julliet : 17.03 — Traum von einem Fernreisewagon für Schwärme kleiner Engelpersonen. Dieser Fernreisewagon war ein Pullmanwagen gewesen, himmelblau. Sitze, Bänke, Kofferablagen waren vollständig entfernt, an den Wänden Pfeilzeichen, die die Fahrrichtung des Zuges definierten. Der Wagen fuhr langsam dahin. Kleinere, sehr fest gewirkte Dampfwolken flogen im Waggon genau in Reisegeschwindigkeit voran, sodass ich sie betrachten konnte aus nächster Nähe. Auch die Engel flogen präzise in der Geschwindigkeit des Zuges. Es waren einige Hundert Engel in der Größe von Kolibris. Ich glaube, sie führten Gespräche, während sie so flogen, mit ruhigen gleichmäßigen Bewegungen ihrer Flügel wie Schwäne. Ein Rauschen, hell, war in der Luft. Manche der kleinen Wesen trugen Fliegermützen. Einmal fiel Regen aus den Wolken im Zug. — stop
Aus der Wörtersammlung: blau
ameisengesellschaft ln — 788
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 788 [ lasius niger ] : Position 48°21’N 07°01’O : Folgende Objekte wurden von 18.00 — 18.55 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : sechs trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], achtzehn Baumstämme [ à 5 Gramm ], elf Raupen in Grün, zweiundzwanzig Raupen in Orange, zwei Insektenflügel [ vermutlich die eines Zitronenfalters ], drei Streichholzköpfe [ à 2 Gramm ], vier Fliegen der Gattung Calliphoridae in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 100 Gramm ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], drei gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 1162 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht Rüsselkäfer [ blautürkise ], die Aaskugel eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, ein Modellflugzeugreifen [ Spaceshuttle Discovery ] 12 Gramm. — stop
nachtbienen
himalaya : 0.01 — Morgens höre ich wie das Radio angeschaltet wird unten im Wohnzimmer, unten in der Küche. Eine Stimme erzählt von Pablo Neruda. Die Stimme wird immer wieder von Musik unterbrochen, von feiner indianischer Musik. Das sind Geräusche wie früher, Geräusche in der Stille der vergangenen Tage, wohltuend, eine Verbindung zur Welt, die sich fortsetzt, unwirklich noch. Im Garten blühen Tulpen, rot, gelb, blau, orange. Man müsste einmal Blumen erfinden, die nachts ihre Blüten öffnen und leuchten, Nachtbienen, Nachtlibellen, Nachtwespen, Nachthummeln. — stop
indianer
~ : oe som
to : louis
subject : INDIANER
date : mar 30 12 9.28 a.m.
Gestern Abend, stürmische See, war Miller mit einer Schachtel Fotografien Noe’s vom Festland zurückgekehrt. Es dunkelte bereits, als er mit dem Segelschiff Esther Valdez zufrieden eintraf. Wir saßen dann die halbe Nacht an einem Tisch, um eine erste Fotografie unter drei Dutzend weiterer Fotografien Noe’s auszuwählen. Noe als Säugling auf einem Wickeltisch liegend. Noe in einer Badewanne mit einem Hütchen auf dem Kopf. Er war damals vier oder fünf Jahre alt gewesen und lachte in die Kamera. Noe zur Karnevalszeit, ein Indianer. Noe wie er ein kleines Mädchen küsst, das größer ist als er selbst. Ein Passbild in Farbe. Noe ist bereits weit über 20 Jahre alt gewesen, mit diesem Bild wollen wir beginnen, und so haben wir Noes Fotografie in Glas gepanzert. Miller machte sich dann nach etwas Schlaf höchstpersönlich auf den Weg abwärts. Er ist in diesem Moment auf Tiefe 250 Fuß angekommen, noch zwei Stunden und er wird Noe erreichen. Miller meldet, er könne Noe bereits erkennen, einen leuchtenden Punkt, sagt Miller, einen gleichmäßig blinkenden Punkt. Noe selbst scheint zufrieden zu sein. Er ist wach, wir hören seinen Atem. Noch vor wenigen Minuten versuchte er seinen Blick nach oben zu richten, aber seine Kräfte sind zu gering, um seinen schweren Anzug bewegen zu können. Er sei nicht mehr der Jüngste, sagte Noe. Er sehne sich nach einer Uhr, setzte er hinzu. — Das Meer ist heute ruhig. Ein sanft blauer Himmel über uns. Nichts an dieser Stelle deutet daraufhin, welch dramatische Geschichte sich unter uns in aller Stille ereignet. Ob Noe sich wieder erkennen wird? — Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
