen, schaut immer wieder in meine Richtung. Für einen Augenblick hält er inne, dann lässt er die Schale des Apfels los, sie entfernt sich, von einer Strömung erfasst, langsam, sehr langsam, eine Schraube von Haut. In diesen Minuten, da ich notiere, was ich beobachtete, wird der alte Herr eingeschlafen sein, der Apfel, den er schälte, hat inzwischen seine Hand verlassen, sinkt auf den Boden des Zimmers. — Vier Uhr und sieben Minuten im Flüchtlingslager Jarmuk nahe Damaskus. — stop
L.A. zu jederzeit 18:07
himalaya : 15.08 — Von einer Straßenunterführung aus beobachtet der Cellist Nathaniel Ayers den Himmel, ein kleines Fenster, von Fahrbahnebenen begrenzt, das gerade in diesem Augenblick ein Flugzeug durchquert. Er fragt den Journalisten Steve Lopez: Do you fly this plane? Der Journalist antwortet: No, I am here! Nathaniel setzt staunend hinzu: I don’t know how god works! / Filmzeit 18 Minuten 7 Sekunden: The Soloist. Director: Joe Wright. — stop
slow
himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop