echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
Aus der Wörtersammlung: schrift
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Mai stellte Amal Fathy ein Video auf ihrer Facebook-Seite ein, in dem sie die von ihr erlebte sexualisierte Belästigung thematisierte, die Dringlichkeit dieses Problems in Ägypten betonte und die Regierung kritisierte, weil sie die Frauen in Ägypten nicht davor schützt. Zudem kritisierte sie das scharfe Vorgehen der Regierung gegen die Menschenrechte, die sozioökonomischen Bedingungen und die Missstände im öffentlichen Dienstleistungssektor. Daraufhin durchsuchte die Polizei am 11. Mai gegen 2:30 Uhr die Wohnung von Amal Fathy und inhaftierte sie in der Polizeiwache Maadi in Kairo zusammen mit ihrem Ehemann Mohamed Lotfy, einem früheren Mitarbeiter von Amnesty International und aktuellen Direktor der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten (Egyptian Commission for Rights and Freedoms – ECRF) und ihrem dreijährigen Kind. Mann und Kind wurden nach drei Stunden wieder freigelassen. / Am 11. Mai prüfte die Staatsanwaltschaft Maadi Amal Fathys Fall und ordnete 15 Tage Haft für die Dauer der Ermittlungen zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen an – unter anderem „Veröffentlichung eines Videos, das Falschinformationen enthält, die den öffentlichen Frieden beeinträchtigen könnten”. Am folgenden Tag verhörte die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit sie in einem weiteren Fall zu ihrer angeblichen Verbindung zur Jugendbewegung 6. April. Für die Dauer der Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppe ordnete sie weitere 15 Tage Untersuchungshaft an. / Internet-Trolle kopierten das Video und Fotos von Amal Fathy von ihren Sozialen Medien-Seiten und posteten sie auf Facebook und Twitter zusammen mit geschlechtsspezifischen Beschimpfungen und der Forderung nach ihrer Festnahme. Mehrere regierungsfreundliche und staatliche Medien veröffentlichten Artikel über das Video und behaupteten fälschlich, dass sie eine Aktivistin der Jugendbewegung 6. April sei und bei der ECRF arbeite. Darüberhinaus schrieben sie, dass sie mit dem Direktor der ECRF verheiratet sei und verstießen damit gegen ihr Recht auf Privatsphäre.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30.6.2018 unter > ai : urgent action
seite zweiundfünfzig
himalaya : 0.10 UTC — Ich entdeckte ein Algebra-Buch meines Vaters, in dem er arbeitete, als er noch jung gewesen war. Das Buch war ein Buch, das im Grunde aus einem weiteren Buch bestand. Mein Vater hatte nämlich zahlreiche Bemerkungen an den Rändern der Buchseiten hinzugefügt, auch Zettel waren da dort eingelegt, Ziffern, Zahlen, Wörter, die ich nicht lesen konnte, weil sie, mit einer sehr kleinen Schrift, mit einem spitzen Bleistift in das Papier eingeritzt worden waren. Ich holte aus seinem Schreibtisch, der noch immer auf ihn zu warten scheint, eine Lupe und folgte den Zeichen eine Weile. Da stieß ich auf eine Bemerkung, die ich entziffern konnte: Paulinchen 8557345. Natürlich ist diese Geschichte vollständig erfunden. — stop
ai : BURUNDI
MENSCH IN GEFAHR: „Nestor Nibitanga, ein ehemaliger regionaler Beobachter der Menschenrechtsorganisation Association pour la Protection des Droits Humains et des Personnes Détenues (APRODH) in Zentral- und Ost-Burundi wird seit mehr als fünf Monaten in Untersuchungshaft gehalten. Ihm werden „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ und „Rebellion“ zur Last gelegt. Amnesty International ist der Ansicht, dass dies eine Vergeltungsmaßnahme für seine friedliche Menschenrechtsaktivitäten und seine frühere Zugehörigkeit zu APRODH sind. / Er wurde am 21. November 2017 bei sich zuhause in Gitega festgenommen. Während seiner Festnahme nahm die Polizei zwei USB-Sticks aus seinem Haus an sich, von denen einer den Entwurf eines Tätigkeitsberichts für ein lokales Netz von Menschenrechtsbeobachter_innen enthielt. Nestor Nibitanga war zu der Zeit nicht bei APRODH