MENSCHEN IN GEFAHR: „Der Filmemacher Sayed Rahim Saidi ist willkürlich im Gefängnis Pul-e-Charkhi inhaftiert und bei schlechter Gesundheit. Er war am 14. Juli 2024 in Kabul von Angehörigen des Allgemeinen Geheimdienstes der Taliban festgenommen worden. Bei seiner Verhandlung im Dezember 2024 verurteilte ihn das Gericht wegen mutmaßlicher Propaganda gegen die De-facto-Behörden der Taliban zu drei Jahren Gefängnis. Trotz schwerer Erkrankungen wird er in einer kalten Gefängniszelle festgehalten und nicht angemessen medizinisch und medikamentös versorgt. Zwischen Juli und Dezember soll er im Gewahrsam des Geheimdiensts gefoltert und anderweitig misshandelt und nicht mit den von seiner Familie geschickten Medikamenten versorgt worden sein. Sayed Rahim Saidi muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.”> EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER
Aus der Wörtersammlung: papier
eine feder
sierra : 12.28 UTC – An einer Grenze, weit entfernt, sind Tag ein, Tag aus, Höllengeräusche zu vernehmen. Er las ein elektrisches Buch auf dem Bildschirm seiner flachen Schreibmaschine über diese seltsamen Geräusche, die an der Grenze zu Nordkorea weithin zu hören sein sollen. Das Buch war ein Roman, der Roman ein umfangreiches Buch. Zum ersten Mal las er einen umfangreichen elektrischen Roman in der Begleitung eines Buches von Papier, das neben seiner Schreibmaschine auf dem Tisch lag. Jedes Mal, wenn er eine digitale Seite auf seinem Bildschirm berührte, damit sie wegflog, um einer neuen Seite Platz zu bieten, blätterte er gleichwohl eine Seite des Papierbuches um. Das Papierbuch verfügte über keinerlei Schriftzeichen, es war sorgfältig gebunden, in einem zitronengelben Umschlag, leere kräftige Blätter. Ehe er zu lesen begann, zählte er die Seiten ab, die das elektrische Buch, das er zu lesen plante, in der Gestalt eines gebundenen Buches verfügen würde. Das nun ist also wird zu lesen sein, sagte er sich, und er legte eine Feder genau an jene Stelle in das Buch, an der der Roman, der von fernen Höllengeräusche erzählt, enden würde. So könnte es funktionieren, dachte er. Die Feder, sein Lesezeichen, war einmal die Feder einer Möwe gewesen. — stop
Geräusche
zum Fürchten
ai : TUNESIEN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 11. Mai 2024 stürmten Sicherheitskräfte maskiert und in Zivilkleidung die Büros der Anwaltskammer in Tunis und nahmen die Anwältin Sonia Dahmani fest. Seitdem ist sie willkürlich in Haft. Die Behörden gehen mit fünf verschiedenen Strafverfahren gegen sie vor, allein weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat. Sonia Dahmani wird derzeit im Gefängnis von Manouba festgehalten, die Bedingungen sind grausam und unmenschlich. Sie ist extremer Kälte ausgesetzt und hat keinen Zugang zu grundlegenden Dingen wie sauberer Kleidung. / Die anhaltende ungerechtfertigte Inhaftierung von Sonia Dahmani gibt Anlass zu großer Sorge. Sie ist allein deswegen im Gefängnis, weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machte. So kritisierte sie die Haftbedingungen in tunesischen Gefängnissen sowie die Misshandlung von Flüchtlingen und Migrant*innen. / Nachdem sie in Fernseh- und Radiosendungen regelmäßig öffentlich die Behörden kritisierte, haben diese in fünf verschiedenen Fällen Ermittlungen gegen sie eingeleitet. In zwei davon wurde sie bereits schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe verurteilt. Am 6. Juli 2024 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht in Tunis Sonia Dahmani wegen eines ironischen Kommentars in einer Fernsehsendung zu einem Jahr Gefängnis. Im Rechtsmittelverfahren wurde die Haftstrafe auf acht Monate reduziert. Am 24. Oktober 2024 verurteilte dasselbe Gericht sie in einem anderen Fall zu einer zusätzlichen zweijährigen Haftstrafe, weil sie auf rassistische und diskriminierende