foxtrott : 0.15 — Im Central Park zur Mittagszeit ein betender Mann, Moslem, Rikschafahrer, der Höhe 61. Straße unter einer mächtigen, weitverzweigten Ulme kniet, vielleicht unter einem jener Bäume, deren Setzlinge im Jahr 2008 nach Oregon geschickt wurden, um sie dort großzuziehen und wieder nach Manhattan zurückzuholen. Das klagende Singen der Kinderschaukel. Ein Eichhörnchen hetzt über eine Wiese. Bald kauert das Tier in der Nähe des betenden Mannes, scheint ihn zu beobachten. Ich könnte jetzt warten, bis der Mann mit seinem Gebet fertig geworden ist. Ich könnte mich zu ihm in seine Rikscha setzen. Wir könnten gemeinsam durch den Park fahren. Ich könnte ihm eine Geschichte erzählen. Ich könnte erzählen, dass ich soeben noch in einem Café hörte, wie eine junge, lustige Mutter von ihrer Absicht berichtete, ihren Sohn, der noch nicht geboren worden ist, mit dem Namen „Grammophon“ zu versehen. Das ist eine wirklich aufregende Geschichte, die ich tatsächlich sofort erzählen sollte. Ich sollte den jungen Mann weiterhin fragen, ob er mir vielleicht erklären wolle, weshalb es lebensgefährlich für mich sein könnte, wenn ich mich fragend über Mohammed, den Propheten, äußern würde. Vielleicht würde der junge Mann bremsen, vielleicht sich unverzüglich von seinem Fahrrad schwingen. Wir würden uns auf eine Bank setzen und Geschichten erzählen von Grammophonen, von Propheten und wie es ist, im Winter Rikscha zu fahren. Und vielleicht würde ich ihm dann noch vom Schnee erzählen, den ich als Kind aus der Luft gefangen habe. Ja, so könnten wir das machen, sofort, gleich, wenn der betende Mann sich erheben wird. — stop
Aus der Wörtersammlung: winter
hell’s kitchen : ballroom
alpha : 20.02 — Die Port Authority Busstation Höhe 42. Straße soll die größte Busstation der Vereinigten Staaten sein, 7200 Automobile verlassen oder erreichen an einem durchschnittlichen Tag das Gebäude in der Nähe des Hudson Rivers. Ich sollte einmal von hier aus nach Mexiko fahren oder rauf nach Alaska oder Neufundland, ein Ort der Koffer, der Rucksäcke. Ich habe Menschen beobachtet, die aus einem anderen Jahrhundert kommend hier eingetroffen zu sein scheinen, Frauen mit Röcken bis zum Boden, Männer in Knickerbockerhosen, Golfschuhen, hellen Sommerjacken inmitten des Winters in einem sich langsam drehenden Wirbel von Körpern. Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich in einem Gehäuse von Glas und Stahl eine Maschine, die mit Billardkugeln spielt, eine Skulptur des Künstlers George Rhoads. Man kann sie weithin hören, klingelnde, ratternde Geräusche, und das Glück der Kinder beobachten, die mit ihren Augen den Kugeln folgen, welche von der Schwerkraft in Bahnen gegen den Boden gezogen werden. Ein Wesen, das bei Tag und bei Nacht arbeitet, indem ein Aufzug, von einem kleinen Elektromotor angetrieben, jene steinharten Bälle in die Höhe hebt, um sie bald wieder loszulassen in ein Labyrinth möglicher Bahnen. Es ist ein wenig so, als würde die Maschine sprechen oder singen oder spielen, selbstvergessen, heiter, leicht. Ich muss mich nicht wundern, einmal waren alle Kugeln, weiß der Himmel, warum, aus ihren Bahnen gesprungen, und ich hatte den Eindruck, die verstummte Maschine sei aus dem Leben gegangen. Gerade eben, es ist Montagabend geworden, fällt mir ein, dass ein Freund unlängst erzählte, dass er sehr traurig sei, weil seine Großmutter im ungefähren Alter von 105 Jahren in Afrika gestorben sei. Sie habe noch eine Wüstensprache gesprochen, die ohne Zeichen gewesen war für Papiere, Holz, Stein, Erde. — stop
