echo : 2.32 — Subway 86 St., Linie 4, spätester Abend: Menschenstille. Aber das Brausen tausender Ventilatoren, die kühle Luft durch blecherne Arterien blasen. Eine Rolltreppe, einsam quietschend, selbstgenügsames Wesen. Und das Wasser, woher, an den Wänden. Hier muss nicht geatmet werden, solange der Boden bebt von der Erwartung des Zuges. Man hört ihn schon von weit her kommen, dumpfe, pochende Erschütterung. Und wenn er dann hereinfliegt aus den Schatten, das rote, das gelbe, das blaue Zahlenauge. Luft zischt, Menschen treten hervor oder bleiben. Jede Kammer, jeder Waggon, hinter jedem Fenster, eine eigene, einzigartige Versammlung lebender Geschichten. stop. Wie sich die Türen schließen. stop. Wie man verschwindet. — stop
Aus der Wörtersammlung: net
fifth avenue – lemur
tango : 20. 56 — Pappkartonhütten auf Treppen, die zu Kirchenräumen führen, zerlumpte, sich bewegende Gebilde. Seit Stunden geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf, der in New Yorker Subway – Zügen immer wieder einmal zu lesen ist: Give the homeless the kind of change they can really use. Irgendetwas irritiert in dieser Zeile. — Abend. Warm und schwül der Atem der Straßen. Vor der St. Patricks Cathedral, Fifth Avenue, liegt eine Frau ohne Bewusstsein um einen Hydranten gewickelt auf dem Boden. Eine Ratte zerrt an ihrem Gepäckwagen. Das nervöse Tier hebt den Kopf, scheint mich zu betrachten, diesen Mann in feinen Hosen, mit tadellosen Wanderschuhen, der mit weit geöffnetem Mund vorsichtig atmet. Beißender Gestank ruht in der Luft. Ich stehe, ich denke, sie wird bald sterben, diese Frau wird bald sterben. Sie könnte eine Mutter sein. Ihre eitrigen Hände. Ihr von Schmutz graues Gesicht. Ihr staubiges Haar. Ihre tief in den Kopf eingesunkenen Augen. Was ist, was nur um Gotteswillen ist geschehen, dass sie so endet? — stop
linie d – nordwestwärts
echo : 15. 02 — Von Brooklyn nach Manhattan Subwayfahrt, eine alte Dame vis–à–vis. Seit einer halben Stunde reisen wir so dahin, ich schreibe, sie scheint zu schlafen. Ein kariertes Hüttchen trägt sie auf dem Kopf und einen Seidenschal um einen grazilen Hals gewickelt. Ihr dunkelhäutiges Gesicht, zart gefaltet. Von Zeit zu Zeit öffnet sie für eine oder zwei Sekunden eines ihrer Augen und berührt mich mit einem festen Blick. Ich würde gerne wissen, ob sie mich wirklich sieht. Gleich werden wir die 33. Straße erreichen. Ich stelle mir vor, wie die alte Frau weiterfahren wird, um kurz darauf erneut eines ihrer Augen zu öffnen. Ich werde dann nicht mehr da sein, ein anderer Mensch wird an meiner Stelle sitzen, vielleicht wird auch dieser Mensch bald eingeschlafen sein, und gerade in dem Moment, da die alte Dame ihr Auge öffnet, eine ebensolches, wachsames Auge geöffnet haben. — stop
=
india : 16.23 — n a s e n r a c h e n
mann ohne mund
tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop
miniatur — world trade center
olimambo : 0.02 — Ein Frauenwesen spätabends in der Subway Linie 1 südwärts. Vollständig in Weiß gekleidet, blau geschminkter Mund, hochgewachsene, schmale Statur, faltenlose Stirn, die bis hin an die Decke des Zuges reicht. Leicht gebeugt verharrt sie von Taschen umgeben neben einer Tür in der eisigen Luft, ernstes Gesicht, verschenkt Zettel, auf welchen je nur ein Wort, das Wort LOVE, handschriftlich verzeichnet ist. Ihre heisere Stimme, die Lautsprecheransagen wiederholt. stop. Echoes. stop. Ladies and Gentlemen! Please stay clear of the closing doors. This is a local A‑Train. — stop
coney island
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : CONEY ISLAND
Nie vermag ich auszumalen, wo ihr Zwei gerade seid. Ja, so ist das, nein, nein, ich habe keine Ahnung, keine Vorstellung, liebe Daisy, liebe Violet, könnte die Welt umrunden, zu Fuß oder auf den Rücken der Kamele, zu keiner Zeit würde ich Euch begegnen, nicht eine Sekunde, kein Blick aus dem Fenster eines abfahrenden Zuges, Eure lächelnden Gesichter, Euer Winken, zwei Küsse durch die Luft, nein, nein, niemals, nicht wirklich, keine Ahnung habe ich, keine Vorstellung, und doch seid ihr nah, so nah, dass ich Euch schwebende Orte schenkte in Gedanken, einen schwebenden Tisch, eine schwebende Schreibmaschine, ein schwebendes Sofa, und diesen weiten Blick aufs wilde Meer, auf blühende Gärten, ein Lächeln. Gestern arbeitete ich im Park unterm Regenschirm. Ich hatte meine Schreibmaschine auf eine Hand gestellt, dort wartete sie lange Zeit. Dann schrieb ich ein Wort, aber kein weiteres Wort. Nur Geduld, dachte ich, nur Geduld. Habt Ihr, liebe Violet, liebe Daisy, bemerkt, dass ich Euch Bohumil Hrabals Geschichte der Katze Autitschko öffnete. Ich legte das kleine Buch neben mich auf die Bank, blätterte und wartete, meinte, Euch rufen zu hören: Wir lesen, Louis, schneller, als Du denkst! — Ein großer Augenblick meines kleinen Lebens.
gesendet am
8.06.2010
22.08 MESZ
1775 zeichen
spieldose
tango : 0.03 — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe einem Krankenhaus. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig, die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wüsste, wann das alles wiederkommt, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte, und warum. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. Gestern in einer besonderen Weise von dem erschütternden, hoffnungsfrohen Film Helen in die Tiefe erzählt. — Top five der schlechtesten, gut gemeinten Ratschläge von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben: Fahr in die Ferien, lies ein Buch, lass Dir die Haare schneiden, renovier Deine Wohnung, lerne Joga. — stop
iris
tango : 0.05 — 1500 Meilen Wolkentüll über atlantischem Ozean. Fünf weitere Stunden, bald hellblau der Himmel, das Wasser, man könnte die Welt dort oben auf den Kopf stellen und würde es mit den Augen nicht bemerken. Höhe 11887 Meter. Wellen, leichteste Wellen, — 55° Celsius, Eis wispert in der Paukenhöhle. Reptilien von Dunst recken geschärfte Rücken aus der Tiefe. Dann wieder sanfte Gebilde, Wolkenlamellen vom Meer an den Himmel geatmet. Von dort aus fällt man zu Boden, öffnet Iris der Behörde, fährt im luftfedernden Taxischiff über alte Brücke, Nacht, sandmüde Augen spazieren unter dem Regenschirm. Der erste Blick ins irre Licht. — stop
jonglieren
romeo : 0.25 — Stand in einer Schlange wartender Menschen, machte Rechenübungen im Kopf. Nach fünf oder zehn Minuten konzentrierter Arbeit war ich dann so weit gekommen, einzusehen, dass jene Zahlengrößen, die ich jonglierte, mein Denkvermögen deutlich überforderten. Rechnete bald in meinem Notizbuch notierend, mit Bleistiftzahlen weiter voran: Erstens / Ein Papiertierchen, sobald es seine Arme streckt, misst 0,087 mm von Ost nach West. Zweitens / 2413 Papiertierchen säumen den Rand eines beschreibbaren lebenden Papiers an seiner schmalen Seite, 3218 Papiertierchen desselben Papiers an seiner längeren Seite. Drittens / 7765034 Papiertierchen sind Teile einer Struktur, der ich einen Namen zu geben habe. — Wunderbare, frühe Nacht. Ein großer Frieden in angenehmer Spannung. Alle sind sie jetzt da, sitzen an meinen Zimmerwänden und rühren sich nicht. — Guten Morgen!