Aus der Wörtersammlung: arme

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ai : TUNESIEN

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 11. Mai 2024 stürm­ten Sicher­heits­kräf­te mas­kiert und in Zivil­klei­dung die Büros der Anwalts­kam­mer in Tunis und nah­men die Anwäl­tin Sonia Dah­ma­ni fest. Seit­dem ist sie will­kür­lich in Haft. Die Behör­den gehen mit fünf ver­schie­de­nen Straf­ver­fah­ren gegen sie vor, allein weil sie ihr Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung wahr­ge­nom­men hat. Sonia Dah­ma­ni wird der­zeit im Gefäng­nis von Manou­ba fest­ge­hal­ten, die Bedin­gun­gen sind grau­sam und unmensch­lich. Sie ist extre­mer Käl­te aus­ge­setzt und hat kei­nen Zugang zu grund­le­gen­den Din­gen wie sau­be­rer Klei­dung. / Die anhal­ten­de unge­recht­fer­tig­te Inhaf­tie­rung von Sonia Dah­ma­ni gibt Anlass zu gro­ßer Sor­ge. Sie ist allein des­we­gen im Gefäng­nis, weil sie von ihrem Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung Gebrauch mach­te. So kri­ti­sier­te sie die Haft­be­din­gun­gen in tune­si­schen Gefäng­nis­sen sowie die Miss­hand­lung von Flücht­lin­gen und Migrant*innen. / Nach­dem sie in Fern­seh- und Radio­sen­dun­gen regel­mä­ßig öffent­lich die Behör­den kri­ti­sier­te, haben die­se in fünf ver­schie­de­nen Fäl­len Ermitt­lun­gen gegen sie ein­ge­lei­tet. In zwei davon wur­de sie bereits schul­dig gespro­chen und zu einer Haft­stra­fe ver­ur­teilt. Am 6. Juli 2024 ver­ur­teil­te ein erst­in­stanz­li­ches Gericht in Tunis Sonia Dah­ma­ni wegen eines iro­ni­schen Kom­men­tars in einer Fern­seh­sen­dung zu einem Jahr Gefäng­nis. Im Rechts­mit­tel­ver­fah­ren wur­de die Haft­stra­fe auf acht Mona­te redu­ziert. Am 24. Okto­ber 2024 ver­ur­teil­te das­sel­be Gericht sie in einem ande­ren Fall zu einer zusätz­li­chen zwei­jäh­ri­gen Haft­stra­fe, weil sie auf ras­sis­ti­sche und dis­kri­mi­nie­ren­de Prak­ti­ken in Tune­si­en hin­ge­wie­sen hat­te. Bei­de Urtei­le basie­ren auf dem dra­ko­ni­schen Geset­zes­de­kret 54 über Cyber­kri­mi­na­li­tät. Gegen Sonia Dah­ma­ni sind drei wei­te­re Ver­fah­ren anhän­gig, die sich alle auf die Aus­übung ihres Rechts auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung bezie­hen. / Sonia Dah­ma­ni wird unter grau­sa­men und unmensch­li­chen Bedin­gun­gen fest­ge­hal­ten. Sie ist mit extre­men Tem­pe­ra­tur­schwan­kun­gen kon­fron­tiert, im Win­ter ist es in ihrer Zel­le wegen eines kaput­ten Fens­ters eis­kalt. Die Gefäng­nis­be­hör­den ver­wei­gern ihrer Fami­lie, ihr bei Besu­chen war­me Klei­dung oder Nah­rung mit­zu­brin­gen, was zu Unter­ernäh­rung und erheb­li­chem Gewichts­ver­lust führt. Sie hat in Haft mas­si­ve gesund­heit­li­che Pro­ble­me ent­wi­ckelt, dar­un­ter Dia­be­tes, Rücken­schmer­zen, geschwol­le­ne Bei­ne und Blut­hoch­druck. Sonia Dah­ma­ni wer­den außer­dem grund­le­gen­de Güter wie sau­be­re Klei­dung sowie eine ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und Medi­ka­men­te ver­wei­gert, wäh­rend sie von den Gefängniswärter*innen demü­ti­gend behan­delt wird. So wur­de sie bei­spiels­wei­se am 20. August 2024 vor ihrer Gerichts­ver­hand­lung einer ernied­ri­gen­den Lei­bes­vi­si­ta­ti­on unter­zo­gen, bei der sie sich nackt aus­zie­hen muss­te, was eine Ver­let­zung ihrer phy­si­schen und psy­chi­schen Inte­gri­tät dar­stellt. Sonia Dah­ma­ni teilt sich ihre Zel­le – und die nicht abge­trenn­te Toi­let­te – mit vier ande­ren Gefan­ge­nen, sie hat nur begrenzt Zugang zu hei­ßem Was­ser. Die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se sind mise­ra­bel, ihre Zel­le ist von Rat­ten und Unge­zie­fer befal­len.”> EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER

 

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heimsuchung

heimsuchung

tan­go : 20.01 UTC – Über dem Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment kreist seit drei Tagen ein krä­hen­ar­ti­ger Vogel, ohne je zu lan­den. Er scheint mit der kal­ten Win­ter­luft ein Gespräch zu füh­ren im Flug bei Tag und bei Nacht. Vogel­be­ob­ach­ter sind ein­ge­trof­fen. Sie sit­zen auf Bän­ken und Bal­ko­nen, ihre Fern­roh­re auf Sta­ti­ve gestellt und gegen den Him­mel aus­ge­rich­tet. Es ist des­halb, weil mit die­sem spre­chen­den und sin­gen­den Vogel mög­li­cher­wei­se etwas nicht stimmt. Seit der Vogel ein­ge­trof­fen ist, so wird erzählt, erschei­nen auf den Bild­schir­men loka­ler Fern­seh­ge­rä­te Film­auf­nah­men, die aus der Sicht die­ses Vogels auf­ge­nom­men wor­den sein könn­ten. Gleich­wohl sind Geräu­sche ver­zeich­net, sodass nun das Wei­nen von Kin­dern in den Pari­ser Häu­sern zu ver­neh­men ist, auch auf den Bild­schir­men der Hand­te­le­fo­ne sind Kin­der zu sehen, die in Zel­ten woh­nen ohne einen Fuß­bo­den, weil dort hin­durch der Schlamm, der von den Ber­gen kommt, tal­ab­wärts strömt. Die Kin­der sind krank, das kann man sehen, sobald man die erschro­cke­nen Augen öff­net. Auch die Eltern der Kin­der sind krank, sie tra­gen Pus­teln im Gesicht und auf den Armen und Bei­nen und auf ihren mage­ren Rücken. Vul­ka­ne wach­sen auf den Kör­pern der Men­schen und spei­en Eiter und Blut. Jener Vogel, der die­se Auf­nah­men in einer afri­ka­ni­schen Gegend mach­te, um sie per­sön­lich nach Euro­pa zu trans­por­tie­ren, war und ist noch immer ein gedul­di­ger Beob­ach­ter. Der Vogel flog lei­se in Boden­nä­he umher, ohne das Leid zu stö­ren, das sich ihm öff­ne­te, als wäre es eine dunk­le schmer­zen­de Blu­me. Kin­der fass­ten nach dem Vogel, deu­ten auf ihn, sie waren ohne Furcht. Und die Eltern der Kin­der erzähl­ten in einer fremd­ar­ti­gen Spra­che, wie es ist der­art krank und elend und bedroht zu sein. Ihre Ges­ten zu dem Auge des Vogels hin waren fle­hen­de Ges­ten. Seit Tagen nun kom­men die­se Bil­der in die Welt der Bild­schir­me und der Laut­spre­cher­an­la­gen bei Tag und bei Nacht am Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment. Nie­mand kann sagen, war­um das so ist und wie lan­ge die Heim­su­chung noch dau­ern wird. Viel­leicht, so eine Ver­mu­tung, wer­den wei­te­re Vögel kom­men, wei­te­re Bil­der, Fil­me, Geräu­sche. Eine Per­son soll auf einer Kanal­brü­cke ste­hend laut­stark gefor­dert haben, den Vogel end­lich vom Him­mel zu holen. Ein­mal waren Schüs­se zu hören. — stop

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krieg von oben

von drohnen

marim­ba : 22.28 UTC – Es war ein­mal an einem frü­hen Abend. Land­krieg von oben aus gro­ßer Höhe. Noch war­mes, mil­des Licht der tief über dem Hori­zont ste­hen­den Son­ne. In die­sem Licht segeln Dro­hen weit unter uns laut­los der Erde nah, wei­ße Rotor­we­sen vor und zurück, tas­ten sich her­an, wie Luft­kat­zen an qual­men­de, gepan­zer­te Fahr­zeu­ge. Der Rauch bren­nen­der Öle, bren­nen­der Kör­per, weit­hin sicht­bar. Flach über den Step­pen­bo­den flie­gen Geschos­se von irgend­wo­her, zeich­nen Spu­ren in der damp­fen­den Luft. Men­schen­fi­gu­ren eilen aus ver­seng­ten Fahr­zeu­gen, suchen Zuflucht im Unter­holz der schma­len Baum­strei­fen, die die ukrai­ni­sche Step­pe durch­zie­hen. Zu schwar­zen Gestal­ten nun in der Schnee­land­schaft der Wär­me­bild­ka­me­ra gewor­den, Gestal­ten, die nicht unsicht­bar wer­den, sosehr sie auch wün­schen, nie wie­der sicht­bar zu sein. Droh­nen, wei­te­re Vögel, nähern sich. Wei­ße flie­gen­de Spin­nen erkun­den, ob noch Leben im bren­nen­den Pan­zer zu fin­den ist, luren in die Schat­ten der metal­le­nen Höh­len. Das sind tat­säch­lich Bewe­gun­gen jagen­der Kat­zen. Aus der Hel­lig­keit glei­ßen­den Feu­ers bewegt sich die Gestalt eines flüch­ten­den Men­schen her­vor. Der flüch­ten­de Mensch zieht ein Bein hin­ter sich her, das Bein scheint ver­lo­ren. Der Mensch fällt, als er auch das zwei­te Bein für immer ver­liert. Liegt ganz still im Gras. Ein Droh­nen­vo­gel schwebt über ihm. Der Vogel war­tet. — stop

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in louisiana

in louisiana

ulys­ses : 22.22 UTC — In Loui­sia­na, dort, wo Moo­se, wie Bär­te grü­nen Was­sers, von den Ästen der Bäu­me hän­gen, sit­zen elf älte­re Frau­en um einen Tisch her­um. Sie lachen, sie schrei­ben, sie trin­ken Sekt und ande­re Din­ge.  Von die­sen fröh­li­chen Frau­en, die ich ger­ne dank­bar umar­men wür­de, erzähl­te das Radio am gest­ri­gen Abend, wie sie fröh­lich Post­kar­ten von Hand beschrif­ten. Eini­ge Hun­der­te Schrift­stü­cke gemein­sam. Eine Ver­schwö­rung. Der inne­re Feind („The ene­my from within“. Donald J. T.) in Loui­sia­na am hell­lich­ten Tag. Schrift­zei­chen, mit Füll­fe­der­hal­tern aufs Papier gesetzt, Tin­te, nicht Dru­cker­far­be, jede Post­kar­te ein Doku­ment von Mensch zu Mensch: »Vote!“. Die­se wun­der­ba­ren Bot­schaf­ten wer­den nun also bald nach Nor­den, nach Michi­gan, rei­sen. Davon erzähl­te das Radio ges­tern am Abend, es war noch frü­her Nach­mit­tag in Loui­sia­na, dort, wo Moo­se, wie Bär­te grü­nen Was­sers, von den Ästen der Bäu­me hän­gen. — stop

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von den papierwörtern

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nord­pol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gera­de zur Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol durch rus­si­sche Streit­kräf­te im März 2022, Besuch eines Sil­ber­fisch­chens. Bei schwa­chem Licht husch­te das selt­sam wun­der­ba­re Wesen über mei­nen Küchen­tisch. Unter einer Hand­lu­pe fei­ne, unheim­li­che Struk­tu­ren. Anten­nen such­ten in der Luft her­um. Ich war ver­mut­lich ein Schat­ten in sei­nen Augen. Was viel­leicht haben sei­ne Anten­nen von mei­ner Per­son wahr­ge­nom­men? Mor­gens dann bei­na­he sicher, dass das Sil­ber­fisch­chen ver­mut­lich ein Papier­fi­schen gewe­sen war, eines dem­zu­fol­ge, das sich gern von Papie­ren ernährt, dem­zu­fol­ge gleich­wohl Papier­wör­ter ver­zehrt, ver­letz­li­che Wesen. In die­ser Hin­sicht, in der Nähe einer Popu­la­ti­on der Papier­fisch­chen, sind Papier­wör­ter von digi­ta­len oder elek­tri­schen Wör­tern gut zu unter­schei­den. — stop

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in der straßenbahn

9

nord­pol : 10.08 UTC — Heu­te ist etwas Selt­sa­mes gesche­hen. Ein Mann set­ze sich in der Stra­ßen­bahn in mei­ner Nähe an ein Fens­ter. Er öff­ne­te eine Zei­tung von Papier. In die­sem Augen­blick bemerk­te ich, dass ich sehr lan­ge, sagen wir eine unbe­stimm­te Zeit, kei­nen Men­schen gese­hen habe, der im Zug oder in einer Stra­ßen­bahn fah­rend eine papie­re­ne Zei­tung las. Inter­es­sant ist, wie viel Raum ein der­art lesen­der Mensch ein­zu­neh­men ver­mag. Im Moment des Blät­terns oder einer kom­plet­ten Wen­de des rascheln­den Nach­rich­ten­kör­pers wer­den bei­de Arme weit in ent­ge­gen­ge­setz­te Him­mels­rich­tun­gen aus­ge­streckt, wie man das als Ges­te mensch­li­cher Begrü­ßung in ande­ren Zusam­men­hän­gen beob­ach­ten kann. Der Mann, den ich in der Hand­ha­bung sei­ner Zei­tung beob­ach­te­te, bemerk­te mei­nen auf­merk­sa­men Blick. Er frag­te, ob er mir hel­fen kön­ne. Ich sag­te, ich wür­de über sei­nen Anblick freu­en, weil er mich an eine längst ver­lo­ren geglaub­te Zeit erin­ner­te. Damals, also vor lan­ger Zeit, erzähl­te ich, wür­de ich in U‑Bahnen rei­send immer wie­der den Ein­druck gehabt haben, Men­schen wür­den mit­tels ihrer rascheln­den Zei­tun­gen zuein­an­der spre­chen. Eine Wei­le sei Ruhe, aber dann blät­ter­te jemand eine Sei­te um, und schon knis­ter­te der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he in einer ner­vö­sen Art und Wei­se wei­ter. In die­sen Momen­ten glaub­te ich, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal hat­te ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von stoff­ar­ti­ger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, eine eigen­tüm­li­che Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, einen Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich wür­de mich irren,
sag­te das Mäd­chen zu meiner
Über­set­ze­rin in Tash­kent. Sie
tra­ge kei­nen Regenschirm
viel­mehr einen Sonnenschirm
mit sich.

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sekundenzeit

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sier­ra : 22.01 UTC — Über­fall­ar­ti­ge Wesen. Twit­ter­welt­tex­te. Der­art kurz, dass sie unver­züg­lich vom lesen­den Gedan­ken erfasst sind. Wie viel Zeit, wie viel Ener­gie ist kurz drauf not­wen­dig, das Resul­tat eines Über­falls abzu­schüt­teln, dem­zu­fol­ge zu ver­ges­sen, was nicht gewusst wer­den will. — Das Radio berich­tet von Schwei­ne­far­men, die in Chi­na exis­tie­ren sol­len, voll­au­to­ma­tisch, 20 Stock­wer­ke hoch, 1,2 Mil­lio­nen Stück­tie­re Jahr ein Jahr aus. — stop
ping

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zerzaust

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zou­lou : 12.28 UTC — L. erzäh­le vor lan­ger Zeit, sie habe ein­mal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zei­tun­gen. Trotz­dem sei die­se Frau, deren Namen sie nicht in Erin­ne­rung habe, Wör­tern sehr eng ver­bun­den gewe­sen, da sie pau­sen­los Wör­ter notier­te. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bän­ken sit­zend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie ver­las­sen haben soll. Sie schrieb an einem ein­zi­gen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer wei­te­ren Vari­an­te mit sich führ­te, im Grun­de an einem Buch einer­seits, das sie bereits auf­ge­schrie­ben hat­te, und einem Buch ande­rer­seits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrie­ben wor­den war, wie­der­hol­te, aber natür­lich nicht, ohne das Buch im Pro­zess des Abschrei­bens zu ergän­zen. Jede Ergän­zung wur­de sorg­fäl­tig über­legt, manch­mal wur­den Wör­ter ersetzt, gan­ze Sät­ze oder ein Gedan­ke hin­zu­ge­fügt, sel­ten eine Pas­sa­ge gestri­chen. In die­ser Wei­se ver­än­der­te sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wur­de lang­sam schwe­rer. Immer dann, wenn ein Buch abge­schrie­ben wor­den war, ver­schwand das abge­schrie­be­ne Buch. Und wie­der­um begann die Frau eine wei­te­re Kopie anzu­fer­ti­gen, die sich im Pro­zess der Ver­dopp­lung schein­bar nur unwe­sent­lich von ihrem Ori­gi­nal unter­schei­den wür­de. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spa­zie­ren und war stets sorg­fäl­tig geklei­det. Sie soll schon ein wenig wild aus­ge­se­hen haben, irgend­wie zer­saust, aber glück­lich, sagen wir, zer­zaust und immer beschäf­tigt und irgend­wie fröh­lich. Sie notier­te zier­li­che, äußerst exak­te Zei­chen. — Das Radio erzählt von einer Repor­te­rin der Besat­zungs­ar­mee, sie habe Men­schen, wel­che vor Last­kraft­wa­gen war­te­ten, um Brot zu erhal­ten, gera­ten, dank­bar zu sein. — stop

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lichtbild

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gink­go : 0.24 UTC — Man möch­te nach lan­ger Zeit noch immer glau­ben, die fol­gen­de Bege­ben­heit könn­te rei­ne Erfin­dung gewe­sen sein, weil in unse­rer Zeit kaum vor­stell­bar ist, was ich in weni­gen Sät­ze erzäh­le. Ich hat­te mein Fern­seh­ge­rät beob­ach­tet, dort waren auf dem Bild­schirm Men­schen zu erken­nen, die auf Wagon­dä­chern eines Güter­zu­ges von Mit­tel­ame­ri­ka aus durch Mexi­ko nach Nord­ame­ri­ka reis­ten. Eine gefähr­li­che Fahrt, jun­ge Män­ner, aber auch jun­ge Frau­en, immer wie­der, so erzählt man, wur­den sie beraubt oder fie­len auf die Gelei­se und wür­den vom Zug über­rollt oder von Blit­zen hef­ti­ger Gewit­ter getrof­fen. Lang waren die Über­le­ben­den bereits unter­wegs gewe­sen, hat­ten nach eini­ger Zeit kaum noch zu essen oder zu trin­ken. Hun­ger und Durst wür­den sie ganz sicher gezwun­gen haben, vom Zug zu sprin­gen, wenn da nicht Men­schen gewe­sen wären, arme Men­schen, die ent­lang der Zug­stre­cke stan­den, um den Zug­rei­sen­den Was­ser und Nah­rungs­mit­tel in Tüten zuzu­wer­fen. Eine Frau, Maria, erzähl­te, sie und ihre Fami­lie wür­den immer wie­der hier­her­kom­men zu den Zügen mit ihren Bro­ten, dabei hät­ten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Weni­ge wür­den sie ger­ne tei­len, immer­zu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unter­neh­men, um den Flüch­ten­den zu hel­fen. Bald ver­schwand sie aus dem Bild, trat in den dich­ten Wald zurück, auch der Zug ent­fern­te sich lang­sam. — Eine wei­te­re Frau, so erzählt das Radio, habe sich an die Bela­ge­rung der Stadt Lenin­grad erin­nert gefühlt nach wochen­lan­ger Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol, die sie erleb­te. Ich war damals noch ein Kind, sag­te sie, und jetzt bin ich alt. — stop

ping

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in den wolken spazieren

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echo : 11.28 UTC — Das war schon selt­sam, wie die alte Dame zum ers­ten Mal in ihrem Leben vor­sich­tig hin­ter einem Leicht­ge­wicht­roll­a­tor spa­zier­te. Sie trug Leder­hand­schu­he, ver­mut­lich weil sie zur Maschi­ne, die hel­fen soll, ihren Gang zu sta­bi­li­sie­ren, einen gewis­sen stoff­li­chen Abstand ein­zu­hal­ten wünsch­te. Sie schien sich zu fürch­ten, ernst schau­te sie gegen den Boden. Mög­li­cher­wei­se fürch­te­te sie, mit den Räd­chen und Gestän­gen aus Car­bon in ihrer nächs­ten Nähe ver­wach­sen zu müs­sen. Gern wür­de sie wei­ter­hin auf ihren eige­nen Bei­nen allein, die sie schon so lan­ge Zeit kann­te, Schritt für Schritt Wege bestrei­ten, die ihr ver­traut waren, das Laub der Buchen, der Kas­ta­ni­en auf der Stra­ße, wie schön, ein Tep­pich, Schne­cken da und dort, die sich herbst­lich lang­sam fort­be­weg­ten schein­bar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Mor­gen, Wol­ken berühr­ten den Boden, auf den die alte Dame weni­ge Tage zuvor noch gestürzt war, ein­fach so, ohne einen Grund und ohne wie­der auf­ste­hen zu kön­nen, uner­hört, so ein Schla­mas­sel. Hun­dert Meter weit war sie nun schon gelau­fen, da ent­deck­te sie eine Klin­gel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anhe­ben und für eine Wei­le in der Luft fest­hal­ten konn­te. Ja, Kraft in den Armen, aber die Bei­ne, waren unsi­cher gewor­den, viel­leicht des­halb, weil sie hin­ter die­ser Maschi­ne her­lau­fen muss­te. Für einen Moment blieb die alte Dame ste­hen. Es wur­de ganz still. Sie beug­te sich zur Klin­gel her­ab, und schon war ein hel­les Geräusch zu hören, ein ange­neh­mes Geräusch, zwei­fach war das Geräusch zu hören gewe­sen. — Das Fern­se­hen erzählt, in der Stadt Mariu­pol war kein Radio zu ver­neh­men, gewe­sen in der Zeit der Blo­cka­de, nur das Radio der Pro­pa­gan­da von Osten her, und das Radio der mensch­li­chen Stim­men in den Kel­lern und auf den Stra­ßen. — stop



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