marimba : 22.16 — Dampfende Stadt. Dampf aus dem Boden, Dampf von den Wolken, Bäume dampfen, Menschen unter ihren Schirmen, selbst Eichhörnchen des Central Parks dampfen kleine Wolken aus dem Mund. Wie ich so gehe von Harlem aus nach Süden, von jedem Ticketschalter her eine schwarze Stimme von Jazz. Das ratternde Geräusch der Subway, rhythmisch, ihr warmer, öliger Atem, der dem Spazierenden unter den Regenschirm fährt. — Ein Mann zur Mittagsstunde nahe Madison Square Park mitten auf dem Broadway im tosenden Verkehr. Er trägt einen feinen, dunklen Anzug, aber grobe, staubige Schuhe. Immer wieder beugt er sich zur Straße hin, versenkt einen Zollstock in den Asphalt, telefoniert, die Arme, als sei ihm kalt, eng an den Körper gepresst. Der Mann scheint wütend zu sein. Er geht ein paar Schritte südwärts, vermisst ein weiteres Loch, Rauch steigt von dort, ein flatternder Faden. Als ob sich der Mann vergessen haben würde, nun zunächst in die Hocke, dann kniet er nieder, späht in den Schlund. — stop
Aus der Wörtersammlung: arme
holly — juli 26
ginkgo : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klappstuhl nahe der Busstation Port Authority in einem Subwaytunnel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann vollzieht auf einer Hammondorgel Ohrenwurmmelodien ohne Pause. Weißes Haar, gelblich schimmernd, grauer Anzug, blaues Hemd. Dürr springen seine Hände über die Tastatur, auf dem spiegelnden Rücken des Instrumentes tanzt eine elektrische Jazzfigur im schwarzen Anzug. Die kleine Personenmaschine scheint defekt zu sein, hält immer wieder einmal an, bebt ein wenig nach, federt, fordert einen weckenden Stoß unverzüglich. Unweit, auf dem Boden, eine weitere Puppe, rotes Haar, lebensnah, durchblutet, ein Bonsaimädchen, dem zwei Finger der rechten Hand verloren sind. Geschmeidige Bewegungen der hellen Arme in jede Himmelsrichtung, grazil, leicht und rhythmisch, als verfügte sie über wirkliche Ohren ihres hochbetagten Freundes, dessen Kopf von wandernden Wirbelknochen tief über die Tastatur gezwungen wird. Jede Bewegung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußerste schmerzhaft zu sein. Für Sekunden sind Augen eines jungen Menschen zu sehen, seltsam helle Augen. Eine elegant gekleidete Frau kniet vor dem Klappstuhl auf dem Boden. Sie betrachtet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht. — stop
marina abramovic
alpha : 0.02 — Guten Morgen, heute ist Freitag. Ich habe mir für diesen Tag vorgenommen, langsam zu gehen, langsam zu atmen, langsam zu schreiben. Ich werde langsam lesen und langsam sprechen, und denken werde ich so langsam wie nie zuvor. Die Empfindung der Zeit zur Geschmeidigkeit zu überreden, ja, das ist vorstellbar, weiche, warme Stunden. — stop
avenue of the americas
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : AVENUE OF THE AMERICAS
Ich muss Euch nicht erzählen, wo ich mich gerade befinde, liebe Violet, liebe Daisy, ich höre Euere Stimmen, hör, wie Ihr scherzt, was macht er nun schon wieder, warum ist er eingeschlafen, das muss ein betäubendes Buch gewesen sein. Jetzt also bin ich wach geworden. Ich notiere diese Sätze in dem Wissen, dass Ihr lesen werdet, Zeichen für Zeichen, wie in diesem Augenblick erscheint, was ich schreibe. Das Notieren ist so etwas wie das Sichtbarmachen des Denkens, nicht wahr, so könnten wir das vielleicht sagen. > …
… > Spazierte in Euerer Angelegenheit, wie versprochen, durch Manhattan. Ich hatte meinen kleinen Fotoapparat in der Hand, stand mitten auf der Avenue of the Americas, um das neue Hippodrom-Gebäude abzulichten. Auch das wisst Ihr natürlich, wie wir dann Richtung Bryant Park spazierten, unser Gespräch über geheime Tentakeln der Bäume, die den Lärm der Stadt aus der Luft zu fangen scheinen. Und mein Begehren, gewiss, ein Eichhörnchen zu fangen, das warme Licht des hupenden Abends, meine Überlegung, wie ich Euch eines Tages einmal persönlich begegnen könnte, und mein Versprechen, ein weiteres Euerer Jugendbilder zu senden. Was Euch nicht bekannt sein wird, weil ich’s nur dachte, ich hatte in all den gemeinsamen Stunden eine verwegene Frage in meinem neugierigen Kopf. Nun, es ist kurz nach Mitternacht, werde ich diese Frage für Euch buchstabieren, unsicher ein wenig, was geschehen wird, ob ich Euch nicht zu Nahe komme, sodass Ihr aus meinen Augen verschwinden werdet. Gebt gut acht! Es ist nämlich so, dass ich mich frage, wie auch immer die Räume beschaffen sind, die für Euch ausgedacht, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht eine gute Nacht!