Praktiken in Tunesien hingewiesen hatte. Beide Urteile basieren auf dem drakonischen Gesetzesdekret 54 über Cyberkriminalität. Gegen Sonia Dahmani sind drei weitere Verfahren anhängig, die sich alle auf die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beziehen. / Sonia Dahmani wird unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Sie ist mit extremen Temperaturschwankungen konfrontiert, im Winter ist es in ihrer Zelle wegen eines kaputten Fensters eiskalt. Die Gefängnisbehörden verweigern ihrer Familie, ihr bei Besuchen warme Kleidung oder Nahrung mitzubringen, was zu Unterernährung und erheblichem Gewichtsverlust führt. Sie hat in Haft massive gesundheitliche Probleme entwickelt, darunter Diabetes, Rückenschmerzen, geschwollene Beine und Bluthochdruck. Sonia Dahmani werden außerdem grundlegende Güter wie saubere Kleidung sowie eine angemessene medizinische Versorgung und Medikamente verweigert, während sie von den Gefängniswärter*innen demütigend behandelt wird. So wurde sie beispielsweise am 20. August 2024 vor ihrer Gerichtsverhandlung einer erniedrigenden Leibesvisitation unterzogen, bei der sie sich nackt ausziehen musste, was eine Verletzung ihrer physischen und psychischen Integrität darstellt. Sonia Dahmani teilt sich ihre Zelle – und die nicht abgetrennte Toilette – mit vier anderen Gefangenen, sie hat nur begrenzt Zugang zu heißem Wasser. Die hygienischen Verhältnisse sind miserabel, ihre Zelle ist von Ratten und Ungeziefer befallen.”> EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER
kein schnee
ginkgo : 20.16 UTC – Auf einem Tisch ruht eine Fotografie. Ich hatte sie auf ein Blatt starken Papieres (180 Gramm) gedruckt. Es ist Abend. Sommerlicht. Ein Tisch von Holz. Blätterschatten, die sich kaum bewegen. Meine Hand hält die Fotografie an ihrem westlichen Rand mit zwei Fingern fest. Die Hand einer weiteren Person hält die Fotografie an ihrem östlichen Rand mit einem Finger fest. Die Fotografie zeigt eine Bushaltestelle der Stadt Mariupol. Splitter liegen auf der Straße. Glas, Steine, Metall. Und zwei menschliche Körper. Die Gesichter der Körper sind von weißen Tüchern bedeckt. Es regnet. Einer der Körper trägt eine blaue Hose, der andere eine gelbe Hose. Ein Stofftier liegt in der Nähe auf dem Boden. Die Körper sind kleine Körper. Die Körper sind Kinderkörper. Ein Fuß in einem Schuh steht etwas entfernt auf dem Boden. Ein Turnschuh mit einem Fuß und einem halben Bein. Der Finger, der die Fotografie an ihrer östlichen Seite berührt, tippt auf das Bild nahe des einsamen Fußes. Der Finger berührt die Straße. Die Stimme einer Frau ist zu hören. Sie sagt: Das ist nicht echt. Das ist gut gemacht. Wo hast Du das Foto her? Das ist gut erfunden. Die halbe Welt wird das glauben, so gut ist das erfunden, aber nicht gut genug, nur die halbe Welt wird das glauben. Du siehst, diese Unmenschen erschießen ihre eigenen Kinder. Und dann sagen sie, die Anden waren das. Aber das ist komplett gut erfunden! So etwas gibt es nicht. Das ist ein Kunstfuß, alles künstlich. Das ist wirklich gut gemacht. Du redest Unsinn! Du warst nicht dort, Du hast das nicht mit eigenen Augen gesehen. Man stirbt nicht, wenn ein Fuß verloren geht. Es war Winter dort. Es muss geschneit haben. Wo ist der Schnee? Du musst wissen, dass das alles gefälscht ist, das sieht doch jeder vernünftige Mensch auf der Stelle. Du darfst nicht immer glauben, was Du siehst. Warum steht der Fuß aufrecht? Irgendjemand hat ihn dort auf die Straße gestellt. Sie haben sich Mühe gegeben, das muss man Ihnen lassen. Das ist gut gemacht. Der Turnschuh müsste blutig sein. Da haben sie einen Fehler gemacht. Schön montiert, aber mit einem Fehler, das Blut fehlt, schon wieder einmal fehlt das Blut. Sie sagen, die Orks haben das gemacht. Wir machen so etwas nicht. Wir sind keine Orks. Wir glauben an Gott. Du weißt, dass wir an Gott glauben, es ist eine Schande. Warum zeigst Du mir so etwas? Du warst nicht in Mariupol. Wenn Du in Mariupol gewesen wärest, würdest Du das wissen, dass man so etwas niemals dort gesehen haben kann. Es war Winter im März. Kein Schnee, siehst Du, kein Schnee.- stop
