foxtrott : 6.15 — Ich kann vielleicht sagen, dass ich, sobald sich die Augen eines Schlafenden vor meinen eigenen Augen öffnen, ohne Ausnahme sofort gefangen bin. Habe in der Beobachtung schlafender Menschen nachts, wenn ich durch Flughafenhallen spazierte oder in Subwayzügen reiste, Erfahrungen gesammelt, der Blick auf vorüberziehende Lichtinseln draußen vor dem Fenster, dann wieder auf das entspannte Gesicht eines unbekannten Reisenden, der träumte. So schnell sich die Augen eines Schlafenden öffnen, kann ich meinen beobachtenden Blick niemals verbergen. Vermutlich existiert keine schnellere Bewegung, zu der ein menschlicher Körper in der Lage wäre, als jene Bewegung der Augen, wenn sie sich öffnen. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass diese in Bruchteilen einer Sekunde entkleideten Augen unverzüglich präsent sind, weil der Blick sogleich anwesend ist und wirkungsvoll, sein Licht, vielleicht deshalb, weil ein Blick noch vor der Öffnung der Augenlider beginnt oder zu Lebzeiten niemals endet. — stop
Aus der Wörtersammlung: eisen
tonwellenschrauben
echo : 22.18 – Lungerte im Wald unter Louisiana-Moosen. Sturmgeräusche, auch Zikaden waren zu hören gewesen, ihre Flügelstimmen, hell, schrill, gläsern, Tonwellenschrauben. Auf Knien kroch ich bald jagend durchs Unterholz, wollte eines der lockenden Tiere fangen. Anstatt Insekten entdeckte ich Spieldosen, hunderte, ja tausende, kreisende Lärmmaschinen. Sie leuchteten, feuerrot und blau, je nach Höhe oder Tiefe ihres Gesangs. Sobald ich mich näherte, um eines der Wesen zu ergreifen, schossen sie senkrecht in die Luft, ganz so als würden sie über prall gefüllte Druckluftbäuche fürs flüchtende Reisen gebieten. Dann wurde ich wach. Es war Abend geworden. Samstag. Ein Orkan näherte sich von Westen, knisternde Fenster, Frösche schwebten summend vor den Fenstern. Zwei Stunden lang dachte ich über die Erfindung dienstbarer Käfer nach, Gattung, die Stille zu erzeugen vermag, wann immer gewünscht. Ich stellte mir vor, wie sie sich rückwärts über meine Wangen hin zu meinen Ohren bewegen, wie sie ihre kühlen Leiber in meine Gehörgänge versenken, wie sie sich dehnen und strecken, sanft, sanft, bis sie nahezu verschwunden sein werden. Zwei Fühler noch, ein Paar kleinster Augen links, ein Paar kleinster Augen rechts, Dochte, nein, Diodenlichter. Ich hörte nichts. — stop
l a t e r a l
himalaya : 0.05 – Soweit bin ich in meiner anatomischen Arbeit gekommen, dass ich an einem Nachmittag Reisenden, die von der Stadt Kobe weither nach Europa gekommen waren, erklärte, die Abteilungen der Regenwälder befänden sich l a t e r a l der Wüstenhäuser des Palmengartens. — Ist das eine Nachricht? — stop
schlafkapsel : standby
olimambo : 14.28 — In der Stadt New York soll ein Schlafkapselhaus existieren, man bezahlt 50 Dollar und darf sich in eine der 2700 Waben legen, die angenehm warm gestaltet sind und gut isoliert gegen Geräusche jeder Art. Oder in Schlafzügen reisen unter der Stadt, abgedunkelte Fensterbojen, die Linien 12 und 15, ohne je anzuhalten Tag und Nacht. Man könnte vielleicht sehr bald einmal einen speziellen Stoffwechselkreislauf für Menschen erfinden, einen sparsamen Modus der Verbrennung, eine Variante, die aktiviert sein könnte, sobald ein menschliches Wesen dauerhaft erwerbslos zu werden droht. Menschen, frei von Aufgabe, wären nun in der Lage, zu existieren, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen, würden kaum noch Nahrung zu sich nehmen, stattdessen schlafen, länger schlafen, als andere Menschen, die sich in Brot und Arbeit befinden. Man wünscht, sagen wir, in dem man schläfrig wird, Zeit zu gewinnen, Zeit zu überbrücken. Ganze Landstriche, Stadtteile, Kontinente wären in dieser Weise leichter Hand in einen Zustand des Wartens, der sparsamen, der schmerzfreien Duldung zu versetzen. — stop
ameisengesellschaft ln — 768
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 769 [ lasius niger ] : Position 48°21’N 07°01’O : Folgende Objekte wurden von 20.00 — 21.00 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zwei trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], sechzehn Baumstämme [ à 7 Gramm ], fünfzehn Raupen in Grün, achtzehn Raupen in Orange, ein Insektenflügel [ vermutlich der eines Zitronenfalters ], zwei Streichholzköpfe [ à 2 Gramm ], acht Fliegen der Gattung Calliphoridae in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 50 Gramm ], fünf Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], sieben gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 157 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], sechs Rüsselkäfer [ blautürkise ], die Aaskugel eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, ein Autoreifen [ Maserati Mistral ] 8 Gramm. — stop
elst-pizarro
delta : 0.03 — Vor wenigen Tagen die Existenz des erdnahen Kometen Elst-Pizarro bemerkt, eines reisenden Körpers, der bereits im Jahre 1997 entdeckt worden ist. Vielleicht könnte es sinnvoll sein, von diesem Vorgang als einer einseitig wirksamen Kollision zu sprechen, weil ich mich mit der Sekunde der ersten Wahrnehmung verformte, durch meine Begeisterung einerseits, andererseits durch eine Versammlung von Fragen, die nun an mir zerren, als verfügten sie über eine physikalisch messbare Gravitation. – stop
syrischer traum
tango : 6.15 — Ich hatte einen beunruhigenden Traum. In diesem Traum wurde mit Panzern auf protestierende Menschen geschossen. Projektile, groß wie Koffer, flogen durch die Luft. Wenn sie einen Menschen trafen, rotierten Körperteile gegen den Himmel. Überhaupt bewegte sich die Welt in diesem Traum sehr langsam, die Blätter der Bäume, Kinder, die unter Platanen Himmel und Hölle spielten, auch jene fliegenden Eisenkoffer und das Feuer, das aus den Geschützrohren der Panzer trat, alles zur Zeitlupe verzögert. Einmal saß ich auf einer Bank. Ich hielt den Kopf eines Jungen in Händen. Durch ein furchterregendes Loch in der linken Wange des Kindes spähte ich in das tobende Gesicht eines Offiziers. Das alles war mir, noch im Traum befindlich, sehr merkwürdig vorgekommen, weil die singende Stimme eines Kindes in nächster Nähe zu vernehmen gewesen war. — stop
manhattan transfer
~ : oe som
to : louis
subject : DOS PASSOS
date : july 31 11 5.15 p.m.
Anstrengende Tage liegen hinter uns, Regen, stürmische Winde, schwerer Seegang, Pelikane kreisen hoch über dem Schiff. Vor zwei Tagen zuletzt schickten wir Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer zu Noe hin abwärts. Ein schweres Buch, das in vierhundert Fuß Tiefe von einer warmen südlichen Strömung abgetrieben wurde, bald darauf in einer Pendelbewegung derart heftig nordwärts gezogen wurde, dass wir fürchteten, Noe könnte von dem Gewicht des Romans getroffen oder das Buch von der Senkleine in unergründliche Tiefen fortgerissen werden. Drei Stunden später hielt Noe John Dos Passos in Händen. Unser Taucher bemerkte sogleich, dass es sich bei diesem weiteren Unterwasserbuch um ein besonderes Werk handeln musste, eine umfangreiche Satzversammlung, von innen her, Seite für Seite, Zeichen für Zeichen aprikosenfarben sanft beleuchtet. In derselben Minute, da Noe das Buch öffnete, begann