lima : 0.55 — Mit dem langsamen Verschwinden der Briefe flüchten unsere Postwertzeichen in Schachtelbehälter, in Alben, in Museen, kostbare, bunte Wesen von Papier, die wir noch mit unseren Zungen befeuchteten, um sie mit Briefumschlägen für immer zu verbinden. Auch Gesten, die den Briefen zugeordnet sind, werden sich nach und nach verlieren. Die Geste des Zerreißens beispielsweise, oder die Geste des Zerknüllens. Wann habe ich zuletzt beobachtet, wie der Empfänger eines Briefes sich dem geöffneten Dokument mit der Nase näherte, um von der Luft der geliebten schreibenden Person zu atmen, die mit dem Brief gereist sein könnte? Verloren die Abdrücke der Tintenfinger, die Ränder einer Briefseite zierten, verloren auch das feine Geräusch der Skalpelle, indem sie teilend durch das seidene Futter der Kuvertkoffer ziehen. Ein absurder Gedanke möglicherweise, wie ich den E‑Mailbrief einer Behörde, der mich zornig werden lässt, ausdrucke, wie ich ihn in einen Umschlag stecke, wie ich ihn für einige Sekunden in Händen halte, wie ich mich konzentriere, wie ich den Brief genussvoll in winzige Teile zerlege. — stop
Aus der Wörtersammlung: net
in üsküdar
whiskey : 0.55 — Y. erzählte vor einigen Tagen eine Geschichte, die sie als Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren in Istanbul erlebte, genauer in einem Hinterhof des Stadtteils Üsküdar. Sie sollte damals eine Tüte Pistazien und noch einige andere Dinge von einem Kioskladen holen, es war Sommer, und sie hüpfte raus auf die Straße und um die Ecke und rein in den kleinen Laden, und las einem Mann eine Liste der bestellten Dinge vor. Der Mann sah ihre Liste durch, lächelte ihr zu und stellte ein oder zwei Fragen, so in etwa: Wie viele Pistazien sollen es denn sein? Y. überlegte sorgfältig, aber letztlich konnte sie sich nicht erinnern, wie viele Gramm Pistazien ihr die Mutter zum Kauf aufgetragen hatte. Deshalb hüpfte sie auf die Straße zurück, aber anstatt zur Eingangstür ihres Wohnhauses zurückzukehren, trat sie in einem Hinterhof vor einen Balkon im 2. Stock. Die Tür zum Wohnzimmer der Familie, hinter der sie ihre Mutter wusste, war geöffnet. Sie rief so laut sie konnte: Mama! Dann wartete sie eine kurze Zeit. Als die Mutter nicht auf dem Balkon erschien, rief sie noch einmal: Mama, Mama, ich habe eine Frage, ich bin’s! Wiederum rief sie vergeblich, sie wartete und rief und wartete. Gerade als sie umkehren wollte, um den weiteren Weg, den sie gekommen war, zur Mutter in die Wohnung zurückzunehmen, bemerkte sie ein fremdes Mädchen neben sich, das vielleicht zwei Jahre jünger war als sie selbst. Das Mädchen hatte eine ihrer Hände genommen, sah sie bedeutungsvoll an, hob dann den Kopf zum Balkon empor und rief mit leiser, sanfter Stimme: Mama! Mama! Y. erinnerte sich noch nach vielen Jahren an die feine Stimme des Mädchens, die beinahe nicht zu hören gewesen war. Kaum eine viertel Minute verging, da erschien ihre Mutter auf dem Balkon und schaute zu den beiden Mädchen herab. Das war ein Moment ihres Lebens gewesen, den Y., die inzwischen selbst zwei Söhne gebar, nie vergessen konnte, ein Geheimnis: Warum hatte die Mutter auf die leise Stimme eines fremden Mädchens reagiert, aber die Stimme der eigenen Tochter nicht gehört? — stop
propellerzunge
tango : 2.01 – Wieder der Versuch, den Klang menschlicher Stimmen vorzustellen, wie sie sich unter einer Wasseroberfläche artikulieren. Eine schwierige Aufgabe, insbesondere deshalb, weil ich einerseits annehme, ein authentisches Sprechgeräusch, welches sich unter Wasser ereignet, in meinem Kopf jederzeit erzeugen zu können, andererseits jedoch über keinerlei Wörter verfüge, dieses Geräusch angemessen zu beschreiben. Ein Problem der Übersetzung scheint vorzuliegen, ein Raum zwischen geistigem Hören und dem annähernd korrekten Ausdruck in der Sprache meines Mundes oder meiner Hände auf Tastaturen, der auch in dieser Nacht, nach Jahren intensiver Versuche, nicht zu überwinden ist. Ich nehme an, Phoneme, die eine ausgedehnte Öffnung des Mundes erfordern in der Sprache unter der Wasseroberfläche sprechender Lungenmenschen, werden im Laufe der Jahrhunderte seltener werden, Artikulation indessen mittels gespitzter Lippen, pfeifende Laute, eine Entwicklung in diese Richtung, das ist denkbar. — Leichter Regen. — stop
es ist abend
marimba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von L., die über einem Buch eingeschlafen ist, wie sie an einem Küchentisch sitzt, den Kopf auf ihre Hände gebettet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren wird. Von M., der im Wald über eine Wiese voller Schneeglöckchen spaziert, ein Manuskript in der linken Hand, dessen Sätze er auswendig lernen muss, um sie auf einer Bühne zu sprechen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkennen. Von P., die vor einer Erdmulde unter einer Birke steht. Das Grab der Eltern ist verschwunden, der Hügel voller Blumen, ein Gedenkstein, aber die Birke ist noch da, sie war schon da, als sie geboren wurde, und sie weiß, dass tief da unten auch die Knochen der Eltern noch immer anwesend sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag darüber freut, dass er das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von J., die einen Fotoapparat auf sich selbst richtet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sausen in ihren Ohren plötzlich verschwunden ist, wie sie der Stille lauscht. Von K., die über eine Straße stürmt auf dem Weg zum Tanz, barfuß, ihre roten, flachen Lederschuhe in der rechten Hand, und obwohl es regnet, wirbeln nasse Blätter hinter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwester in Kobanê kämpfte, wie sie schläft. Die Schwester soll N. ähnlich gewesen sein, aber niemand weiß das so genau, weil die Schwester vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht was er will, weil sie nie wieder zurückkehren wird. Von M., die im Dezember noch in den Bergen wanderte auf einer Alm, wo der Schnee Muster auf eine Wiese zeichnete, wie sie auf der Haut der Sommerkühe anzutreffen sind. Von dem kleinen H. aus Aleppo, der sich wundert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gerade Siegeszeichen mit beiden Händen, als der Fotograf seinerseits seine letzte Aufnahme macht. Von K., der mit geschlossenen Augen auf einer Violine spielt, die aus Stirnknochen eines gestrandeten Wales geschnitzt wurde. Von Y., die in einem feinen dunkelblauen Kostüm nahe Columbus Circle im Central Park neben einem Rollkoffer steht und mit einem Eichhörnchen spricht, das mit gespitzten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop
von menschen und affen
nordpol : 0.22 – Wäre es nicht vielleicht doch sinnvoll, anstatt unschuldige Kindermenschen der Stadt Rakka zu bombardieren, elektrische Datennetze zu attackieren, welche von Riad aus Gotteskrieger mit Entwicklungshilfe versorgen? Immer wieder das Fragen üben. Auch nach Fragen suchen. Gestern sprach ich mit einer jungen Muslima über ihre Schulzeit, viel zu kurz, sagte sie, viel zu früh zu Ende. Es ist so, dass sie, H., der festen Überzeugung ist, von Adam und Eva unmittelbar abzustammen. Da sie jedoch nicht dogmatisch lebe und denke, wäre sie bereit, zu akzeptieren, dass ich, Louis, ein Affenmensch sei oder eben ein Menschenaffe. Wir lachen ganz herzlich. It works! — In der vergangenen Nacht habe ich mein Radio gelehrt, in der beruhigenden Sprache der Nachtzikaden zu sprechen. Guten Morgen! – stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau andersherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
im zug kürzlich
india : 0.12 – Ein Mädchen, das möglicherweise gerade erst sprechen lernte, in einer Sprache, die ich nicht verstehe, steht im Zug vor mir. Ich notiere auf ein Blatt Papier, als ich die kleine Person bemerke. Ich sage: Hello! Sofort schließt das Mädchen die Augen, bleibt aber wie angewurzelt vor mir stehen. Wenige Meter entfernt sitzen zwei Frauen und vier Männer, sie tragen Anoraks, die zu groß sind, die Frauen außerdem Kopftücher und Handschuhe, obwohl es im Zug warm ist. Sie scheinen müde zu sein, niemand spricht. Einer der Männer beobachtet mich, ein ruhiger, aufmerksamer, freundlicher Blick, ich denke noch, was sieht er in mir, da öffnet das kleine Mädchen seine Augen wieder, schaut mich an, kein Lächeln, als ich eine Hand hebe und winke. Ein Gesicht, blass, fast weiß, tiefe, dunkle Ringe unter den Augen, die glänzen. Was haben diese Augen gesehen in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren, vielleicht Menschen, die tot sind, wie sie auf einer Straße liegen, eine Hand der Mutter, die Augen des Mädchens bedecken im Moment einstürzender Häuser, Luft voller Fliegen unter einem Zeltdach, das nächtliche Meer, schreiende Menschen vor Stacheldraht bewehrten Toren, rasende Schäferhunde, die in Ungarn geboren worden sind? – Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. / Julian Barnes Arthur & George – stop
lilly
marimba : 2.05 – Auf der Suche nach einem Kiemenmädchen namens Lilly Mangold war ich gegen Mitternacht eingeschlafen, da öffnete tief im Gehörgang meines rechten Ohres knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. Ich hörte, man könne Zwergseerosen in Kaffeetassen züchten. Ist das eine Nachricht? – stop
mitado muje
olimambo : 2.02 – In einem Postamt der neuseeländischen Stadt Whakatane arbeite ein Nachtschichtbeamter mittleren Alters, der besondere Namen sammle. Er soll, so ein Gerücht, auf einem Drehstuhl vor einem Fächerregal sitzen und Briefe in zweierlei Hinsicht sorgfältig betrachten, ob sie nämlich einerseits ausreichend frankiert sind, um ihren Bestimmungsort erreichen zu können, anderseits würde er Namen von Adressaten, die sich in aller Welt befinden, ihrem Klang nach inspizieren. Sobald der Nachtmann einen Namen, der ihm gefällt, entdeckt, würde der Name auf einem Zettel notiert: Sakonakis Pina, Emilie Lionel, Pollie Patatas, Josef Thomey, Laily Pina, Clara Lorenz, Phillipe Odil. Es heißt, man könne diese Namen im Internet erwerben, vielleicht, wenn man einen geräuschvollen Namen benötigten würde, weil man eine Person erfinden möchte, die sich in poetischer Weise darzustellen wünscht, 10 Cent. Ich muss das überprüfen. – stop