der Inarisee
im november
mit uhrzeit
ursprung
von hand und schreibmaschinen
tango : 2.02 UTC – Zwei Schreibmaschinen sind in meinem persönlichen Leben denkbar. Eine der Schreibmaschinen sollte mit der digitalen Sphäre verbunden sein. Die zweite der Schreibmaschinen ist von der digitalen Sphäre vollständig zu trennen. Auch sind zwei Zimmer denkbar, das eine Zimmer ist ein Zimmer von blauem Licht. In dem anderen Zimmer lagern auf Schreibtischen Papiere, Bleistifte, Federkiele. — stop
in louisiana
ulysses : 22.22 UTC — In Louisiana, dort, wo Moose, wie Bärte grünen Wassers, von den Ästen der Bäume hängen, sitzen elf ältere Frauen um einen Tisch herum. Sie lachen, sie schreiben, sie trinken Sekt und andere Dinge. Von diesen fröhlichen Frauen, die ich gerne dankbar umarmen würde, erzählte das Radio am gestrigen Abend, wie sie fröhlich Postkarten von Hand beschriften. Einige Hunderte Schriftstücke gemeinsam. Eine Verschwörung. Der innere Feind („The enemy from within“. Donald J. T.) in Louisiana am helllichten Tag. Schriftzeichen, mit Füllfederhaltern aufs Papier gesetzt, Tinte, nicht Druckerfarbe, jede Postkarte ein Dokument von Mensch zu Mensch: »Vote!“. Diese wunderbaren Botschaften werden nun also bald nach Norden, nach Michigan, reisen. Davon erzählte das Radio gestern am Abend, es war noch früher Nachmittag in Louisiana, dort, wo Moose, wie Bärte grünen Wassers, von den Ästen der Bäume hängen. — stop
ai : USA
MENSCHEN IN GEFAHR: „Richard Moore wurde 2001 zum Tode verurteilt und soll am 1. November 2024 im US-Bundesstaat South Carolina hingerichtet werden. Er ist Afroamerikaner, das Opfer war weiß. Dieser Fall entspricht einem gängigen Muster im Verwaltungsbezirk Spartanburg County, in dem die Todesstrafe bisher hauptsächlich für Verbrechen mit weißen Opfern verhängt wurde. Darüber hinaus sorgte die Staatsanwaltschaft durch die Ablehnung afroamerikanischer Geschworener für eine rein weiße Jury. In ihrem im Jahr 2022 geäußerten Widerspruch gegen das Todesurteil erklärte Richterin Kaye Hearn vom Obersten Gerichtshof des Bundesstaates South Carolina, “Moores Todesurteil ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten … In der Jury saß kein*e einzige*r Afroamerikaner*in, obwohl mehrere als Geschworene zur Verfügung gestanden hätten.” Die Richterin kam zu dem Schluss, dass das Todesurteil im Fall Richard Moore unverhältnismäßig war. Richard Moore war unbewaffnet, als er den Laden betrat, und der Ladenmitarbeiter und er wurden mit einer Waffe angeschossen, die sich bereits im Laden befand. Dieser Tatbestand allein weist auf einen fehlenden Vorsatz hin. Nach dem US-amerikanischen Verfassungsrecht “ist die Todesstrafe auf die Straftäter*innen zu beschränken, die eine enge Kategorie der schwersten Verbrechen begehen und die aufgrund ihrer extremen Schuld die Hinrichtung am ehesten verdienen”. 2015 führte Stephen Breyer, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, Studien an, die zeigen, dass “die Faktoren, die die Anwendung der Todesstrafe am deutlichsten beeinflussen sollten – nämlich die vergleichsweise Ungeheuerlichkeit des Verbrechens – dies häufig nicht tun. Andere Studien zeigen, dass Umstände, die die Verhängung der Todesstrafe nicht beeinflussen sollten, wie die ethnische Zugehörigkeit, das Geschlecht oder geografische Faktoren, dies oft tun.” Er verwies auf Untersuchungen, wonach “Personen, die des Mordes an weißen Opfern beschuldigt werden – im Gegensatz zu afroamerikanischen Opfern oder Opfern aus anderen Minderheiten –, eher zum Tode verurteilt werden”. / Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat vorsorglich einen Aufschub der Hinrichtung von Richard Moore gefordert, um mehr Zeit zu haben, den Fall zu überprüfen. Als US-Bundesstaat ist South Carolina nach internationalem Recht verpflichtet, der Forderung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Folge zu leisten. / Der ehemalige Leiter der Strafvollzugsbehörde von South Carolina, Jon Ozmint, bezeichnete Richard Moore als einen “vorbildlichen” Gefangenen. > EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER
sirenen
sierra : 19.12 UTC — Am Nachmittag beobachtete ich, wie meine Schreibmaschine eine Speicherung ihres Gedächtnisses vollzieht, ein leises Knistern ist zu hören aus dem Kästchen, in das notiert wird, was ich später zur Verfügung haben werde, wenn ich zu wissen wünsche, wie es heute gewesen ist, um kurz nach 15 Uhr an diesem 8. September 2024. Es ist noch warm und feucht. In der Nacht wurde Kyjiw von Drohnen attackiert, Charkiw und Odessa. Müde Menschen notieren auf der Position Facebook von Schlaflosigkeit. Auch schlaflose, müde Menschen in Gaza, in Haifa. Gegen 18 Uhr erneute Beobachtung meiner Schreibmaschine. Das Programm Time Maschine meldet 181 Tsd. Änderungen des Systems seit letzter Ausführung zwei Stunden zuvor. Wieder leises Knistern und Schnurren in nächster Nähe, zarte Töne. Seltsame Sache. — stop
von den papierwörtern
nordpol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gerade zur Belagerung der Stadt Mariupol durch russische Streitkräfte im März 2022, Besuch eines Silberfischchens. Bei schwachem Licht huschte das seltsam wunderbare Wesen über meinen Küchentisch. Unter einer Handlupe feine, unheimliche Strukturen. Antennen suchten in der Luft herum. Ich war vermutlich ein Schatten in seinen Augen. Was vielleicht haben seine Antennen von meiner Person wahrgenommen? Morgens dann beinahe sicher, dass das Silberfischchen vermutlich ein Papierfischen gewesen war, eines demzufolge, das sich gern von Papieren ernährt, demzufolge gleichwohl Papierwörter verzehrt, verletzliche Wesen. In dieser Hinsicht, in der Nähe einer Population der Papierfischchen, sind Papierwörter von digitalen oder elektrischen Wörtern gut zu unterscheiden. — stop
in der straßenbahn
nordpol : 10.08 UTC — Heute ist etwas Seltsames geschehen. Ein Mann setze sich in der Straßenbahn in meiner Nähe an ein Fenster. Er öffnete eine Zeitung von Papier. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass ich sehr lange, sagen wir eine unbestimmte Zeit, keinen Menschen gesehen habe, der im Zug oder in einer Straßenbahn fahrend eine papierene Zeitung las. Interessant ist, wie viel Raum ein derart lesender Mensch einzunehmen vermag. Im Moment des Blätterns oder einer kompletten Wende des raschelnden Nachrichtenkörpers werden beide Arme weit in entgegengesetzte Himmelsrichtungen ausgestreckt, wie man das als Geste menschlicher Begrüßung in anderen Zusammenhängen beobachten kann. Der Mann, den ich in der Handhabung seiner Zeitung beobachtete, bemerkte meinen aufmerksamen Blick. Er fragte, ob er mir helfen könne. Ich sagte, ich würde über seinen Anblick freuen, weil er mich an eine längst verloren geglaubte Zeit erinnerte. Damals, also vor langer Zeit, erzählte ich, würde ich in U‑Bahnen reisend immer wieder den Eindruck gehabt haben, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile sei Ruhe, aber dann blätterte jemand eine Seite um, und schon knisterte der Waggon von Reihe zu Reihe in einer nervösen Art und Weise weiter. In diesen Momenten glaubte ich, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal hatte ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, einen Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — stop
Ich würde mich irren,
sagte das Mädchen zu meiner
Übersetzerin in Tashkent. Sie
trage keinen Regenschirm
vielmehr einen Sonnenschirm
mit sich.