alpha : 1.30 — Es ist still im Haus. Draußen zaust ein kühler Wind Bäume und Sträucher, während die Venus, ein Punkt, über den abgedunkelten Sonnenball auf dem Bildschirm meines Computers wandert. Das sind Bilder, die von der NASA gesendet werden, das beobachtende Maschinenauge befindet sich auf dem Mauna Kea, Hawaii. Ich habe die Sonne noch nie zuvor in dieser Weise betrachtet, Echtzeit, in dem Sinne Echtzeit, dass ich die Sonne betrachten kann, ohne meine Augen schließen zu müssen und in dieser Weise wahrzunehmen vermag, wie sich ihre Oberfläche tatsächlich bewegt. Oder irre ich mich? Alles das, was ich sehe, liegt bereits 8 Minuten in der Zeit zurück. Es ist denkbar, dass ich die Bewegung nur deshalb zu erkennen meine, weil ich weiß, dass diese Bewegung existiert. Ja, es ist still im Haus. Der Regen peitscht gegen die Scheiben. Ich bin ruhig. Alles schläft. — stop
fischvögel
~ : louis
to : Madame van Lishout
subject : FISCHVÖGEL
Sehr geehrte Madame van Lishout, verzeihen Sie bitte vielmals mein Schreiben auf elektrischem Wege. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre korrekte Adresse erinnere. Ein Brief auf Papier mit unterzeichneter Bestellung wurde an folgende Anschrift gesendet: M.v.L., Challions 7, 4968 Malmersby, Belgium. Es geht um ein dringendes Geschenk, das bis zum 10. August für einen Freund fertiggestellt sein muss. Sie erinnern sich vielleicht, es geht um jenen Freund, der seit einem Jahrzehnt im Wasser existiert. Da die Kreation unter der Wasseroberfläche lebender Singvögel nicht möglich ist, – ich habe Ihre Erläuterungen verstanden -, sehr wohl aber die Manufaktur eines Fischpärchens, das in Gestalt und Benehmen Singvögeln ähnlich sein könnte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für mich ein oder zwei Entwürfe zur Verwirklichung formulieren würden. Auch einen Käfig, der in Süßwasser längere Zeit überdauern könnte, habe ich vor, in Auftrag zu geben, schön wäre ein filigranes Gehäuse von dunklem Holz. In der Größe sollte das Pärchen vogelähnlicher Fische die Dimension der Zeisige nicht übertreffen, da die Wasserwohnung meines Freundes eher bescheiden ausgefallen ist. In der farblichen Ausführung wünsche ich weiche pastellfarbene Töne. Ein gewisses Leuchtvermögen von innen her wäre wundervoll. Könnte dies alles möglich sein, würden Sie mich sehr glücklich erleben. Der Gesang der kleinen Fische sollte fröhlich, nicht allzu laut, vor allem eben heiter sein. Ich erwarte Ihre Antwort dringend und verbleibe hochachtungsvoll mit freundlichen, dankbaren Grüßen. Ihr Mr. Louis
gesendet am
5.06.2012
2.58 MEZ
1551 zeichen
sommernachmittag
charlie : 6.24 — Einmal, vor ein oder zwei Jahren, saß ich einige Stunden lang an der Seite meines Vaters vor seinem Schreibtisch. Wir sahen Notizen durch, die er seit der Studienzeit auf Zetteln niederlegte. Da waren nun Zettel aus jüngerer Zeit gewesen und Zettel, die er bereits vor 10 oder 20 Jahren notierte, Adressen, Telefonnummern, Verzeichnisse, auch philosophische Bemerkungen, Formeln, Passwörter. Wir versuchten gemeinsam zu unterscheiden, was noch wichtig war und was vielleicht zur Seite gelegt werden konnte. Mein Vater kämpfte an diesem Tag des Sortierens um jeden einzelnen seiner Zettel. Wenn ich das Zimmer einmal kurz verlassen hatte, um Milch oder Tee zu holen, konnte ich vom Flur her sehen, wie sich seine rechte Hand bemühte, Zettel, die wir dem Verschwinden übereignet hatten, in die Abteilung UNVERZICHTBAR zurückzuholen, ein lustiges Spiel. Ich setzte mich bald zurück an den Tisch und wir taten beide so, als ob in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit nichts geschehen wäre. Draußen vor dem Fenster regnete es ohne Unterbrechung. Wir sprachen wenig. Immerzu bewegte ich mich zu schnell. Manchmal schlief mein Vater ein. Das war an einem Sommernachmittag gewesen. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 1546, Luftfahrt — 2101, Automobile — 62742 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 6, 19. Jahrhundert – 23, 20. Jahrhundert – 1055 , 21. Jahrhundert — 732 ], physical memories [ bespielt — 387, gelöscht : 5 ], Lichtfangmaschine [ Linhof Technika II : 1 ], Öle [ 0.2 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 23, Kniegelenke – 8, Hüftkugeln – 431, Brillen – 1186 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 354, Größen 38 — 45 : 1258 ], Kühlschränke [ 77 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 88 ], Engelszungen [ 124 ] — stop
fingerknospen
india : 6.32 — Meine Schreibmaschine ist ein merkwürdiges Ding. Sie ist flach und sie verfügt über einen Bildschirm und außerdem über einen lichtempfindlichen Sensor, der ins Innere meiner Schreibmaschine zu melden scheint, ob Tag ist oder Nacht, ob Helle oder Dunkel. Ich habe soeben eine Viertelstunde nach der Position dieses Sensors gesucht, zunächst mittels meiner Augen selbst, etwas später mit einer Lupe, je ohne eine beweiskräftige Spur aufnehmen zu können. Es ist Samstag. Ich mag das Wort Samstag gut leiden. Gerade fällt mir ein, dass ich bald ein weiteres Jahr gelebt haben werde, ohne einen Finger verloren oder um einen Finger zugenommen zu haben. Oft, so auch heute, habe ich mich gefragt, wie sich ein nachwachsender Finger zunächst bemerkbar machen würde? Würde sich neben einem bereits existierenden Finger eine Fingerknospe bilden, die nach und nach sich zu einem vollständigen Fingerglied erheben würde? Oder würde sich vielleicht einer meiner älteren Finger in seiner Mitte teilen? Das sind sehr interessante Fragen, die vielleicht ein wenig unheimlich zu sein scheinen. Vor wenigen Stunden, das geht mir nicht aus dem Kopf, habe ich am Flughafen mit einem jungen Mann gesprochen, der in einem Waschraum stand und eine sehr traurige Geschichte erzählte. Manchmal musste er weinen. Seine Augen röteten sich und er beugte sich rasch über das Waschbecken und begann sein Gesicht mit Wasser zu benetzen. Dann richtete er sich auf, erzählte weiter und weinte erneut, um sich wiederum über das Waschbecken zu beugen bis er so nass geworden war, dass er stehenblieb und erzählte und weinte zur gleichen Zeit, ohne sich noch verbergen zu wollen. — stop
falterherz
lima : 5.48 — Ich erinnere mich, im August des Jahres 2008 einen Strauß Fragen notiert zu haben. Ich wollte wissen, ob es Menschen möglich ist, einen alt und müde gewordenen Falter am offenen Herzen so lange zu operieren, bis er wieder fliegen kann? Wie also betäubt, wie beatmet man einen Falter? Mit welchen Materialien werden geöffnete Falterbrustkörbe günstigerweise wieder geschlossen? Ich habe auf diese Fragen bisher keine Antworten gefunden. Manchmal denke ich, dass das Sammeln seltener Fragen an sich ein großes Vergnügen bedeutet. Meine Fragen haben jedenfalls einen derart nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass ich keinen Falter, der seither nachts zu mir zu Besuch gekommen ist, betrachten konnte, ohne sofort an die Möglichkeit einer Notoperation zu denken. – Freitag. Regen. Kühle Luft. — stop
atem
tango : 6.52 — In der vergangenen Nacht von 2 bis 3 Uhr habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las so lange ich konnte, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorn an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Dieses Mal las ich mit leiser Stimme, wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile à 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. – stop
pseudonym no 5
ulysses : 6.05 — Gestern war das Wetter schön, ich suchte spazierend im Park nach einem Namen für mein Pseudonym No 5. Sobald ich glaubte, einen geeigneten Namen gefunden zu haben, sagte ich ihn laut vor mich hin, ich sagte zum Beispiel: Felix Mayer Kekkola. Als Nachmittag geworden war, gefiel mir dieser Name noch immer, ich hatte Lilli M. Murphy bereits verworfen, auch Kaspar Joe Weidemann und weitere Namen waren gründlich vergessen. Ich notierte den gewählten Namen Felix Mayer Kekkola in mein Notizbuch und ging nach Hause. Es ist seltsam, ich war mit meinem neuen Namen an der Seite stark unruhig bis in den Abend hinein. Ich konnte mir diese Unruhe zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass ich nachsehen sollte, ob der Name Felix Mayer Kekkola vielleicht im Internet schon längere Zeit existiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der diesen Namen verwendet, um sich zu verbergen und zu veröffentlichen in ein und demselben Moment. Mehrfach prüfte ich mit Suchmaschinen die Existenz einer Spur. Kein Ergebnis für „Felix Mayer Kekkola“ war zu finden. Ich könnte nun also erstens annehmen, dass ein Mensch, der diesen Namen trägt, nicht existiert, was sicher nur sehr vorsichtig formuliert werden darf. Zweitens könnte ich jenen feinen Namen nun für mich besetzen, okkupieren sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, was in dieser Sekunde genau so geschieht, indem ich meinen Text in die digitale Sphäre sende. — stop
mumbai
karawane
delta : 0.02 — Auf dem Broadway wanderte eine Karawane menschlicher Träger südwärts. Ich folgte dieser merkwürdigen Erscheinung von der 30. bis zur 8. Straße an einem windigen Tag. Die Sonne leuchtete tief vom Hudson her, Staub war in der Luft, die Männer, die sich sehr langsam bewegten, husteten und niesten. Sie waren alle sehr ordentlich gekleidet, Anzüge von dunkelgrauer Farbe und Krawatten in unterschiedlicher Musterung. Außerdem trugen sie fingerbreite Schilder über ihren Herzen von japanischen Schriftzeichen besetzt. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, weil die Männer nicht miteinander sprachen. Sie bildeten eine linienförmige Einheit, einer der Träger führte diese Linie an, er war sozusagen ihr Kopf. Sobald dieser Mann nun eine Kreuzung erreichte, blieb er stehen und wartete, bis die Ampel der Kreuzung zunächst rot wurde und dann wieder grün. Ein Mann stand jetzt exakt hinter dem anderen, in dem sie sehr geschickt ihren Ballast auf ihren Köpfen balancierten, jeder Träger einen Karton. Indessen schien die Karawane der grauen Männer jenen Menschen, die mit oder gegen ihre Laufrichtung über die Straßen eilten, nicht besonders aufzufallen. Für einen Moment hatte ich die Idee, sie wären vielleicht unsichtbar, genauer, sie wären nur für mich sichtbar gewesen, reiner Unsinn natürlich, weil der Raum, den die Karawane auf Gehwegen und Straße eingenommen hatte, respektiert wurde. Etwa drei Kilometer liefen sie so ruckweise südwärts dahin, um dann in der 8. Straße in einem Backsteinhaus zu verschwinden. Ende der Geschichte einer Beobachtung. Es ist Montag. In den Kastanien vor dem Fenster das Summen der Nachtbienen. – stop