downtown south ferry : lorra
nordpol : 0.22 — Elendsmenschen unter Decken, unter Mänteln, unter Kartons verborgene Personenwesen, zerschlagene, gefrorene, eiternde Gesichter zu Tausenden auf der Straße, in Tunnels, Hauseingängen, Parks. Ich kann nicht erkennen, ob sie Frauen oder Männer sind, sie sprechen und bewegen sich nicht, oder nur sehr langsam, als würden sie sich in einer anderen Zeit befinden. Wer noch gehen kann, wer noch über Kraft zu sprechen verfügt, wandert in der Subway, eine äußerst schwierige Arbeit, das Erzählen immer wieder ein und derselben Geschichte: Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit! Ich bin Lorra, ich bin 32 Jahre alt, ich bin wohnungslos, ich habe keine Arbeit, ich habe Kinder, wir müssen über den Winter kommen. Von Waggon zu Waggon. Von Zug zu Zug. Stunde um Stunde. Sie nimmt auch zu essen, zu trinken, Papier oder leere Flaschen an. Alles hilft, sagt Lorra, alles hilft. Sie wird nicht verhöhnt, vertrieben oder missachtet, sie bekommt, sooft ich ihr in der Linie 5 downtown South Ferry begegnete, zwei oder drei Dollar überreicht. Abends sitzt sie im Wartesaal der Fähre und schläft. Einmal nähert sich ein Polizist. Lorra war ein wenig zur Seite gefallen. Er spricht sie an, er berührt sie an der Schulter: Mam, ist alles in Ordnung? Aber Lorra antwortet nicht. Ein zweiter Polizist kommt hinzu. Er fragt: Ist sie noch am Leben? Sie richten die schlafende Frau gemeinsam auf. Sie tragen jetzt Handschuhe von Plastik. Sie sprechen so lange leise auf Lorra ein, bis sie die Augen öffnet. Dann macht sie die Augen wieder zu. — stop
brighton beach : mr. singer
delta : 0.03 — Nach Coney Island eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung. Der Himmel hell über dem Meer, heftige Sandwellenwinde. Es lässt sich gut gehen auf diesem Boden, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden, als wären sie versteinert, als wären sie tausende Jahre her. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen, wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
roosevelt island : lawrence
ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinen Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit habe ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollte ich zurückgekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts, bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin und sofort wieder zurück, Pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten Hunderte schlafender Tauben, als wären sie Blüten. — stop
wintermütze
kilimandscharo : 8.55 — Seit Tagen frage ich mich, welchen Anblick ich dargeboten haben könnte, narkotisiert, ich, Louis, über vier Stunden Zeit im chirurgischen Saal auf einem Tisch. Habe ich gesprochen? Habe ich mich aus eigener Kraft bewegt? Wenn ich sage: Meine schlafenden Augen, spreche ich von Augen, die ich nie gesehen habe. Kann mich an den Moment des Schlafens nicht erinnern, als ob dieser Moment nie existierte. Möchte bald meinen, unter Narkose unsichtbar geworden zu sein. Stattdessen war ich sichtbar, wie ich zuvor nie sichtbar gewesen bin. Mein Ellenbogen, von mehreren Seiten her geöffnet, ausgeleuchtet, dargelegt. Einer der Chirurgen, die operierten, erzählte, man habe, sobald Kapsel, Bänder, Muskeln, Sehnen sortiert und genäht worden waren, alle üblichen Bewegungen eines Ellenbogengelenks erfolgreich ausprobiert, ich solle mir keine Gedanken machen, ich könne bald wieder schreiben von Hand, essen, meine Wintermütze aufsetzen. Im Januar spätestens das beidhändige Werfen schwerer Koffer üben. — stop
vorwinterzeit : beobachtung in der warenwelt
india: 12.05 — Ein wesentliches Merkmal, das in der Warenwelt eine verkaufende Person von einer einkaufenden Person unterscheidet, scheint die Art und Weise zu sein, mit Stoffen, zum Beispiel, mit Winterpullovern umzugehen. Die einen, jene, die hinzugetreten sind, weil sie sich, in Ahnung des Winters, einen Pullover wünschten, entfalten und verrücken, was andere, jene, die schon da gewesen sind, weil sie hier arbeiten, geordnet, das heißt, gefaltet haben und getürmt. Weil zwischen diesen sich offensichtlich entgegenwirkenden Personengruppen ein Gefälle besteht, [die einen sind zahlreich, die anderen nicht], handelt es sich sowohl bei der Faltung, als auch bei der Sortierung der Ware nach Größe, um einen sehr ernst zu nehmenden und zeitaufwendigen Vorgang. Aus diesem Grund insbesondere scheint der Zustand der faltend sortierenden Personen ein stationärer Zustand zu sein, während jene anderen entfaltenden Personen, Unordnung sozusagen im Vorüberkommen produzieren. Dieser gerade eben erwähnte Produktionsvorgang ist nun genau genommen ein Akt der Zerstörung oder aber beschleunigter Entropie. Zerstört wird, was vorausgesetzt, was erwartet ist, Übersichtlichkeit, sagen wir, Berechenbarkeit und Konzentration. Alle roten Pullover, Kaschmirwolle, liegen südlich synthetischer Modelle von blauer Farbe auf dem Auslagetisch. Weil die einen im Vorübergehen zerstören, was die anderen mit Liebe oder pflichtgemäß errichtet haben, sind letztere weder glücklich noch zufrieden, üblicherweise vielmehr von einer vorausahnenden Morgenwut oder von einem gut verständlichen Abendzorn besetzt. — stop
anweisung im umgang mit dienstweihnachtsbäumen
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : WEIHNACHTSBÄUME
Sollte ich folgende amtliche Anweisungen im Umgang mit Dienstweihnachtsbäumen bereits einmal übermittelt haben, verzeiht mir bitte. Ich bin in diesen Tagen ein wenig vergesslich, vielleicht deshalb, weil ich lange schlafe, weil Oktober geworden ist, eine Art vorwinterliche Traumzeit, die weit in die Tage herüber leuchtet. Hier nun einige Sätze, die der Wirklichkeit entnommen sind, zur reinen Freude. Es handelt sich, das ist denkbar, um eine neuartige Gattung feinster Literatur. Ahoi. Euer Louis ~ > Arbeitsorganiationsrichtlinien über die Handhabung und Verwendung von Nadelbäumen kleineren und mittleren Wuchses, die in Diensträumen Verwendung als Dienstweihnachtsbäume finden. ~ Begriff: Ein Dienstweihnachtsbaum (DWB) ist ein Weihnachtsbaum natürlichen Ursprungs oder einem natürlichen Weihnachtsbaum nachgebildeter Weihnachtsbaum, der zur Weihnachtszeit in Diensträumen aufgestellt wird. ~ Aufstellen der Weihnachtsbäume: Ein Dienstweihnachtsbaum (DWB) darf nur von sachkundigen Personen nach Anweisung des unmittelbaren Vorgesetzten aufgestellt werden. Dieser hat darauf zu achten, dass 1. der DWB (Dienstweihnachtsbaum) mit seinem unteren der Spitze entgegen gesetzten Ende in einen zur Aufnahme von Baumenden geeigneten Halter eingebracht und befestigt wird, 2. der DWB in der Haltevorrichtung derart verkeilt wird, dass er senkrecht steht (in schwierigen Fällen ist ein Offizier hinzuzuziehen, der die Senkrechtstellung überwacht. bzw. durch Zurufe wie “mehr links”, “mehr rechts” usw. korrigiert), 3. im Umfallbereich des DWB keine zerbrechlichen oder durch umfallende DWB in ihrer Funktion zu beeinträchtigende Anlagen vorhanden sind. ~ Behandeln der Beleuchtung: Der DWB ist mit