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30.03.2012
1632 zeichen
stand clear to the closing doors
sierra : 0.27 — War auf dem Weg südwärts in einem Subwayzug. Hatte mein Notizbuch in der Hand und notierte Wörter für Geräusche, die ich hörte. Heulen. Scheppern. Klirren. Zischen. Pfeifen. Bald waren alle nahe liegenden Möglichkeiten verzeichnet, und so fing ich an, Wörter zu erfinden, dschumm dschumm. Das war keine leichte Arbeit, vor allem das Notieren von Hand in dieser schwankenden Landschaft war kaum möglich gewesen, ich machte anstatt Wörtern Zeichnungen, die sich über eine ganze Seite meines Notizbuches erstreckten. Und plötzlich war da eine Stimme, eine besondere Stimme. Es war die Stimme einer Frau, die ich hörte. Sie reiste mit im Zug, verkündete die Namen der Stationen, die wir bald erreichen würden. Die Stimme kam aus einem Lautsprecher, der in die Decke des Waggons eingelassen war. Eine sanfte Stimme, eine Stimme, die ich vielleicht deshalb wahrgenommen hatte, weil man in ihr eine Spur von Anteilnahme vernehmen konnte, eine Freude zu sprechen, diese Wörter aufzusagen, Chambers Street. Ein Satz schien ihr besonders am Herzen zu liegen: Stand clear to the closing doors! Diesen Satz wiederholte sie beinahe zärtlich immer dann, wenn der Zug eine der Stationen wieder verlassen sollte. Es war wie eine Melodie. Ich hörte auf zu schreiben, und ich machte eine Tonaufnahme, beobachtete den Ausschlag des Zeigers auf meiner Maschine. Als wir eine halbe Stunde später die Endstation des Zuges erreichten, South Ferry, machte ich mich auf die Suche nach der Frau, der ich zugehört hatte. Es war eine kleine Frau, eine dunkelhäutige Frau mit weißem Haar, sie war sehr fein geschminkt, etwa 60 Jahre alt, sie unterhielt sich, als ich an ihr vorüberkam, mit einem Herrn, der wie sie selbst die blaue Uniform der New Yorker Verkehrsbetriebe trug. Sie schien sehr glücklich zu sein, voller Freude, eine leuchtende Person, dschumm dschumm. — stop
minutengeschichten
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : MINUTENGESCHICHTEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Grüß Euch ganz herzlich! Früher Morgen hier unten bei uns. How are you doing? Ich hatte, seltsame Sache, in der vergangenen Nacht das Gefühl, irgendjemand würde mir, während ich mit meinem Bleistift arbeitete, über die Schulter schauen. Mehrfach habe ich mich umgesehen, auch vorgegeben, rein gar niemanden bemerkt zu haben, und dann plötzlich, na, Ihr wisst schon, ich bin mir sicher, Ihr wart in meiner Nähe gewesen, wie noch vor wenigen Wochen, als ich unterwegs war in New York, da habe ich Euch leibhaftig gesehen nachts an Bord der John F. Kennedy – Fähre, wie ihr übers Salondeck huschtet, Gespenster, würde man vielleicht sagen, Geister, reizende Erscheinungen. Sagt, habt Ihr nun gelesen, was ich notierte? Jenen kleinen Text der Minutengeschichten, den ich so gern mit der Hand wiederhole in schweren Zeiten? Ich schick ihn Euch zur Sicherheit noch einmal mit, ja, ja, die Büchermenschen, das solltet Ihr wissen, das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden- und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. – Ahoi! Euer Louis — stop
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13.03.2012
06.05 MEZ
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ein zimmer