er laut zu lesen. Er las drei Stunden, dann schlief er kurz ein, um noch im Halbschlaf befindlich seine Lektüre fortzusetzen: Die Sonne ist nach Jersey gerückt, die Sonne steht hinter Hoboken. Hüllen schnappen über Schreibmaschinen, Rollladenschreibtische schließen sich. Aufzüge fahren leer in die Höhe, kommen vollgepfropft herunter. Es ist Ebbe in der City, Flut in Flatbush, Woodlawn, Dyckman Street, Sheepshead Bay, News Lots Avenue, Canarsie. Rosa Zeitungen, grüne Zeitungen, graue Zeitungen. Sämtliche Börsenkurse. Sportresultate. Lettern wirbeln über ladenmüde, büromüde schlaffe Gesichter, wunde Fingerspitzen, schmerzende Fußriste, muskulöse Männer, Gedränge im U‑Bahn-Express. — Kurz vor Sonnenuntergang. Das Meer sucht nach uns, mit Zungen von Gischt. Ein riesiger Schwarm Makrelen nähert sich von Norden her, ungeheure Bewegung, wie eine riesige Hand fährt sie auf dem Radarschirm langsam die Küste entlang. Noe wünscht, eine Fotografie John Dos Passos’ zu sehen. So etwas hat’s noch nie gegeben. — Ahoi! Dein OE
gesendet am
31.07.2011
1962 zeichen
menkem
nordpol : 4.56 — Flughafen. Früher Morgen. Regen. Das Licht verspätet sich, Flugzeuge, die weite Strecken gegen die Nacht geflogen sind, reihen sich, eine Kette zitternder Lichter, hintereinander bis zum Horizont. Neben mir auf einer Bank, den Blick auf die Landebahn gerichtet, sitzt ein alter Mann. Er heißt Menkem. Menkem lebt seit vielen Jahren in Deutschland, ein afrikanischer Mann, der Italienisch fließend spricht, Trigrinja und auch Deutsch, eine Sprache, die ihm nicht so leicht von den Lippen gehen will, weswegen er sehr langsam, Wort für Wort, formuliert. Wir warten auf einen weißen Vogel, einen Airbus 380, Linienflug LH 401 New York JFK – Frankfurt am Main, um 5 Uhr 15 soll das Flugzeug eintreffen. Da noch Zeit ist, frage ich, ob sich Menkems Familie in Sicherheit befinden würde oder ob sie vielleicht von Hunger bedroht sei in diesen Wochen. — Lange andauerndes Schweigen. — Dann antwortet mir der alte Mann. Er sagt: Afrika ist groß, sehr, sehr groß. Wir essen in Eritrea nicht vom Boden, wir sitzen immer auf einem Stein oder auf einem Stück Holz, wenn wir eines finden, oder wir haben ein Tuch, auf das wir uns setzen können. Wir sind einfache Mahlzeiten gewöhnt, wir essen nicht komplizierte Dinge wie die Menschen in Äthiopien, sofern sie nicht in Armut leben. Aber wir essen niemals vom Boden. Unsere Speisen sind scharf gewürzt. Oft haben wir sehr wenig. Immer müssen wir uns beeilen, essen, und dann sofort weiter. Der alte Mann macht eine schnelle Bewegung mit seiner Hand, als wollte er etwas von sich werfen. — stop
hummergeschichte
india : 6.32 — Ein Solarisschiff, von dem ich träumte, war derart nahtlos in ein düsteres Stadthaus von enormer Größe montiert, dass niemand, der nicht in Kenntnis gesetzt worden war, seine Existenz wahrzunehmen vermochte. Natürlich spielte die Fahrstuhlanlage eine bedeutende Rolle. Dort war eine zentrale Achse des Raumkreuzers hineingedacht, umgebende Wohnungen gehörten dazu, Teile der Küchen, Bäder, Flure, Wohnzimmer, auch weiter entfernte Abteilungen des Gebäudes, in dem allerorten Wasser von den Decken tropfte. An einem Abend, von dem ich präzise träumte, wurden rauschhafte Feste unter Regenschirmen gefeiert. Sie dienten einem einzigen Zweck, Weltraumreisende nämlich von zurückbleibenden Menschen zu separieren. Ich konnte im Traum den ein oder anderen Bewohner des Hauses leicht narkotisiert von einem Apartment in das nächste wandeln sehen. Als ich erwachte, hockte ein kleiner blauer Hummer an der Wand meines Zimmers. — stop