angestellt, da sie eine von mindestens zehn Menschenrechtsorganisationen war, die der Innenminister im Oktober 2016 geschlossen hatte. Er warf den Organisationen vor, „den Ruf des Landes zu schädigen“ und „Hass und Zwietracht unter der Bevölkerung zu säen“. / Zunächst war Nestor Nibitanga vom Geheimdienst (Service national de renseignement – SNR) ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand in der Hauptstadt Bujumbura festgehalten worden. Am 4. Dezember 2017 wurde er dann in das Zentralgefängnis Murembwa nach Rumonge gebracht. / Am 3. Januar wurde sein Antrag auf Freilassung gegen Kaution abgelehnt. Gegen diese Entscheidung hat er Rechtsmittel eingelegt. / Amnesty International betrachtet Nestor Nibitanga als gewaltlosen politischen Gefangenen, der aufgrund seiner friedlichen Menschenrechtstätigkeit ins Visier geraten ist.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 11.6.2018 unter > ai : urgent action
von magnetbändern
lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist virtuell, es kommen keine Antworten. — stop
nicht atmen
nordpol : 18.15 UTC — Heute ist ein glücklicher Tag. Der Wind rast ums Haus, nur noch wenige Stunden Zeit, Aprilwind zu sein. Und diese Bleistifte, die heute angekommen sind, so spitz und hart, wie ich sie mir kaum vorzustellen traute. Um 17 Uhr und drei Minuten erreicht mich die Nachricht der Bibliothek, Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet seien eingetroffen, ich könnte sie abholen bis 18 Uhr, also dann am Mittwoch. Wie bin ich auf Robert Walser gestoßen, nach langer Zeit? Nun, weil ich vor wenigen Tagen einen Mann in der Schnellbahn beobachtete, der mit einer Lupe einen Zettel studierte, auf dem Schriftzeichen zu erkennen waren, so klein, dass ich nicht vorzustellen wagte, ein menschliches Wesen könnte sie von Hand auf das Papier aufgetragen haben. Der Mann schien sehr müde gewesen zu sein, und ich dachte: Ein Mensch, der in dieser Weise schreibt, schreibt leise, warum? — stop
ai : INDIEN
MENSCH IN GEFAHR: „Am 2. April wurde Gokarakonda Naga Saibaba von den Gefängnisbehörden zu einem Krankenhaustermin gebracht. Seine Frau erhielt jedoch keine Informationen über den Termin. Zuvor wurde ihr bereits der Zugang zu ihrem Mann und seinem Arzt verwehrt. Am 27. März hatte sie bei der Nationalen Menschenrechtskommission die Untersuchung seines Gesundheitszustandes sowie den Transfer in ein Gefängnis in einer anderen Stadt beantragt, die über besser ausgestattete Krankenhäusern verfügt und in der er durch seine Familienangehörigen unterstützt werden kann. / Am 7. März 2017 wurde Gokarakonda Naga Saibaba unter anderem der „rechtswidrigen Aktivitäten“, „Verabredung zu terroristischen Handlungen“ und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil basierte hauptsächlich auf Unterlagen und Videoaufnahmen, die das Gericht als Beweis für seine Mitgliedschaft in einer Organisation der verbotenen Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten) ansah. Amnesty International ist der Ansicht, dass die Anklagen gegen Gokarakonda Naga Saibaba konstruiert sind und dass sein Prozess nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprach. / Seine beiden Beine sind infolge von Kinderlähmung gelähmt und er sitzt im Rollstuhl. Zudem ist bei ihm eine akute Pankreatitis diagnostiziert worden. Aufgrund dieser Erkrankung hat er Schwierigkeiten mit seiner linken Schulter und der linken Hand. Er leidet außerdem an einer Herzerkrankung sowie Bluthochdruck. Nach seiner Festnahme und seiner Inhaftierung im Zentralgefängnis von Nagpur in Maharashtra verschlechterte sich sein Zustand erheblich. Seine Frau berichtete, er habe starke Schmerzen und habe seit seiner Verurteilung bereits dreimal das Bewusstsein in seiner Zelle verloren. In einem Brief teilte er vor kurzem mit, er habe Schmerzen im Bauch und in seiner linken Hand und leide unter Kopfschmerzen. Er schrieb zudem, es sei ihm nicht möglich, grundlegende Körperfunktionen wie das Urinieren ohne starke Schmerzen durchzuführen. Auch das Schreiben des Briefes würde schmerzen und fiele ihm sehr schwer. / Obwohl Gokarakonda Naga Saibabas Familie wiederholt wichtige Informationen über seinen Gesundheitszustand angefordert hat, gaben die Gefängnisbehörden diese Informationen nicht heraus. Im vergangenen Jahr wurde ein Antrag gestellt, ihn aufgrund seines Gesundheitszustands bis zum Rechtsmittelverfahren auf Kaution freizulassen. Die Anhörung zu diesem Antrag soll kommende Woche stattfinden.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 16.5.2018 unter > ai : urgent action