zoulou : 1.02 – Ich fahre eine Stundenzeit mit dem Aufzug aufwärts. Wo ich herauskomme, wachsen Aprikosenbäume aus den Wänden. Ein Flur, helles Licht, der Boden von Kirsche, Walnuss, Esche. Und Türen. Türen in Blau, Grün, Gelb und Rot. Durch eine der Türen hindurch: Was für ein hübscher Raum! Fenster mit Wolken. In der Mitte des Raumes kauert ein junger Mann auf dem Boden. Er scheint mich nicht zu sehen und nicht zu hören. Es ist so als wär ich abwesend. Ein kleines Netbook, ein Tier, das knistert, sitzt wie der Mann auf dem Boden. Lichtschlitten fahren pausenlos in seinem Gehäuse auf und ab. Da war ein Glas Milch und da war eine Schale von Hummerschwänzen. Weiter nichts. Aber Schatten doch auf dem Boden und an den Wänden, Schatten von Tischen, Stühlen, Bilderrahmen. Plötzlich gehe ich über eine Straße. Es ist die 8th Avenue. Ich weiß das. Ich weiß das noch immer. Es war Sonntag. Grad bin ich wach geworden. — stop
seltsame geschichte
india : 5.56 — Seit einigen Tagen ereignen sich in oder in der Umgebung meiner Schreibmaschine kuriose Dinge. Es geht darum, dass ein Text, den ich am Montag notierte, sich immer dann, wenn ich schlafe, verändert, und zwar zu seinem Nachteil. Fehlerhafte Wörter, die ich bereits korrigierte, kehren wieder oder ich entdecke vollständig neuartige Missbildungen, verdrehte Buchstaben, Worterfindungen, Punkte oder Kommata verschwinden, aus der Farbe ROT wird die Farbe BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kindern werden Greise. Es ist eine eigenartige Situation, ich gestehe, ich beginne mich zu fürchten. Selbstverständlich habe ich mir die Frage gestellt, ob sich vielleicht ein weiterer Mensch, den ich bislang nicht entdeckte, in meiner Wohnung befindet, oder ob ich vielleicht selbst schlafwandelnd mich an meine Schreibmaschine setze. In diesem Zusammenhang könnte die unheimlichste Aussicht der Gedanke sein, dass meine Schreibmaschine selbst oder gar der Text machen, was sie wollen. Von außen jedenfalls ist ihm nicht anzusehen, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte. Zur Prüfung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Garten war ein Teppich von Moos, auf dem immer irgendetwas blühte. Selbst in den kalten Monaten des Winters, wenn es schneite, wenn das Eis an die Küste schindelte, glaubte Zyp Wesley, die Geräusche des Wachsens und Vergehens zu hören aus dem unsichtbaren Raum unter dem Weiß. Er verfügte über ein hervorragendes Gehör, obwohl er seit Jahren Posaune spielte, wohnte deshalb etwas abseits. Das nächste Haus, indem eine Familie mit Kindern siedelte, war etwa zweihundert Meter weit entfernt, hinter einer Anhöhe passierten die Geleise der Staten Island Rail seine Gegend. Man konnte von dort das Scheppern der Subwayzüge leise hören bei Tag und bei Nacht. – stop
chelsea : ein stunde
echo : 0.28 — In der 22. Straße West existiert ein kleiner Laden für Lampions und andere papierene Lichtbehälter. Wenn man den Laden betritt, meint man sofort, sich selbst in einem Lampion zu befinden, weil Wände, wie sie in Häusern üblich sind, dort nicht zu existieren scheinen, nur Licht und eben Papiere in allen erdenklichen Formen. Ein Ort von Stille, die Luft duftet feinst nach der Wärme tausender Lampen, die im Inneren der Lampions stationieren. Menschen sind zunächst nicht zu sehen, weil sich jene Menschen, die zum Laden gehören, weder bewegen noch sich über Sprache äußern, vielleicht deshalb, weil sie in den Laden eintretende Menschen nicht stören wollen im Bestaunen leuchtender Krokodile, Schwertfische, Zeppeline. Es ist nun tatsächlich möglich, diese verborgenen Personen in Bewegung zu versetzen, in dem man sie bemerkt, sagen wir, mit einem Blick berührt. Genau in diesem Moment einer Berührung treten sie aus dem Licht heraus in den Raum, eine zierliche Frau und ein zierlicher Mann, sie werden vermutlich schon sehr lange Zeit verheiratet sein, so wie sie sich benehmen, glückliche, freundliche Menschen. Alle ihre Waren im Übrigen beschriften sie noch von Hand, zwei Monde von blauer Farbe zu je 1 Dollar 48 Cent. Im Schaufenster findet sich folgendes Schild: Täglich von Montag bis Sonntag 25 Stunden geöffnet. — stop
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop