delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
Aus der Wörtersammlung: art
yanuk : frogs
~ : yanuk le
to : louis
subject : LIGHT
date : july 12 08 6.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, ich schreib Dir noch rasch, bevor die Dunkelheit wie ein nasses Tuch vom Himmel fallen wird. Ist Dir bekannt, dass ich seit bald zweihundert Tagen auf Baum No 728XZ sitze, ohne einmal den Erdboden berührt zu haben? Viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen damit verbracht, mein Zelt gegen das Licht der Sonne abzudichten. Werde fortan versuchen, am Tag zu schlafen und nachts meinen Forschungsarbeiten nachzugehen. Bin zufrieden, habe viele neue Wesen entdeckt, aber die Hitze setzt mir zu, und das Licht scheint doch eine Flüssigkeit zu sein, die durch den kleinsten Spalt fließen und mein Zelt auszufüllen vermag. Vielleicht ist das Licht deshalb nicht auszuschalten, weil ich weiß, dass es dort draußen, vor meinem Zelt unter dem Mantel von Blättern, hell ist, oder weil Licht in meinem Kopf brennt, das ich nicht zu Ende denken kann. Und doch, mein lieber Louis, bin ich glücklich. Dank Dir herzlich für den feinen Simmons Text. Das erste Buch, das ich per E‑Mail erhalten habe. Ich bin natürlich bislang nicht sehr geübt im Lesen vor Bildschirmen und die Falter setzen mir zu. Sie haben die Größe meiner Hände, sind staubig und zu schwer für die Zungen der Frösche, die in meiner Nähe sitzen und warten, dass ich mit meinen Selbstgesprächen beginnen werde. Manchmal habe ich das Gefühl, bereits seltsam geworden zu sein. Vielleicht bin ich ein erfundenes Geschöpf? Wirst Du schreiben, sobald Du etwas Verrücktheit bei mir findest? – 6.12 p.m. 32 °C. 97 Prozent Luftfeuchte. Position 1°38’S 61°42’W — Yanuk
eingefangen
22.05 UTC
1538 Zeichen
tonbandstimmen
echo : 5.15 — Vier Abendstunden mit Tonbandmaschine im Palmengarten gearbeitet. Folgte Stimmen junger Menschen, die von einer Zeit erzählen, die sie im anatomischen Präpariersaal verbrachten. Manchmal spule ich das Tonband zurück, notiere mit der Schreibmaschine Wort für Wort, um sie in einen größeren Textkörper zu transportieren. Da ist Mel, zum Beispiel, ihre hellsichtigen Gedanken zur Lunge. Als ich an den Tisch komme, um ihr meine Fragen zu überreichen, legt sie gerade Bronchien frei. Sie sagt, ich solle doch rasch fühlen, wie weich das Gewebe der Lunge sei und wie erstaunlich leicht. Während sie eine halbe Stunde zu mir spricht, verknüpft sie kunstvoll einen Handschuh mit einem weiteren Handschuh, ohne den Blick auch nur einmal von meinem Mikrofon zu heben. Etwas später wird sie sagen, dass ihr mein Mikrofon wie ein kleines fliegendes Ohr vorgekommen sei. – Libellen. — In der Dämmerung noch Unschärfen der Luft. — stop
libellen
sierra : 3.22 — Heut Nacht sitz ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle eben, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
geraldine : limonade
~ : geraldine
to : louis
subject : LIMONADE
Lieber Mr. Louis, stellen Sie sich vor, heute habe ich einen Vogel gefüttert. Ich lag, wie jeden Tag seit wir New York verlassen haben, auf einer Liege an Deck und habe geschlafen. Als ich meine Augen öffnete, saß eine Möwe vor mir auf der Reling. Ich habe mich vorsichtig aufgesetzt und etwas Brot in die Luft geworfen und die Möwe hat das Brot gefangen und ist sofort weitergeflogen. Seit gestern haben wir viel Wind. Papa kommt immer wieder vorbei und schaut nach mir, aber es geht ihm nicht gut, ihm ist übel und auch Mama liegt im Bett, weil sie beide seekrank sind. Ich glaube, sie wissen jetzt, wie ich mich fühle, immerzu fühle. Sie sehen beide gar nicht gut aus. Mir aber scheinen die hohen Wellen nichts auszumachen, ich sitze oder liege und schaue auf das Meer und hoffe, dass die Sonne nicht untergehen wird, bis wir in Europa sein werden. Die