nordpol : 15.12 UTC — Einmal beobachtete ich, wie mir ein schwarzes Kästchen gesammelter digitaler Information aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Eine Bewegung wie in Zeitlupe, eine Bewegung, ohne die Möglichkeit einzugreifen, da ich mich selbst in dem Fenster meiner Wahrnehmung wie in Zeitlupe bewegte. Ich hob das Kästchen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näherte, hörte ich ein seltsames, leises Ticken. Jene Schreib- und Lesemaschine, die in dem Kästchen geborgen war, war blind geworden. Kurz darauf kaufte ich ein weiteres Kästchen und dachte tagelang darüber nach, wie ich von nun Daten, Spuren, Zeichen, Verzeichnisse meiner Arbeit bewahren könnte. — Zwei Jahre vergehen. ‑Heute wanderte ich einige Stunden durch einen wilden Wald, ohne vermutlich irgendeine digitale Spur zu hinterlassen, nicht 1 Byte. Sehr merkwürdig. Noch zu tun: Lektüre Nicholson Baker Eine Schachtel Streichhölzer. — stop
Aus der Wörtersammlung: digital
anjuta
ulysses : 5.25 UTC — Es ist Montag, früher Morgen, und die Vögel pfeifen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschlafen, ich hatte einen lustigen Traum: In diesem Traum war ich versucht, Anton Tschechow einen Brief zu schreiben. Tatsächlich habe ich mich im Traum an meine Schreibmaschine gesetzt und notiert: Lieber Mr. Tschechow, gestern las ich eine traurige Geschichte, die Sie einmal aufgeschrieben haben. Sie erinnern sich vielleicht an Anjuta? Sie lebte in der Pension Lissabon mit einem Studenten der Medizin in einem schmutzigen Chaos. Eigentlich wollte ich nachlesen, wie Sie vom anatomischen Studium berichten, vom Lernen oder Pauken, eine Ärztin hatte mich auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht. Was mich dann sehr berührte, war das Mädchen Anjuta selbst, ihre Geduld oder Duldsamkeit, wie traurig, wie sie als menschlicher Gegenstand angesehen und behandelt wurde, eine gute Geschichte! Es ist noch etwas Weiteres geschehen, ich erinnerte mich im Traum einmal, vor einigen Jahren, Ihre gesammelten Erzählungen, Novellen, Theaterstücke, Essays in digitaler Spur aus dem Internet geladen zu haben, 19657 Positionen. Ich bemerkte damals, dass es tatsächlich möglich ist, für den Preis einer Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite – Lesegerät zu holen. James Joyces Ulysses kostet soviel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Ihre, Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum eine vollständige Kugel / Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Sehr beunruhigend, wie ich finde. Gleich werde ich aufwachen, ich werde einen Cappuccino trinken, und dann werde ich Ihnen diesen Brief, den ich träumte, notieren an einem frühen Morgen bald, wenn Montag sein wird bei leichtem Regen, und die Vögel pfeifen. — stop
vom suchen und finden
zoulou : 15.01 UTC — Das Suchen nach Gegenständen in Gärten, oder das Suchen nach Menschen in Wäldern oder Parklandschaften, wo sie sich freiwillig versteckten, Vergnügen, Freude, Glück, wie das Suchen nach Büchern oder Zitaten in Antiquariaten, die zum Zeitpunkt der Suche noch nicht digitalisiert worden waren. Einmal hörte ich eine Freundin an ihrem 85. Geburtstag, wie sie sich nach ihrer Brille erkundigte. Ich wusste genau, wo sich die Brille in dem Moment ihrer Frage aufgehalten hatte, aber meine alte Freundin schimpfte, während sie nach ihrer Brille suchte, so freundlich vor sich hin, und erzählte Geschichten, die sie entdeckte, obwohl sie doch nach ihrer Brille suchte, dass ich mir ein wenig Zeit ließ, um ihr zu sagen, wo sie ihre Brille sofort finden könnte. Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Wald durchsuchte, in dem ein weiterer, etwas kleinerer Wald enthalten war, ein Efeudschungel nämlich, es war ein feuchtwarmer Tag und die Luft duftete nach Löwenmäulchen. Anstatt der erwarteten Schneckengehäuse, fand ich eine Herde goldbrauner Frösche vor, die sich vermutlich über mein Erscheinen wunderten. Vor drei Tagen bemühte ich mich längere Zeit um die Erfindung einer Telefonnummer, die in der Stadt Chicago vorkommen könnte, aber garantiert nicht existiert. Und noch heute, vor drei Stunden, suchte ich nach einer größeren oder kleineren Stadt, in der folgende Adresse existiert: im Schnee 10. Obwohl ich zahlreiche, auch spezielle Suchmaschinen verwendete, war ich nicht erfolgreich gewesen. Ich sollte vielleicht sagen, dass manchmal wunderbar ist, nicht zu finden, was man sucht, es könnte dann reine Erfindung sein. — stop
licht
papa : 15.16 UTC — Es ist Sonntag. Auf dem Bildschirm einer Schreibmaschine ist die digitale Darstellung einer Druckfahne zu erkennen. Letzte Minuten einer letzten Stunde sind gekommen, da der Autor noch eine Korrektur seines Textes unternehmen könnte. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort durchstöbert er sein Werk. Wenn man nun die Fenster des Zimmers verdunkeln würde, könnte man bemerken, dass sich die Augen des Autors in zart leuchtende Lampen verwandelt haben. — stop
nach darjeeling
papa : 12.15 UTC — Ich habe zur Stunde eine Frage, die zu beantworten vermutlich nicht leicht sein wird. In wenigen Minuten werde ich nämlich für einen alten Freund eine Schreibmaschine erwerben, eine mechanische Reiseschreibmaschine des Typs Olympia Splendid 66 in roter Farbe, ein wunderschönes Stück aus dem Jahr 1959, ich würde sie im Grunde gern selbst besitzen. Mein Freund wird bald verreisen, ich nehme an, nicht ohne seine neue Schreibmaschine mit sich zu nehmen, eine Reise, die ihn durch Indien mit der Eisenbahn von Mumbai nach Darjeeling führen wird. Als ich meinen Freund Ludwig zum letzten Mal sah, arbeitete er auf einem Notebook schreibend in einem Café an einer Geschichte über Algorithmen liebevoller Selbstbefragung. Sein Notebook war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre alt, jene Orte des Gehäuses, da es Ton und Bildaufnahmen seiner nächsten Umgebung anfertigen konnte, waren mehrfach mit selbstklebendem Gewebe abgedeckt, sodass weder Ton noch Licht in die Schreibmaschine gelangen konnten, um von dort aus möglicherweise unbemerkt an einen geheimen Ort in der digitalen Sphäre gesendet zu werden. Ich will nicht sagen, dass Ludwig sich in irgendeiner Weise verfolgt fühlen würde, er erwähnte aber bei Gelegenheit, er könne schon seit langer Zeit nicht mehr dafür garantieren, dass seine elektronische Schreibmaschine, sein Notebook, sich tatsächlich loyal verhalten würde. Er wünschte sich, seine Zeichen wieder einmal unmittelbar auf Papier zu setzen, bedingungsloses Vertrauen haben zu können. Ich werde ihm seinen Wunsch erfüllen. Nun stellt sich, wie berichtet, die Frage, was hat mein Freund Ludwig auf den Papieren noch vor, wie lange Zeit bleibt ihm noch? Wie viele Farbbänder sollte ich für Ludwig in Sicherheit bringen? Sie sind rar geworden, sie werden verschwinden. — stop
html 5
nordpol : 18.28 UTC — Gestern war ein glücklicher Tag. L., der in Lissabon lebt, notierte, er werde mich in der Rettung Birdy’s aus unsicherer Flashumgebung unterstützen. Vor den himmelblauen digitalen Bildschirmreisekoffern meiner Erzählmaschine sitzend, plötzlich die Erinnerung an eine Fotografie Robert Doisneau’s, die Jacques Tati zeigt, wie er als Postbote in einem Zustand leiser Verwunderung hinter Teilen seines Dienstfahrrades steht, welches er vermutlich mit eigenen Händen zerlegte. Ich stelle fest: Die Differenzierung eines Gegenstandes in notwendige oder typische Portionen könnte bereits für sich genommen, als äußerst anspruchsvolle Aufgabe zu betrachten sein. — stop
jazz
delta : 22.08 UTC — Ich nehme an, es könnte sinnvoll sein, dass ich, sobald ich über Echokammern nachzudenken beginne, mich zunächst nach meinen eigenen Echokammern erkundige, digitalen wie analogen Räumen, wie sie beschaffen sind, wie lange ich bereits unter ihren Filterschirmen lebe, was sich einmal da und einmal dort finden lässt, was ich höre, sehe, lese, demzufolge bald Ermittlungen möglich werden könnten über alle jene Substanzen, die ich nicht sehe, nicht höre, nicht zu lesen vermag. Es ist kurz nach 10 Uhr abends: Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? / Daniil Charms — stop
marin
ginkgo : 15.05 UTC – Ein Botschafter soll kurz vor der Erstürmung seiner Dependance Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen haben, Dokumente, insbesondere papierene Dokumente, zu verbrennen oder mittels moderner Zerkleinerungsgeräte aus ihren natürlichen Zusammenhängen zu reißen. Nun ist gleichwohl denkbar, dass Menschen, deren Arbeiten ausschließlich als digitale Substanz gespeichert wurden, kurz vor einem drohenden dauerhaften Ausfall öffentlicher Stromversorgung, den starken Wunsch verspüren, ihre digitalen Dokumente auf Papier zu drucken, um sie in schweren Koffern mit sich auf eine Fluchtreise in die Wildnis nehmen zu können. Ich überlege ernsthaft, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, eine Mappe anzulegen, in welcher sich wirkliche Papiere befinden, Aufsätze, Briefe, Notizen, die in der Gegenwart nur lesbar sind, solange ich über elektrische Grundversorgung verfüge. — Das wundervolle marineblaue Licht des Schnees in der Dämmerung. — stop
namen
delta : 1.05 — Vor einigen Wochen hatte ich einen Luftpostbrief an Mr. Sini Shapiro nach Manhattan geschickt. Ich notierte ihm von einem weiteren Schreiben, das ich an ihn persönlich vor einiger Zeit nach Kalkutta (Indien) sendete. Der Brief war zurückgekommen, er trug Hinweise auf seiner Anschriftseite, die von mehrfachen vergeblichen Zustellversuchen zeugen, ein Kunstwerk, würde ich sagen, ein Dokument sorgfältiger Arbeit. Heute antwortete Mr. Shapiro. Er schrieb in einer E‑Mailnachricht, er habe sich gefreut, weil ich seinen Namen verwendete, um eine Briefsonde nach Kalkutta zu schicken. Außerdem freue er sich über meine Frage hinsichtlich bevorzugter Lektüren. Er übermittelte eine Namensliste jener Persönlichkeiten, deren Bücher Mr. Shapiro bald einmal lesen, deren Leben er bevorzugt studieren würde. — Es ist merkwürdig, ich habe nicht damit gerechnet, dass Mr. Sini Shapiro über eine E‑Mail-Adresse verfügen könnte. Es ist nun doch wahrscheinlich, dass Mr. Shapiro außerdem über eine Computerschreibmaschine verfügen wird, die der digitalen Sphäre verbunden ist. — stop
zwergseerose bartholomä
nordpol : 5.08 — Ich hörte, irgendwo versteckt auf einem Hochplateau des steinernen Meeres, das sich zwischen dem schönen, grünblauen Obersee und dem mächtigen Hochkönig erstreckt, soll ein Mensch existieren, ein Junge von ungefähr acht Jahren, der in seinem bisherigen Leben keinerlei digitale Spur hinterließ, weder in der Welt behördlicher Computersysteme, noch in einer elektronischen Wolke. Der Junge, der möglicherweise heimlich geboren wurde, soll, von Schulbüchern umgeben, in einer Hütte mit Ziegen und fünf Murmeltieren leben, die ihm vertraut geworden sind. Es ist nicht bekannt, wie der Junge heißt, wie seine Mutter, wie sein Vater, auch nicht, wer ihm des Weiteren geholfen haben könnte, während der ersten Lebensjahre über strenge Bergwinter zu kommen. Ich stelle mir vor, dieser Junge könnte vielleicht der einzige lebende europäische Mensch sein, von dem niemals ein Lichtbild genommen wurde. Wer nach ihm suchte, kehrte zurück ohne einen Beweis, ohne eine Spur, er könnte reinste Erfindung sein, eine vorsätzliche Existenz, eine Vermutung, oder eine tatsächliche Person, die an dieser Stelle, in diesem Text einen ersten elektrischen Abdruck in der digitalen Sphäre hinterlässt, ein Verrat, ja, ein Verrat. Ich sollte meine Gedanken, meine Hinweise, demzufolge bald wieder löschen, um ihr Verschwinden und damit das Verschwinden des Jungen aus der digitalen Welt beobachten oder prüfen zu können. Signatur: Zwergseerose Bartholomä. — stop