vor dem radio
himalaya : 18.55 UTC – Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen oder an welchen ich drehen könnte. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich könnte das Radio öffnen. Als ich das Radio öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik zu spielen beginnt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
ai : TÜRKEI
MENSCH IN GEFAHR: „Bis zu 17 Studierende der Universität Boğaziçi, die zum Teil seit bereits zwei Wochen in Polizeigewahrsam gehalten werden, weil sie gegen den türkischen Militäreinsatz in Afrin im Norden Syriens protestiert hatten, wurden am 3. bzw. 5. April vor drei Friedensgerichte in Istanbul gestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ Untersuchungshaft für sie beantragt. Auf diesen Straftatbestand stehen bis zu fünf Jahre Gefängnis./ Am 3. April verhängte das Friedensgericht für Strafsachen Nr. 8 in Istanbul, das über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft für sieben der 17 Studierenden zu entscheiden hatte, Untersuchungshaft gegen vier Studierende, weil Kameraaufnahmen zeigten, dass ihre Münder in einer Weise geöffnet waren, die nahelegte, dass sie Parolen riefen. Dies zeige, dass sie eine aktive und andauernde Rolle in der Protestveranstaltung spielten, bei der auch Transparente mit Parolen wie „Kurdistan wird das Grab des Faschismus“, „Wir wollen keine Unterstützer_innen der Free Syria Army in unserer Universität“, „Seite an Seite gegen Faschismus“, „Der Palast will Krieg, das Volk will Frieden“ aufgehängt wurden. Das Friedensstrafgericht Nr. 6 in Istanbul, das die Fälle von acht Studierenden prüfte, verhängte ebenfalls Untersuchungshaft gegen fünf Studierende auf der Grundlage, dass sie „Transparente gehalten und Parolen gerufen haben.“ Die beiden Gerichte ließen die übrigen sechs Studierenden frei, weil Fotos darauf schließen ließen, dass sie zwar anwesend, aber nicht aktiv an dem Protest beteiligt waren. Am 5. April verhängte das Istanbuler Friedensgericht für Strafsachen Nr. 2 Untersuchungshaft gegen ein_e der am 3. und 4. April inhaftierten Studierenden und ließ die andere gegen Kaution frei./ Bei den zehn Studierenden in Untersuchungshaft handelt es sich um: Deniz Yılmaz, Yusuf Noyan Öztürk, Agah Suat Atay, Berke Aydoğan, Şükran Yaren Tuncer, Zülküf İbrahim Erkol, Esen Deniz Üstündağ, Sevde Öztürk, Kübra Sağır und Tevger Uzay Tulay. İbrahim Musab Çurabaz, Hamza Dinçer, Kültigin Demirlioğlu, Ali İmran Şirin, Denizhan Eren, Mustafa Ada Kök und Emir Eray Karabıyık wurden gegen Kaution freigelassen. / Durch die Teilnahme an der Protestveranstaltung nahmen die Studierenden lediglich ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahr, die im nationalen Recht und im Völkerrecht verbrieft sind.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 18.5.2018 unter > ai : urgent action
von wörtern von ohren
sierra : 18.28 — Es donnert, heult, brüllt, zischt, pfeift, braust, saust, summet, brummet, rumpelt, quäkt, ächzt, singt, rappelt, prasselt, knallt, rasselt, knistert, klappert, knurret, poltert, winselt, wimmert, rauscht, murmelt, kracht, gluckset, röcheln, klingelt, bläset, schnarcht, klatscht, lispeln, keuchen, es kocht, schreien, weinen, schluchzen, krächzen, stottern, lallen, girren, hauchen, klirren, blöken, wiehern, schnarren, scharren, sprudeln. Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr. — G.C.Lichtenberg / stop