weihnachtlichem Behang nach Maßgabe des Dienststellenleiters zu versehen. Weihnachtsbaumbeleuchtung, deren Flammenwirkung auf dem Verbrennen eines Brennstoffes mit Flammenwirkung beruht (sogenannte Kerzen), dürfen nur Verwendung finden, wenn 1. die Bediensteten über die Gefahren von Feuersbrünsten hinreichend unterrichtet sind, 2. während der Brennzeit der Beleuchtungskörper ein in der Feuerbekämpfung unterwiesener Soldat mit Feuerlöscher und Feuerpatsche bereitsteht. ~ Aufführen von Krippenspielen und Absingen von Weihnachtsliedern: In Dienststellen mit ausreichendem Personal können Krippenspiele unter Leitung eines erfahrenen Vorgesetzten zur Aufführung gelangen. In der Besetzung sind folgende in der Personalplanung vorzusehende Personen notwendig: 1. Maria: möglichst weibliche Bedienstete, 2. Josef: länger dienender Soldat mit Bart, 3. Kind: kleinwüchsiger Soldat, 4. Esel: geeigneter Soldat, 5. Ochse: wie vor. Die Darstellung der Heiligen Drei Könige sollte möglichst durch Generalstabsoffiziere, mindestens jedoch durch Stabsoffiziere erfolgen. Zum Absingen von Weihnachtsliedern stellen sich die Soldaten unter Anleitung eines Vorgesetzten ganz zwanglos nach Dienstgraden geordnet um den DWB auf. Eventuell bei der Dienststelle vorhandene Weihnachtsgeschenke können bei dieser Gelegenheit durch einen Vorgesetzten in Gestalt eines Weihnachtsmannes an die Untergebenen verteilt werden. — stop
gesendet am
17.10.2011
12.05 MESZ
3082 zeichen
PRÄPARIERSAAL : periskop
echo : 8.15 — Zur Winterzeit mit einer jungen Frau, einer Malerin, in einem botanischen Garten spaziert. Sie erzählte von ersten Beobachtungen im Präpariersaal. Ihre leise Stimme, tief, die helle Wölkchen in der eiskalten Luft erzeugte. Und ein Blick, wenn sie mich ansah, der wie durch ein Sehrohr zu kommen schien. Auf dem Dach eines Glasschauhauses balancierte ein Mann mit einer Schaufel. Schwäne klapperten Schnäbel durch kniehohen Schnee. Entdeckte eine Notiz, die sie mir wenige Wochen später übermittelt hatte, weil ihr Kopf nach unserem Spaziergang weiterhin anatomische Sätze erzeugte. Ein Ausschnitt. Sophie schreibt: > Was ich sah, war Chaos. Merkwürdigste, fremdartige Formen auf Tischen, die von Studierenden bewegt wurden. Es war abstoßend und ängstigend. Ich dachte daran, dass dies einmal Menschen gewesen waren. Dann aber wurden in meinen Gedanken aus jenen gewesenen Menschen Körper, und es wurde möglich, das, was ich sah, mit Begriffen zu versehen. Ganz mechanisch sagte ich Bezeichnungen für Körperteile, die ich identifizieren konnte, vor mich hin. Ich glaube, dass sich in diesem Moment meine Emotionalität von meinem Intellekt trennte und sich irgendwo – sicher vor weiteren Eindrücken – versteckte. Und ich war erleichtert, zu sehen, dass das Geheimnis des Todes ein Geheimnis geblieben war. Ich beobachtete mit Verstand. Trotzdem sah ich tief aus mir selbst heraus. Ich wanderte zwischen Leichen umher, die von weißen Kitteln umringt waren, wie in einer Blase, die mich schützte, und doch war ich sehr zerbrechlich. In der Mitte der Körper, dort wo normalerweise der Bauch ist, war jeweils ein Loch zu sehen. Neugierig geworden, musste ich näher an die toten Körper herantreten. Ich sah das viele Fleisch, gelbe fettige Farbe unter farbloser Haut. Ich war überhaupt überrascht von der Farblosigkeit der Körper und stellte fest, wie wenig Menschliches, wie wenig Persönliches noch an ihnen zu erkennen gewesen war. Obwohl ich diesen Ort besuchte, um zu zeichnen, hatte ich bei meinen ersten Besuchen weder Papier noch Bleistift dabei. Ich wollte zunächst nur sehen. — stop