Möwen sind still hier draußen. Vielleicht wird ihr Schreien vom Wind fortgetragen. Ein wirklich kräftiger und kühler Wind, und der junge Kellner, der Stewart, wie man hier sagt, muss sich gegen ihn stemmen, wenn er über das Deck zu mir kommt. Er kennt meinen Namen. Er sagt, Mrs. Geraldine, ich soll mich um Sie kümmern, wollen Sie eine Limonade. Ja, und immer will ich sofort eine Limonade. Sie ist blau, Mr. Louis, noch nie zuvor habe ich blaue Limonade getrunken, sehr süße blaue Limonade, die nach Lakritze schmeckt. Ich sehe gerne seinen Händen zu, wie er die Flasche für mich öffnet, weil ich doch kaum Kraft habe die Flasche selbst zu öffnen. Er hat mir gestern gesagt, Mr. Louis, dass ich schön sei, fast durchsichtig, und dass er sich sehr gerne mit mir unterhalten würde. Sein Blick ist traurig, ich kann nicht sagen, warum er so traurig ist, wenn er mich anschaut. Manchmal schlägt er die Augen nieder, wenn ich ihn ansehe. Ich habe mir gedacht, dass er vielleicht seine Gedanken vor mir verbergen möchte. Ich weiß jetzt, dass ich nicht schreien werde, wenn er mich bald einmal küssen wird. Ich bin so müde, Mr. Louis, ich bin 20 Jahre alt, aber ich bin unendlich müde. Höre auf zu schreiben für heute: Ich grüße Sie herzlich. Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 24.6.2008
22.15 MESZ
eisenbahn
nordpol : 15.02 — Als ich gestern Nachmittag mit einer Suchmaschine in Sammelordnern des Jahres 2003 nach Notiztexten forschte, die ich in den Tagen des Irakkrieges notiert haben könnte, entdeckte ich eine Passage, die von einem Loch in meinem Perserteppich erzählt. Ich konnte das Loch damals von meiner Position aus als Beobachter auf dem Sofa vor dem Fernsehbildschirm gut erkennen. Ich erinnere mich, dass ich mich wunderte, dieses Loch nun plötzlich zu betrachten, obwohl ich viele Jahre die Verletzung des Teppichs, eine Scharte von der Breite einer Hand, nicht wahrgenommen hatte. Ich glaube, ich hatte die Geschichte, die davon erzählt, wie das Loch in den Teppich gekommen war, ganz einfach vergessen. Aber dann war sie plötzlich gegenwärtig, weil ein amerikanischer Panzer während einer Liveaufnahme in Bagdad ein Hotel beschossen hatte, in dem sich Journalisten befanden. Die Granate des Panzers traf einen Balkon und auf diesem Balkon einen Kameramann, dessen Körper, der noch heftig blutete, mit dem Aufzug ins Foyer gefahren wurde. Eine Stimme auf dem Bildschirm kommentierte das Geschehen mit dem Satz, der Journalist habe sich im falschen Moment am falschen Ort befunden. Und da war nun jene Geschichte von einer Sekunde zur anderen Sekunde wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt, die Geschichte, die vom Loch in meinem Perserteppich erzählte. Ich saß auf dem Sofa und notierte, dass ich mich wundere, und ich betrachtete den Teppich und das Loch, das von dem Splitter einer britischen Granate im Jahr 1942 in das Gewebe gerissen worden war, und für einen Augenblick sah ich meinen Vater, ein Kind, wie er auf diesem Teppich, der sein Teppich gewesen war, spielte, vielleicht mit einer Eisenbahn aus Buntmetall, die er gerade noch rechtzeitig aufgehoben haben könnte und mitgenommen in den Luftschutzkeller. — stop
sonarhupen
tango : 0.52 — Abends seewärts im Palmengarten. Notierte das Wort Venenstern in die Maschine. Ein Falter setzte sich auf den beleuchteten Bildschirm und tastete mit seinen Fühlern nach den Zeichen des Wortes, vielleicht deshalb, weil das leuchtende Weiß des Bildschirmhintergrundes Luft, die Zeichen dagegen ein Etwas bedeuteten, einen Schatten, mit dem kommuniziert werden konnte. — Habe beobachtet, dass ich, wenn ich mit meinen Ohren nach Geräuschen suche, die nicht hörbar sind, meine Augen öffne so weit ich kann. — Einmal, für eine Stunde nur, über das Vermögen verfügen, den Sonarhupen der Abendsegler lauschen zu können.
italo calvino
romeo : Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
blutgefäss
romeo : 0.05 — Einmal, an einem heißen Sommerabend, habe ich eine Stadt durchwandert. Sie lag bereits unterm Nachtzeppelin, weshalb ich nicht sofort bemerkte, dass an der Innenseite meines linken Oberschenkels ein voluminöses Blutgefäß aus der Fassung gesprungen war. Der seltsame Eindruck, während ich spazierte, ein kleines Tier würde mich kosend berühren. Kurz darauf notierten Fahrgäste eines U‑Bahnwagons, ich würde, derart weit geöffnet, vielleicht bald ernsthaften Schaden erleiden. Und tatsächlich, da war ein Schlauch von dunkelblauem Gummi, der nahe meiner Leistengegend unruhig durch die Luft zappelte. Ich konnte seine Bewegung gut erkennen, weil ich, weiß der Himmel warum, insgesamt nicht bekleidet gewesen war. Eine ältere Dame, eine Ärztin, nahm dann Platz in meiner Nähe. Mit bloßen Händen erweiterte sie meinen Schenkel bis hin zum Knie, sodass weitere Schläuche aus dem Oberschenkel fielen, die sie sortierte, während sie gelassen eine Melodie vor sich hin summte. Da waren Strukturen, kein Blut, in gelber, in roter, in grüner, in blauer Farbe. Indem sie an einem der geschmeidigen Röhrchen zog, an einem filigranen Gefäß, nein, an einem hauchdünnen Seilzug, sandfarben, schloss sich das Linke meiner Augen gegen meinen Willen, und die Ärztin lachte und sagte, schau her, wie schön bunt Du doch bist. Wenn ich hier ein wenig ziehen werde, machst Du auch noch das rechte Auge zu. Dann wach. — Heute ist Sonntag, bald wieder Nacht. Geträumt habe ich bereits am Samstag. — stop
zebraspringspinne
echo : 0.50 — Kurz nach Mitternacht. Gerade eben entert meine Zebraspringspinne den Tisch. Eigentlich wollte ich rasch eine kleine Geschichte erzählen, von einem afrikanischen Mann, dem ich regelmäßig begegne morgens vor der Zentralstation, einem Mann, der immer wieder betrunken ist und immer wieder nur einen Schuh trägt und eine seltsame Sprache spricht, eine Mixtur aus französischen, englischen, deutschen und afrikanischen Wörtern. Aber jetzt sitzt die Spinne auf dem Tisch und der afrikanische Mann muss warten. Ich ahne bereits, wo meine Spinne wohnt. Wieder die Frage, ob diese Spinne dieselbe Spinne ist, mit der ich den vergangenen Sommer verbrachte? Wie groß wird die Spinne auf meinem Schreibtisch einmal werden, wie lange kann ich mit ihr noch befreundet sein? Ob sie sich der Gefahr bewusst ist, in der sie sich befindet? Was eigentlich frisst diese Spinne, die meine Spinne ist, solange sie nicht flieht? — Neun Uhr zwölf in Rangen, Burma. — stop