gesendet am
18.05.2010
0.05 MESZ
1775 zeichen
jonglieren
romeo : 0.25 — Stand in einer Schlange wartender Menschen, machte Rechenübungen im Kopf. Nach fünf oder zehn Minuten konzentrierter Arbeit war ich dann so weit gekommen, einzusehen, dass jene Zahlengrößen, die ich jonglierte, mein Denkvermögen deutlich überforderten. Rechnete bald in meinem Notizbuch notierend, mit Bleistiftzahlen weiter voran: Erstens / Ein Papiertierchen, sobald es seine Arme streckt, misst 0,087 mm von Ost nach West. Zweitens / 2413 Papiertierchen säumen den Rand eines beschreibbaren lebenden Papiers an seiner schmalen Seite, 3218 Papiertierchen desselben Papiers an seiner längeren Seite. Drittens / 7765034 Papiertierchen sind Teile einer Struktur, der ich einen Namen zu geben habe. — Wunderbare, frühe Nacht. Ein großer Frieden in angenehmer Spannung. Alle sind sie jetzt da, sitzen an meinen Zimmerwänden und rühren sich nicht. — Guten Morgen!
schneekamille
nordpol : 0.02 — Deine schneeweiße Hand, die an einem Sommernachmittag auf meinem Unterarm liegt. Wir wandern durch einen Wald. Klein bist Du geworden und leicht, und ich gehe, Du führst mich, mit geschlossenen Augen neben Dir her. Und plötzlich bist Du nicht mehr da. Ich sehe Dich, unsicher Deine Schritte über das Moos. Und wie Du kniest vor den lichten Blumen unserer Wiese. Deine weinende Stimme. Dein Klagen ohne Worte. Dein Schreien gegen den Himmel. Dein Beben in meinen Armen. Und wie Du flüsterst: Ich will nicht sterben. - Dann ist Nacht wie an vielen Tagen Nacht geworden. Ich stehe im halben Dunkel Deines Zimmers, so still, so still, und lausche nach Deinem Atem, sitze und lese und schau Dich an. Deine lächelnden Augen im Schlaf, der süße Himbeerduft des Morphiums, das Schnurren der Sauerstoffmaschine, Dein Seufzen, und wie Du wach geworden bist, Dein Blick für mich, wie Du mit Deinen tiefen Augen vom Wunder des Lebens erzählst. Nie wieder, erinnerst Du Dich, haben wir vom Tod gesprochen.
für marikki im himmel
bermuda
alpha : 0.03 — Ob es wohl möglich ist, ein Blatt Papier, das aus Millionen sehr kleiner Lebewesen bestehen wird, mit einer Schere, sagen wir, in zwei Teile zu zerlegen? Was sollte geschehen? Würden meine papierenen Tiere Geräusche erzeugen, die Widerspruch signalisieren, Empörung, Furcht? Oder würden sie weichen, sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, eine blitzschnell sich vollziehende Bewegung der Entropie? – Sonntag. stop. Warme, geschmeidige Stunden. stop. Hell vom Schnee, die Luft.
blattlicht
lima : 0.01 — Und schon ist wieder März geworden. Warme Luft pfeift übers Dach, und Blätter, Blätter von Sonnenlicht, sie schaukeln vor dem Fenster. So fein sind sie gewirkt, dass nichts sie zu berühren vermag als meine Gedanken. Höchste Zeit von kleinsten Wesen zu erzählen, wie man sie findet, da sie doch unsichtbar sind, und wie man mit ihnen sprechen oder reisen oder gemeinsam warten könnte, sobald man ihnen begegnet sein wird. — Papierene Herzen. — stop
auf dem viktualienmarkt
olimambo : 2.10 — Ein Eichhörnchen am Nachmittag, wie es durch den warmen Schnee springt. Immer wieder hält das Tierchen an, dreht sich nach mir um, betrachtet mich, als ob es meine Gedanken ahnen würde. Einmal sage ich leise zu ihm hin: Fürchte Dich nicht! Ich jage nur mit dem Kopf. – Das war auf dem Münchener Viktualienmarkt gewesen vor wenigen Stunden. Die Tage nun länger, bald wird Frühling und Menschen und das Bier und der Kaffee werden in Strömen fließen. Wieder, wie so oft schon, wenn ich von Bude zu Bude laufe und meine Nase in den Gewürzwind stecke, schau ich nach dem Achternbusch, Herbert. Würd’ gern einmal ein paar Worte mit ihm wechseln. Gestern war von ihm nichts zu sehen gewesen, weshalb ich ganz einfach an ihn gedacht habe, an eine Filmsequenz, deren Besichtigung mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Herbert Achternbusch in einem Tierhaus des zoologischen Gartens Hellabrunn. Er steht unter einem Faultier, das unbeweglich, und zwar sehr lange Zeit, an einem Ast hängt. Der Dichter bewundert die Klauen des Tieres und auch die Natur, was sie so macht. Kurz zwinkert das Faultier mit den Augen. Und Achternbusch ruft: Ja, da schau her, du bist ja ein Scheinschlaftier! – Guten Morgen, gute Nacht! — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop