echo : 5.01 — Ich hatte vor wenigen Tagen einen angenehmen Traum. Wenn ich könnte, würde ich diesen Traum gern wiederholen. Deshalb habe ich den Traum in ein Notizbuch notiert, und zwar mit der Hand, damit ich das Schreiben mit einem wirklichen Bleistift nicht verlerne. Es existieren nämlich Bleistifte in meiner Arbeitsatmosphäre, die sich auf Bildschirmen befinden, die nicht wirkliche Bleistifte sind, sondern digitale Figuren, die man niemals spitzen muss. Mit diesen digitalen Wesen kann in Notizbücher geschrieben werden, die gleichwohl nicht wirklich sind. Auch die Schrift, die man erzeugt, ist nicht wirklich Schrift, sondern Malerei, ein gemaltes e, ein gemaltes m, ein gemaltes z. Ich hatte also einen Traum, der mir gefiel. Der Traum befindet sich handschriftlich niedergelegt in einem Notizbuch, das unter meinem Kopfkissen liegt. Mehr kann ich im Moment nicht tun, als vor dem Schlaf im Notizbuch zu lesen und zu hoffen, dass der Traum wieder zu Besuch kommen wird. — stop
Aus der Wörtersammlung: stift
minutengeschichten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : MINUTENGESCHICHTEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Grüß Euch ganz herzlich! Früher Morgen hier unten bei uns. How are you doing? Ich hatte, seltsame Sache, in der vergangenen Nacht das Gefühl, irgendjemand würde mir, während ich mit meinem Bleistift arbeitete, über die Schulter schauen. Mehrfach habe ich mich umgesehen, auch vorgegeben, rein gar niemanden bemerkt zu haben, und dann plötzlich, na, Ihr wisst schon, ich bin mir sicher, Ihr wart in meiner Nähe gewesen, wie noch vor wenigen Wochen, als ich unterwegs war in New York, da habe ich Euch leibhaftig gesehen nachts an Bord der John F. Kennedy – Fähre, wie ihr übers Salondeck huschtet, Gespenster, würde man vielleicht sagen, Geister, reizende Erscheinungen. Sagt, habt Ihr nun gelesen, was ich notierte? Jenen kleinen Text der Minutengeschichten, den ich so gern mit der Hand wiederhole in schweren Zeiten? Ich schick ihn Euch zur Sicherheit noch einmal mit, ja, ja, die Büchermenschen, das solltet Ihr wissen, das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden- und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. – Ahoi! Euer Louis — stop
gesendet am
13.03.2012
06.05 MEZ
3015 zeichen
brighton beach : mr. singer
delta : 0.03 — Nach Coney Island eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung. Der Himmel hell über dem Meer, heftige Sandwellenwinde. Es lässt sich gut gehen auf diesem Boden, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden, als wären sie versteinert, als wären sie tausende Jahre her. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen, wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
belichtung
romeo : 0.01 — Sobald ich einen Satz seltsamer Dinge gedacht habe, freue ich mich, kann dann nicht bleiben, springe auf, wenn ich sitze, oder in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen gestanden habe. Ich sollte einmal einen Film drehen, wie ich durch die Wohnung hüpfe. Oder durch eine U‑Bahn segele. Oder im Schlaf ein Rad schlage, weil ich sehr gern im Schlaf merkwürdige Dinge vorbereite für Sätze im Wachen. - Eine Bleistiftspitze an ein leeres Blatt Papier gelegt, blitzt das Nochnichtsichtbare durch Hand und Arm in den Kopf. Alles Notieren scheint ein Vorgang der Belichtung mittels Verdunklung zu sein. — stop
zeichenbeere
ulysses : 11.02 — Mit meinem Notizbuch ist das seit bald drei Wochen so eine Sache. Ich kann das Papierwerk betrachten, ich kann es in die Hand nehmen, in die linke wie in die rechte Hand, ich kann es also in die Hände nehmen, öffnen, darin blättern und lesen, was ich seit dem Sommer vermerkte. Sobald ich allerdings versuche, einen Schreibstift mit der rechten Hand zu ergreifen, ein Faden von Schmerz, der sich von meiner Handinnenfläche gegen die Schulter spannt. Ich notierte, noch im Hospital, das Wort Versuch, eine Form so groß wie eine Pflaume. Heute Morgen erneut das gleiche Wort, meine Zeichenpflaume ist deutlich kleiner geworden. Es besteht begründete Hoffnung, dass ich in einer Woche bereits vielleicht Wörter in der Größe von Beeren erzeugen werde. Seit Aufgang der Sonne vermag ich meine Nasenspitze wieder mit meinem rechten Daumen zu berühren. Ist das eine Nachricht? — stop
PRÄPARIERSAAL : periskop
echo : 8.15 — Zur Winterzeit mit einer jungen Frau, einer Malerin, in einem botanischen Garten spaziert. Sie erzählte von ersten Beobachtungen im Präpariersaal. Ihre leise Stimme, tief, die helle Wölkchen in der eiskalten Luft erzeugte. Und ein Blick, wenn sie mich ansah, der wie durch ein Sehrohr zu kommen schien. Auf dem Dach eines Glasschauhauses balancierte ein Mann mit einer Schaufel. Schwäne klapperten Schnäbel durch kniehohen Schnee. Entdeckte eine Notiz, die sie mir wenige Wochen später übermittelt hatte, weil ihr Kopf nach unserem Spaziergang weiterhin anatomische Sätze erzeugte. Ein Ausschnitt. Sophie schreibt: > Was ich sah, war Chaos. Merkwürdigste, fremdartige Formen auf Tischen, die von Studierenden bewegt wurden. Es war abstoßend und ängstigend. Ich dachte daran, dass dies einmal Menschen gewesen waren. Dann aber wurden in meinen Gedanken aus jenen gewesenen Menschen Körper, und es wurde möglich, das, was ich sah, mit Begriffen zu versehen. Ganz mechanisch sagte ich Bezeichnungen für Körperteile, die ich identifizieren konnte, vor mich hin. Ich glaube, dass sich in diesem Moment meine Emotionalität von meinem Intellekt trennte und sich irgendwo – sicher vor weiteren Eindrücken – versteckte. Und ich war erleichtert, zu sehen, dass das Geheimnis des Todes ein Geheimnis geblieben war. Ich beobachtete mit Verstand. Trotzdem sah ich tief aus mir selbst heraus. Ich wanderte zwischen Leichen umher, die von weißen Kitteln umringt waren, wie in einer Blase, die mich schützte, und doch war ich sehr zerbrechlich. In der Mitte der Körper, dort wo normalerweise der Bauch ist, war jeweils ein Loch zu sehen. Neugierig geworden, musste ich näher an die toten Körper herantreten. Ich sah das viele Fleisch, gelbe fettige Farbe unter farbloser Haut. Ich war überhaupt überrascht von der Farblosigkeit der Körper und stellte fest, wie wenig Menschliches, wie wenig Persönliches noch an ihnen zu erkennen gewesen war. Obwohl ich diesen Ort besuchte, um zu zeichnen, hatte ich bei meinen ersten Besuchen weder Papier noch Bleistift dabei. Ich wollte zunächst nur sehen. — stop
trockenzungen
delta : 6.22 — Ich träumte einmal von einem Schlafsaal, in dem einhundert arme Dichter wohnten. Sie liefen sehr langsam, sagen wir, vorsichtig herum, weil sie nicht wach waren, sondern schliefen. Eines Abends wurden sie in dem Auftrag geweckt, feine Formulierungen für einen besonderen Regen zu finden, einen Regen, der eine große Stadt unter Wasser setzen sollte. Ihre Freude, ihre Begeisterung, vielleicht endlich wieder gehört zu werden. Wie sie durcheinander spazierten. Und das Rascheln der Papiere, das Knirschen der Stifte, das Geräusch ihrer suchenden Trockenzungen. — stop
staten island ferry : blizzard
papille : 16.28 — Eigenartig, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das jetzt, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
eine nase
nordpol : 22.20 — Auf einem anatomischen Beobachtungskärtchen, das mit der Nummer 572 versehen ist, folgende Notiz: Selbstverständlich besitze ich eine Nase. Ich habe mich über diesen Satz, den ich handschriftlich mit Bleistift notierte, gewundert, weil ich mich nicht erinnern konnte, in welchem Moment mir dieser Satz wichtig gewesen zu sein schien. Vielleicht, denke ich in dieser Minute, wollte ich mich daran erinnern, bei Gelegenheit einmal über die Bedeutung des Wortes Besitz im Zusammenhang des eigenen Körpers nachzudenken. — stop
in der subway
sierra : 5.28 – Ich hatte einen Traum, den ich versuchte festzuhalten, also in ihm weiterzuexistieren, sagen wir ganz einfach, ich hatte den Wunsch, nicht aufzuwachen. In diesem Traum saß ich in einem Subwaywagon unter Menschen, die einen fröhlichen Eindruck machten, ein Säugling wurde in nächster Nähe gewickelt, ein paar Kugelfische schwebten durch den Raum, über einem offenen Feuer wurden Eichhörnchen gebraten, deren Sprungkeulen in der Hitze der Flammen knisterten und zischten. Mein Vater saß neben mir und schlief. Und da war eine Frau, die einen Koffer auf ihre Knie gelegt hatte. In diesem Koffer befanden sich Bücher, sie waren so klein, dass sie jedes der Bücher, das sie betrachten wollte, mit einer Pinzette aus dem Koffer heben musste. Mit einer weiteren Pinzette blätterte sie um, sah in dieser Bewegung durch ein Mikroskop, das sie mit einem ledernen Gürtel vor ihre Stirn montiert hatte. Das war ein schwerer Apparat, weshalb die Frau über kräftige Halsmuskeln verfügte, die mit jeder Bewegung unter ihrer Haut hin und her hüpften, als seien sie Tiere für sich. Von Zeit zu Zeit notierte die Frau in eines der Bücher, das sie hervorgeholt hatte. Auch der Stift, mit dem sie schrieb, war so klein, dass er für meine Augen nicht sichtbar war. Indem die Frau notierte, formulierte sie, ohne je eine Pause einzulegen, immer nur einen Satz: Bitte nicht atmen! Bitte nicht atmen! Sie flüsterte im Übrigen mit den Ohren. — stop