Aus der Wörtersammlung: substanz

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rom : umberto ecco

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alpha : 22.57 — Der Mann hin­ter dem Tre­sen ist ein freund­li­cher Mann, unra­siert, akku­rat gebü­gel­tes wei­ßes Hemd, ein hüb­sches, jun­ges Gesicht, das an den Wän­den auf zahl­rei­chen Foto­gra­fien wie­der­zu­fin­den ist, ver­mut­lich des­halb, weil man sich mit ihm zei­gen woll­te, abge­lich­tet sein, sagen wir, berühm­te Men­schen und ein­fa­che Men­schen, die ich nicht aus­ein­an­der­hal­ten kann, weil ich die berühm­ten Men­schen der Stadt Rom nicht ken­ne. Sie lächeln an der Sei­te des jun­gen Man­nes ste­hend, man­che schei­nen viel­leicht betrun­ken zu sein. Aber einen der foto­gra­fier­ten Män­ner habe ich schon ein­mal gese­hen, es han­delt sich bei die­sem Herrn um Umber­to Ecco. Der Schrift­stel­ler zeigt sei­ne Zäh­ne, er lacht in die Kame­ra. Umber­to Ecco scheint an die­sem Abend, der einem Stem­pel­auf­druck zufol­ge drei Jah­re zurück­liegt, äußerst gut gelaunt gewe­sen zu sein. Viel­leicht hat­te er gera­de einen die­ser herr­li­chen Espres­sos getrun­ken, wie ich an die­sem Mor­gen. Es war ver­mut­lich Win­ter gewe­sen, Umber­to Ecco trägt einen Hut und einen Man­tel mit einem Pelz­kra­gen. Oder es war Som­mer und Umber­to Ecco hat­te sich in der Jah­res­zeit ver­tan. Wie­der ist es sehr warm heu­te. Eine Ambu­lanz rast an der weit­ge­öff­ne­ten Tür des Cafes vor­bei, man kann das Geräusch der Sire­nen der Not den gan­zen Tag über ver­neh­men. Aber nachts ist es still in die­ser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Men­schen, die sie bewoh­nen. Es riecht nach war­mem Schin­ken in die­sem Moment. Auf dem Dis­play mei­nes Foto­ap­pa­ra­tes sind Säu­len zu sehen und Durch­leuch­tungs­ma­schi­nen und hun­der­te lee­re Plas­tik­fla­schen, Sub­stan­zen, die man nicht mit in die gro­ße, kal­te Kir­che am Peters­platz neh­men darf, sie könn­ten explo­die­ren. Ich hebe den Foto­ap­pa­rat leicht an und foto­gra­fie­re Umber­to Ecco, sodass er jetzt zwei­fach im Pelz­kra­gen exis­tiert. Wenn ich mir nicht vor­ge­nom­men hät­te, das Pan­the­on zu besu­chen, ich wür­de gern war­ten, Tage, Wochen, um nach­zu­se­hen, ob Umber­to Ecco zurück kom­men wird. Ich habe bemerkt, dass mei­ne Ohren knis­tern wenn ich Kaf­fee trin­ke in Rom. — stop
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rom : nachtlicht

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romeo : 17.52 — Das Geräusch der Gril­len auf dem Gia­ni­co­lo abends. Ich kann sie wie­der hören. 82 Meter über dem Mee­res­spie­gel, unten die Stadt, Tras­te­ve­re, Gas­sen wie gol­de­ne Adern, Kup­pel­hau­ben­lich­ter. Abend­seg­ler huschen durch Flie­gen­tür­me, schla­gen sich die Mägen voll. Es ist kurz vor zehn Uhr, Ver­lieb­te sit­zen auf den Mau­ern vor dem Abgrund, man­che rau­chen, ande­re küs­sen sich. Ein paar Kios­ke auf Rädern, Jahr­markt­bu­den, schon im Halb­schlaf am Ran­de eines bota­ni­schen Gar­tens, in dem stei­ner­ne Köp­fe wach­sen. Es ist nicht sehr hell in Rom am Abend, die Stadt eher spär­lich beleuch­tet. Es scheint so zu sein, dass das künst­li­che Licht der­art spar­sam ein­ge­setzt wird, weil das grel­le Licht Häu­sern, Men­schen, Tie­ren zuset­zen, sie auf­lö­sen könn­te, dar­um ein beschei­de­nes Licht, nicht weiß, son­dern von einer war­men, gelb­li­chen Sub­stanz. Inge­borg Bach­mann war hier gewe­sen, sie notier­te am 18. Febru­ar 1955 in eine ihrer römi­schen Repor­ta­gen: Sieht man vom Gia­ni­co­lo auf Rom hin­un­ter, ver­merkt man, daß kein Fabrik­schorn­stein das Stadt­bild stört. Rom ist die ein­zi­ge Haupt­stadt der west­li­chen Welt ohne Indus­trie. Und doch sind in Rom in den letz­ten Jah­ren Unter­neh­men ent­stan­den, die eine Groß­macht im Lan­de bil­den. Es ist die Schwarz-Weiß-Indus­trie des Films in der Cine­cit­tà, die sich am Stadt­rand von Rom aus­brei­tet und heu­te in der Film­in­dus­trie des Wes­tens nach Hol­ly­wood den zwei­ten Platz ein­nimmt. — An die­sem Abend ist von dem Hügel aus, auf dem ich ste­he, von der Stadt gespei­cher­ten Lichts nichts zu erken­nen. Es ist bei­na­he dun­kel und in die­sem Dun­kel beleuch­te­te Inseln, eine Art Dun­kel wie im Kino, jenem Dun­kel das Grau­tö­ne ent­hält, fas­zi­nie­rend, ein Dun­kel, das mit­tels Lich­tes aus der Film­ma­schi­ne kommt. — stop

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rom : ein flugzeug

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marim­ba : 22.58 — Man müss­te ein­mal ein Flug­zeug erfin­den, das nicht sicht­bar und doch wir­kungs­voll anwe­send ist. Unsicht­ba­re Sit­ze, auf wel­chen sicht­ba­re Pas­sa­gie­re Platz genom­men haben, durch­sich­ti­ge Steu­er­knüp­pel, durch­sich­ti­ge Flü­gel, ein durch­sich­ti­ges Leit­werk. Man sieht nun Men­schen, wie sie über Taxi­way­bah­nen eines Flug­ha­fens schwe­ben, gut sor­tiert, acht Per­so­nen zu einer Rei­he neben­ein­an­der, so sitzt man. Da und dort lie­gen schlam­pi­ger­wei­se Taschen her­um, Ruck­sä­cke, Zei­tun­gen, auch sie sind sicht­bar wie ihre Besit­zer und die Ben­zi­ne in den Flü­geln der Maschi­nen, das Nest der Kof­fer am Flug­zeug­heck, jene zwei Her­ren mit ihren akku­rat gefal­te­ten Flie­ger­hau­ben an der Spit­ze der Pro­zes­si­on, bald wird man sehen wie das alles fliegt sehr steil gegen den Him­mel zu. Und die­ser Blick nun nach unten, Seen, Stra­ßen, Wäl­der, Schnee auf den Ber­gen, das Meer, die gro­ße Stadt im Anflug, ein röt­lich brau­ner Fleck in einer Land­schaft, die hell ist. Es war viel Wind unter­wegs und bestän­dig das Gefühl in die Tie­fe zu fal­len, weil die Sub­stan­zen des Flug­zeu­ges nicht zu sehen gewe­sen waren. Nun aber Rom. Da ste­he ich mit bei­den Bei­nen fest auf einem Boden, unter dem viel Zeit­spur im Ver­bor­ge­nen liegt. Das Taxi, das durch das groß­zü­gi­ge Spa­lier der Zedern­bäu­me glei­tet, Schirm­pi­ni­en da und dort in Step­pen­land­schaft jen­seits der Stra­ße. Plötz­lich dich­tes Häu­ser­ge­fü­ge in war­mer­di­gen Far­ben, braun, ocker, gelb, rot, oran­ge, an den Ampeln hel­le Wölk­chen von Blei­luft, die aus knat­tern­den Rol­ler­mo­to­ren paf­fen. Via del­la Maglia­na, Via Por­tu­en­se, Via Qui­ri­no Majo­ra­na, Via del­le For­naci, Via del­le Mura Aure­lie. Vor dem Haus lie­gen drei scheue, schlan­ke Kat­zen. Das Gespräch der Möwen auf ihrem Flug gegen Tras­te­ve­re. – stop
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herzwanderung

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gink­go : 0.28 — Auf Notiz­kärt­chen, die ich im Prä­pa­rier­saal beschrif­te­te, das Wort Herz­wan­de­rung ent­deckt. Ich notier­te die­ses Wort, kurz nach dem ich einen jun­gen Mann beob­ach­tet hat­te, wie er mit einem klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen, das er zuvor unter Anlei­tung eines Assis­ten­ten aus dem Brust­korb einer alten Frau ope­rier­te, durch den Saal eil­te, um es unter kal­tem Was­ser zu waschen. Unmit­tel­bar hin­ter ihm war­te­te ein Kol­le­ge. Auch er hielt ein Herz in Hän­den. Die­ses Herz schien ver­gleichs­wei­se das Herz eines Rie­sen gewe­sen zu sein, und es war dun­kel, fast schwarz. Als der jun­ge Mann mit der Waschung des klei­nen rosa­far­be­nen Her­zen fer­tig gewor­den war, dreh­te er sich um. Für eini­ge Sekun­den stan­den sich die zwei Män­ner gegen­über und betrach­ten je das Herz des ande­ren. — stop