PRÄPARIERSAAL : skalpell
romeo : 3.05 — Ich habe das Fauchen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich nicht vielleicht geirrt haben könnte, ein Nachgeräusch, dachte ich, ein Schatten in den Ohren, wie in den Augen Nachbilder entstehen, weil ich am Abend wirklichen, fauchenden Schwänen im Palmengarten begegnet war. Also spulte ich das Band zurück und hörte noch einmal genauer hin, und da war das luftige Geräusch tatsächlich wieder zu hören gewesen, in einer Atempause Emilys, deren Stimme ich im Nymphenburger Schlosspark aufgezeichnet hatte. Sie wollte Spazierengehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich besser konzentrieren in Bewegung, vor allem besser schweigen, nachdenken im Gehen. Winterzeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwäne fauchten hungrig. Emily nun, so wie sie gesprochen hatte, ohne Pausen an dieser Stelle, weil ich ihr Schweigen in den Zeichen entfernte: > Bevor ich erzähle, wie ich die Öffnung des Körpers erlebt habe, möchte ich erwähnen, dass dieser erste Tag und auch der zweite Tag für mich nur schwer zu ertragen gewesen sind. Ich war beeindruckt von der großen Zahl der Tische, die in den Apsiden standen. Ganz ehrlich, ich war eingeschüchtert. Ich fühlte mich unsicher und unbedeutend und ich glaube, viele andere haben sich selbst auch so wahrgenommen. Man will das natürlich nicht zeigen. Man wünscht sich, souverän zu sein. Aber ich musste mich überwinden, den Körper überhaupt nur zu berühren. Da war ein Widerstand in mir, dem ich bis heute noch nachspüren kann Ich habe mehrere Versuche unternommen und hatte plötzlich große Angst, dass ich das überhaupt niemals könnte. Aber meine Freunde am Tisch waren sehr verständnisvoll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischassistent nicht. Er sagte, dass das ganz normal sei und dass ich mich beruhigen solle und ganz ruhig atmen. Ich hatte eine irgendwie verzerrte Wahrnehmung, alles war so laut um mich herum und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst einmal aus dem Saal geflüchtet. Eine Freundin hat mich begleitet und wir sind auf dem Flur hin- und hergelaufen. Und dann wollte sie zurück und ich folgte. Ich erinnere mich an den grünen Kittel unseres Assistenten. Er beugte sich gerade über den Körper des Toten und zog das Skalpell vom Kinn in Richtung des Nabels. Ich wunderte mich, dass man gar nichts hören konnte. Verstehen Sie, ich kann mir heute noch nicht erklären, warum ich ein Geräusch erwartet habe. Man konnte auch keine Spuren eines Schnittes erkennen. Dann ist etwas Merkwürdiges mit mir geschehen. Ich habe meine Position am Tisch wieder eingenommen, das heißt, ich habe mich wieder zu meiner Gruppe gestellt. Ich habe meine Handschuhe angezogen, mein Skalpell ausgepackt und meine Pinzette und dann habe ich angefangen zu arbeiten. Ich will das so sagen, ich habe den Körper auf dem Tisch zunächst mit dem Skalpell berührt und dann mit meinen Händen. Ich war sehr glücklich gewesen, dass ich mich überwinden konnte. Immer wieder ist aber das Gefühl einer gewissen Unwirklichkeit zurückgekehrt, der Eindruck an diesem Ort deplatziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gearbeitet habe, wenn ich also präpariert habe, ging das gut mit mir. Ich glaube, ich war eine von jenen, die stets tief über das Präparat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelaufen, und wenn ich fertig war, habe ich den Saal so rasch wie möglich wieder verlassen.