sierra : 16.08 UTC — Ehe ich meine Wohnung verließ, telefonierte ich mit K. K. sagte, er würde zurzeit sehr viel lieber zu Hause bleiben, als auf die Straße zu treten. Du bist jung, Du kannst ruhig spazieren gehen, ich bin bald neunzig, ich warte ab. K. erzählte, er habe einen großen Balkon, das sei jetzt seine Straße, mal laufe er dort oben, 5. Stock, langsam auf und ab, dann wieder beobachte er Menschen weit unten auf der Straße. Sie tragen fast alle Maske, das sei doch beruhigend, trotzdem wolle er lieber hier oben bleiben, noch genug Zeit, um später einmal unten bei den Passanten spazieren zu gehen. So wie ich auf- und abgehe oder hin und her, sagte K., könnte man mich doch ernsthaft für eine Spindel halten, die etwas webt. In den Bäumen sitzen Vögel. Die Vögel wundern sich. Wenn Du das Haus verlässt, sagte K., solltest Du eine dieser sehr dichten Masken tragen. Du musst das üben, Louis! Du solltest erst einmal sechs Stunden eine dieser speziellen Segeltaschen vor Mund und Nase spannen, probieren, ob Du das gut aushalten kannst. Geh herum, steige ein paar Treppen, probiere, ob Du ausreichend Luft bekommst. Seit zwei Stunden also trage ich eine dieser Masken, die so dicht sein sollen, dass sie Aerosole, kleinste fliegende Teilchen einzufangen vermögen. Ich höre meinem Atem zu. Ich habe den Eindruck, als hörte ich mit meiner Nase. Auch habe ich den Eindruck, dass ich vielleicht mit meinen Ohren atme, als ob unbekannte Wege der Luftzirkulation in meinem Kopf existierten. Ich muss das beobachten. Noch vier Stunden, dann gehe ich aus. — stop
Aus der Wörtersammlung: nase
früh auf der straße
marimba : 8.56 UTC — Einmal, Jahre sind vergangen, hatte ich mir vorgenommen, eine Notiz über eine Ameise zu schreiben, die ich an einem Nachmittag in einem U‑Bahnwaggon angetroffen hatte. Aber dann beobachtete ich meine Hände, Hände, wie sie dicht über der Tastatur der Schreibmaschine schwebend auf Anweisung warteten. Ich bemerkte damals, dass meine Hände jene anatomischen Strukturen meines Körpers sind, die ich am besten kenne, weil ich sie oft betrachtet habe. Alle meine Hände, die ich erinnern kann, sind die Hände eines Menschen, der nicht mehr Kind ist. Aber ich erinnere mich an Bewegungen, die Kissen in einem Kinderwagen sortieren. Ich erinnere mich an meinen Wunsch, in meinem Kinderwagen Ordnung zu halten. An hölzernes Spielzeug erinnere ich mich, das vor meiner Nase baumelte. Da sind jetzt winzige, blaue Schuhe in meinem Kopf. Sie bewegen sich, wenn ich wünsche, dass sie sich bewegen. — Heute am frühen Morgen wartete ich vor einem Laden auf Einlass. Ich trug eine Mundbedeckung, noch immer versuche ich mich an Stoffstreifen vor meinem Gesicht zu gewöhnen. In meiner nächsten Nähe ging eine uralte Frau auf ihren Stock gestützt auf und ab. Ich glaube, sie wollte trainieren. Sie war klein, zierlich, zerbrechlich. Auch sie trug einen Mundschutz vor dem Gesicht, der zerknittert war, als würde sie ihn bereits seit Jahren tragen. Ich wollte sie auf den Arm nehmen, um sie zu beschützen. Ich glaube, sie fürchtete meinen Blick. — stop
flugstaub
alpha : 5.28 UTC — Wie ich im Park unter Kastanienbäumen spazierte, Mund- und Nasenbedeckung vor oder auf dem Gesicht, ein schrecklicher Gedanke, Bäume würden demzufolge bald einmal zu infektiösen Bäumen werden, welche, die uns zur Zeit des Pollenfluges mittels Viren attackierten. Dieser feine Goldstaub in der Luft und auf den Seen, dort eine feine Haut, die Schwimmwege der Vögel verzeichnet, in uns aber das Fieber ruft, die Atemnot. Ich dachte, davon darfst Du nicht erzählen, von diesen seltsamen Gedanken, deren Konsequenz uns in Astronautenanzüge zwingen würde. — stop
von händen
india : 22.28 — Hände, meine Hände, die sich benehmen, als wären sie Lebewesen für sich, dahin tasten, dorthin tasten, über Handläufe gleiten, Klingelknöpfe berühren, Äpfel und Birnen, ein Päckchen, ein Buch, ein Telefon, meine Schreibmaschine, auch plötzlich, ich bemerke es zu spät, über meine Stirn spazieren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahrzehnte lang ungestraft in dieser Weise bewegen durften. Ich dachte an Glöckchen, die an meinen Fingern befestigt, mich warnen würden, sobald ich meine Hände bewege, damit ich sie niemals vergesse, an elektrische Kontaktblättchen, die mich per Funksignal unverzüglich informieren werden, sobald ich mich mit meinen Händen eben Mund, Nase, Wangen, Stirn und Augen zu nähern drohe. — stop
hinter glas
tango : 17.38 UTC — Während eines Besuches in einem Aquarium begegnete ich vor Jahren einmal einem Fetzenfisch. Diese Begegnung war vielleicht der ersten Begegnung eines Kindes mit einer Weihnachtskugel vergleichbar. Ich konnte meinen Blick nicht von dem filigranen Wesen wenden, das hinter etwas Glas vor mir lautlos im Wasser schwebte. Ich war ganz sicher nicht der erste Mensch gewesen, den dieses feine Wesen im Aquarium wahrgenommen haben könnte, hunderttausende Augenpaare, Nasen, Finger, Menschen eben da draußen hinter den Scheiben, ungefährlich, manchmal kleine Menschen, die auf den Armen oder Schultern der großen Menschen hockten. Vor einigen Monaten nun bemerkte ich in einem Filmdokument eine Meereswalnuss, wunderbare Bezeichnung, ihr Leuchten, und wieder konnte ich mich nicht abwenden, habe mehrere Stunden über Meereswalnüsse geforscht in der digitalen Sphäre. Die Scheibe des Aquariums war indessen ein Bildschirm, Blick nur in eine Richtung, keine Begegnung, vielmehr eine Beobachtung. Ich werde bald einmal den Versuch unternehmen, Meereswalnüsse tatsächlich leibhaftig zu besuchen, wo sie leben. — stop
satellit
sierra : 15.08 UTC — Ich erzählte gestern wieder einmal, dass ich mir gerne vorstelle, wie es wäre, wenn ich über ein besonderes Auge verfügte, ein Auge nämlich, das ich meinem Kopf entnehmen und vor mich hin auf den Tisch ablegen könnte, ein lebendes Auge, ein Auge, mittels dem ich einerseits von meinem Kopf aus fröhlich in die Welt hinausschauen würde, andererseits ihm Freiheit des Raumes gewähren, ohne dass es sofort Schaden nehmen sollte, ein Augenwesen demzufolge, ein Augentier, mit einem selbstständigen Gehirn, mit einem Magen, Blutgefäßen, Ohren (ich bin mir nicht sicher), einem Mund und einem Verdauungsapparat, alles sehr klein und feinst gewirkt, eine Persönlichkeit von 7.5 Gramm Gewicht, die mich gerne von einem Tisch her betrachten würde, diesen Mann mit fehlendem Auge, was nicht wirklich der Fall ist, weil das Auge, das fehlt, eigentlich anwesend ist, aber nicht dort, wo man es erwartet unweit der Nase, sondern längst auf dem Tisch. Stellt sich nun die Frage, was solch ein Auge zu sich nehmen wollte, wie man es füttert, was und wie viel an einem der Lebenstage eines unabhängigen Augengeschöpfes getrunken werden sollte, und was in etwa geschehen würde, wenn sich das Auge in ein weiteres Auge vernarrt? — stop
mercato
echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor einem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
im park
sierra : 2.55 UTC — Gestern beobachtete ich Louis, wie er in einem Park saß und eine Geschichte in ein Notizbuch schrieb. Das war ein schmales Buch gewesen. Louis notierte mit Bleistift in winziger Schrift. Er hatte deshalb eine Lesebrille aufgesetzt, die er immer wieder einmal auf seiner Nase zurechtrückte. Es war sehr feucht am See, Libellen jagten herum, obwohl schon fast dunkel geworden war, und sie leuchteten, blinkten, als wären sie ferngesteuerte Hubschrauberwesen. Louis schien sie nicht zu bemerken, er schrieb und schrieb, und wenn man sich näherte, konnte man hören, wie sein Bleistift sacht über das Papier raspelte. Das schmale Buch war schon fast vollgeschrieben und Louis Schrift wurde immer kleiner. Ich fragte ihn: Sag, worüber schreibst Du? Louis antwortete, er schreibe über einen Mann, der Lastenaufzüge bediente, verschmutzte Kästen, die in einem Lagerhaus auf und abwärts fuhren. Der Mann, von dem Louis erzählte, arbeitete bereits seit Jahren in einem dieser Kästen. Trotzdem war er im Grunde immer gut gelaunt. Das lag daran, dass der Mann sich vorstellte, er würde bald einmal in einem dieser Lastenaufzüge wohnen. Er konnte präzise beschreiben, wie sein zukünftiges Wohnzimmer beschaffen sein wird. Sofa, Regale für Bücher und Elefantenstatuten, die der Mann sammelte, Kakteen und Bambuspflanzen, zwei Tische, ein Rubensgemälde, Vasen, und so weiter und sofort. Nun, sagte Louis, das Problem ist, ich bin hier mit meinem Notizbuch bald zu Ende, aber das Zimmer im Aufzug tritt immer deutlicher an mich heran. Ich werde das Zimmer in diesem Büchlein hier nicht unterbringen. Verdammte Sache! — stop
von geckos
nordpol : 22.32 UTC — Irgendjemand, vermutlich eine Person, die von dem Haus der alten Menschen profitiert, weil es ihr gehört, bewirkte, dass das Dach über den Zimmern der alten Menschen, auch über jenen, die dem Tode nahe sind, abgerissen wird mit schweren Werkzeugen, um ein weiteres Stockwerk auf dem Haus der alten Menschen zu errichten. Staub rieselt herein. Es regnet. Wenn der Himmel regnet, regnen auch die Decken in den Zimmern, als wären sie Wolken, und die Wände sind feucht, und die Augen der Krankenschwestern zittern und ihre Nasen beben, während sie durch die Flure von Zimmer zu Zimmern eilen, um die alten Menschen zu beruhigen, die klagen, die nicht verstehen, was geschieht. Es ist ein Fiasko, es ist unvorstellbar, niemand würde eine Geschichte glauben, wie diese Geschichte, die nicht erfunden ist, wenn man sie erfunden haben würde. Wie die Geckos über bebende Wände huschen, Geckos in allen möglich Farben schillernd, Seelen auf Füßen, die nicht wissen wohin. Davon muss erzählt werden, wenn einmal die richtige Zeit gekommen ist. — stop
ein regenschirm
marimba : 22.03 UTC – Vor einer Woche erzählte mir José, er trage schwer an dem gläsernen Auge, das er rechts neben seiner Nase in seine Augenhöhle eingesetzt bekommen habe. Es sei nicht das Gewicht selbst, sondern vielmehr die Erfahrung eines Unfalls, eines Stolperns, die ihm sein Auge gekostet habe. Auf der Treppe sei er einerseits gestürzt, anderseits unglücklichst kollidiert, mit seinem Regenschirm in der Hand. Er habe in den Minuten nach jenem entscheidenden Ereignis kaum einen Schmerz verspürt. Er glaube, der Schmerz sei so groß gewesen, dass sein Geist ihn aus sofort dem Bewusstsein gesperrt haben muss. Er höre noch immer den Schrei seiner Frau, als sie ihn sah. Nun ist das so, erzählte José, da springst Du ein Leben lang in der Welt herum und denkst nicht eine Sekunde daran, dass Du ein Auge verlieren könntest. Und jetzt wiege das Gewicht seines gläsernen Auges deshalb so schwer, weil er sich vor einem zweiten gläsernen Auge fürchte, er würde in diesem Falle über kein weiteres Auge verfügen, es wäre dann dunkel, und er wisse doch aus eigener Erfahrung präzise, dieser verdammte Regenschirm, erzählte José. — stop