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fährschiff john f. kennedy : armzungen

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del­ta : 0.08 — Eine klei­ne Geschich­te habe ich rasch noch zu erzäh­len. Sie ver­fügt über kaum Hand­lung, eine Geschich­te, die sich im Grun­de Tag für Tag auf einem Fähr­schiff der Sta­ten Island Fäh­ren­flot­te wie­der­ho­len könn­te. Auf die­sem Schiff, das den Namen John F. Ken­ne­dys trägt, befin­det sich in der Mit­te des Bridge­decks hin­ter einem Tre­sen ein klei­nes Laden­ge­schäft, das der Ver­sor­gung der Rei­sen­den dient, ein Ort, der leuch­tet und blinkt, ein Ort, der nach Pop­corn duf­tet, nach Kaf­fee, nach gebra­te­nem Schin­ken und nach wei­te­ren Sub­stan­zen, die ich bis­lang nicht iden­ti­fi­zie­ren konn­te. Obst, Scho­ko­la­de, Coo­kies, Bon­bons, auch Stra­ßen­plä­ne Man­hat­tans, Feu­er­zeu­ge, Coca Cola, Zucker­was­ser in ver­schie­dens­ten Far­ben, Nüs­se, gerös­te­te Man­deln, was ich wäh­le, was ich wün­sche bekom­me ich von einem Mann aus­ge­hän­digt, der sei­ner Erschei­nung nach in Mexi­co oder Nica­ra­gua gebo­ren wor­den sein könn­te. Sein stoi­scher Aus­druck ist mir sofort auf­ge­fal­len, lan­ge Zeit habe ich ihn beob­ach­tet, die­ses Gesicht, das wirk­te, als wür­de es eine aus Tro­pen­holz geschnitz­te, eine auf das Sorg­fäl­tigs­te bemal­te Mas­ke tra­gen, dar­in Augen, dunk­le, schim­mern­de Knöp­fe. Die Stim­me des Man­nes, die sich dort irgend­wo befin­den muss, habe ich bis­her nie gehört. Und ich habe nie gese­hen, dass er sich von sei­nem Platz fort­be­weg­te, er steht senk­recht hin­ter sei­ner Ware, ein Monu­ment, das über sehr schnel­le, sehr lan­ge Arme ver­fügt, ja, es sind die Arme, das ein­zi­ge was sich an die­sem Mann bewegt sind sei­ne Arme, die­se Arme sind Hand­lung, sie sind eine Geschich­te, sie sind erstaun­lich, weil sie in der Geschwin­dig­keit der Cha­mä­le­on­zun­gen nach Waren grei­fen. Ein­mal habe ich einen der Foto­ap­pa­rat gekauft, die der Mann in sei­nem Sor­ti­ment für Tou­ris­ten bereit­hält. Der Appa­rat kos­te­te sechs Dol­lar und der Film 8 Dol­lar. Das ist ein wirk­lich alt­mo­di­scher Film, einer, den man, um sei­ne Bil­der betrach­ten zu kön­nen, ent­wi­ckeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau die­sem Foto­ap­pa­rat foto­gra­fiert. Ich glau­be, der Mann freu­te sich über mei­ne Ges­te. Er schien unter der Mas­ke sei­nes Gesich­tes zu lächeln. Viel­leicht ahn­te er zu die­sem Zeit­punkt, dass ich ein­mal nach­se­hen wer­de, ob er lächel­te, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschich­te. — stop

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obersalzberg : kentauren

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sier­ra : 12.10 — Man soll­te mei­nen, ein Buch sei aus­schließ­lich zum Lesen geeig­net, eine Sub­stanz hel­len Papiers, Zei­chen in gefal­te­ter Linie, die mit den Augen stu­die­rend ent­lang zu arbei­ten ist, Far­ben, Gerü­che, Klän­ge, Dra­ma. Seit eini­gen Stun­den nun weiß ich, Bücher hel­fen gleich­wohl in mecha­ni­scher Wei­se ana­to­misch wie­der beweg­lich zu wer­den. Toni Mor­ri­sons Roman Jazz, zum Bei­spiel, 402 Gramm Gewicht für Minu­ten in mei­ner Hand am Ende eines Unter­ar­mes, den ich zu stre­cken wün­sche, wider­spens­tig ist er noch, bewegt sich nicht von eige­ner Kraft in jede der von mir gewünsch­ten Rich­tun­gen. Wie er jetzt von der Schwer­kraft der Dich­tung nach unten gezo­gen wird, behut­sam, in der Art und Wei­se lang­sam fal­len­der Äpfel, sagen wir, eine Bewe­gung, mit den Augen nicht wahr­nehm­bar. – Kurz vor 12 Uhr. Mit­tag. Jen­seits des Tales, das ich vom Hos­pi­tal aus über­schau­en kann, spa­ziert glei­ßen­des Son­nen­licht über den Ober­salz­berg hin, unheim­li­che Gegend. Ich mein­te für Sekun­den ein Rudel Ken­tau­ren gese­hen zu haben, die den Saum eines Buchen­wal­des ent­lang galop­pier­ten. stop. Groß­ar­ti­ge ers­te Sät­ze im Kopf. stop. Toni Mor­ri­son. stop. STH, I know that woman. She used to live with an flock of birds on Len­ox Ave­nue. Know her hus­band, too. He fell for an eigh­te­en-year-old girl with one of tho­se deep­down, spoo­ky loves that made him so sad and hap­py he shot her just to keep the fee­ling going. When the woman, her name is vio­let, went to the fun­e­ral to the the girl and to cut her dead face they threw her to the flo­or and out of the church. She ran, then, through all that snow, and when she got back to her apart­ment she took the birds from their cages and set them out the win­dows to free­ze or fly, inclu­ding the par­rot that said, „I love you.“

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coleoptera rasura

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tan­go : 10.12 — Eine zier­li­che Frau von hohem Alter. Sie schob einen Roll­wa­gen vor sich her, auf dem zwei Kof­fer ruh­ten. Ele­gan­te Klei­dung, sand­far­ben, leich­te Som­mer­schu­he, links in der Hand eine Tasche von gel­bem Leder, der ein Kabel ent­kam, das ein paar Kopf­hö­rer und ein Mikro­phon mit einem Tele­fon ver­band. Das Tele­fon war nicht sicht­bar gewe­sen, aber die Frau sprach in das Mikro­phon, das sich in der Nähe ihres Mun­des befand, als wür­de sie tele­fo­nie­ren. Hin und wie­der blieb sie ste­hen, ihre wei­ßen Hän­de flat­tern dann in der Luft her­um, als woll­te sie zur Unter­stüt­zung ihrer Zun­ge mit Fin­gern arti­ku­lie­ren. Ich ver­such­te, sie anzu­spre­chen, zu grü­ßen, ihr nahe­zu­kom­men, um hören zu kön­nen, in wel­cher Spra­che sie kor­re­spon­dier­te. Ich sage Euch, sie flüs­ter­te unbe­kann­te Wör­ter. Ein­mal öff­ne­te sie einen ihrer Kof­fer. Sie gab mir ein Zei­chen, ich knie­te nie­der. In dem Kof­fer hock­ten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Kör­per waren von der Far­be und Zeich­nung der Bruyè­re­höl­zer gewe­sen, und sie brumm­ten, viel­leicht des­halb, weil an der Stel­le, da sich übli­cher­wei­se Käfer­zan­gen befin­den, knö­cher­ne Trom­meln in rasen­der Geschwin­dig­keit rotier­ten. Gegen vier­tel nach zwei Uhr erwacht. Wol­ken­lo­ser Him­mel, Ster­ne, eis­kal­te Luft nahe der Ber­ge über dem Dach. — stop

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apfelbaumgalaxie

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char­lie : 8.55 — Berg­schat­ten­licht am frü­hen Mor­gen. Im Gar­ten, im Geäst schrul­li­ger Apfel­bäu­me, schim­mern­de Spinn­web­net­ze wie Gala­xien. Wie­der an Julio Cor­ta­zar gedacht, an Sät­ze, die der Schrift­stel­ler über das Vor­kom­men der Trep­pen­sub­stan­zen notier­te. Die­sen zum Bei­spiel: Jeder­mann wird schon ein­mal beob­ach­tet haben, dass sich der Boden häu­fig fal­tet, der­ge­stalt, dass ein Teil im rech­ten Win­kel zur Boden­ebe­ne ansteigt und der dar­auf fol­gen­de Teil sich par­al­lel zu die­ser Ebe­ne befin­det, um einer neu­en Senk­rech­te Platz zu machen. Oder jenen: Trep­pen steigt man von vorn, da sie sich von hin­ten oder von der Sei­te her als außer­or­dent­lich unbe­quem erwei­sen. — stop 

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