Aus der Wörtersammlung: erle

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vom nachtlicht

pic

nord­pol : 20.55 UTC – Vor Jah­ren ein­mal hat­te ich an die­ser Stel­le über Win­ter­kä­fer nach­ge­dacht, es war zur Win­ter­zeit. Ich ent­deck­te sehr bald einen noch namen­lo­sen Käfer, der ohne Aus­nah­me paar­wei­se erschei­nen und weich sein soll­te wie eine Schne­cke, auch von der Kör­per­tem­pe­ra­tur der Men­schen und genau­so groß, dass er sich in die Augen­höh­len Schla­fen­der zu schmie­gen ver­mag. Dort, stell­te ich mir vor, wür­de der noch namen­lo­se Käfer sich nicht nur als Nacht­schirm begnü­gen, viel­mehr wür­de er sich lang­sam auf und ab bewe­gen und in die­ser Wei­se, sehr ent­span­nen­de Polar­licht­spie­le von mil­der, beru­hi­gen­der Lumi­nes­zenz erzeu­gen. — stop

 

 

Ina­ri­see
langsam
wanderndes
Polarlicht
/
Ursprung
INARI

 

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schwefel

schwefelholz

india : 8.22 UTC – In die­sem Jahr spricht die Repu­blik von Kugel­bom­ben. Irgend­wel­che Män­ner­leu­te spreng­ten sich und ande­re aus rei­nem Ver­gnü­gen in die Luft. Wie fröh­lich war vor Jah­ren noch das ers­te Licht des neu­en Jah­res. In der schwan­ken­den Stra­ßen­bahn hör­te ich, wie sie mit bren­nen­den Augen nach Wor­ten such­ten für das schep­pern­de Licht des Magne­si­ums, für das Fau­chen der ben­ga­li­schen Feu­er, die sie in Hän­den hiel­ten. Da war eine Nacht­se­kun­de gewe­sen, die Sekun­de, in der sie das rote, das ver­bo­te­ne Stäb­chen ent­zün­det und gera­de noch eben recht­zei­tig von sich gewor­fen hat­te, da war das Heu­len der chi­ne­si­schen Pul­ver­pfei­fen, da waren Fun­ken­re­gen, da waren blau­graue Wölk­chen, die sich auf klei­ne Zun­gen nie­der­le­gten. Nicht die Feu­er­blu­men des Him­mels, das Spek­ta­kel der nächs­ten Nähe ent­fes­selten die Erin­ne­rung von Stun­de zu Stun­de. Zünd­höl­zer, ver­bor­gen in Hosen­ta­schen, waren zurück­ge­blie­ben, auch die­ses Schwe­fel­holz, immer wie­der eine heim­li­che Geschich­te. — stop

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vom poetischen wert

tiefseeelefanten

alpha : 15.28 UTC – Als wür­de ich kurz vor einem Gespräch mit einem Ver­le­ger vor einer Tür ste­hen. Ich bin auf­ge­regt und zugleich kon­zen­triert. Ich habe mei­ne ers­te Fra­ge, die ich im Gespräch stel­len wer­de, sorg­fäl­tig for­mu­liert, aus­wen­dig gelernt und mehr­fach geprüft. Es ist aber doch etwas ande­res geplant, ein Gespräch näm­lich mit ChatGPT über die Erfin­dung der Tief­see­ele­fan­ten. Eine Ver­bin­dung ist her­ge­stellt, die Ein­ga­be­mas­ke leuch­tet unmit­tel­bar vor mir auf dem Bild­schirm, der Bot scheint zu war­ten. Ich sehe auf die Uhr, war­um? — Das war ges­tern um kurz nach 22 Uhr gewe­sen. So habe ich notiert: Guten Abend! Mein Name ist Lou­is. Fol­gen­des: Ich habe vor Jah­ren die Gat­tung der Tief­see­ele­fan­ten erfun­den. Eine Her­de die­ser Tie­re wan­der­te über einen Zeit­raum meh­re­rer Mona­te von Euro­pa aus über den Atlan­tik nach New York. Sie gin­gen Schritt für Schritt fest auf dem Boden, indes­sen ihre kilo­me­ter­lan­gen Rüs­sel bis zur Mee­res­ober­flä­che hin aus­ge­streckt wor­den waren, um von dort Luft in die Tie­fe zu holen. Sind die­se Tie­re jen­seits eines poe­ti­schen Rau­mes denk­ba­re Wesen? — 8 Sekun­den spä­ter fol­gen­de erstaun­li­che wie berüh­ren­de Ant­wort des künst­li­chen Sys­tems:Dei­ne Idee der Tief­see­ele­fan­ten ist fas­zi­nie­rend und poe­tisch – sie erin­nert an die Kraft der Vor­stel­lung, die in der Lite­ra­tur und Kunst eine Rea­li­tät für sich schaf­fen kann. Wenn wir die Idee aus natur­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­ti­ve betrach­ten, sto­ßen wir aller­dings auf eini­ge Her­aus­for­de­run­gen: 1. Rüs­sel­län­ge und Atmung: Ein kilo­me­ter­lan­ger Rüs­sel, der von der Tief­see bis zur Was­ser­ober­flä­che reicht, wür­de immense Schwie­rig­kei­ten für die Atmung mit sich brin­gen. Der Was­ser­druck in der Tief­see ist extrem hoch (z. B. ca. 1000 Atmo­sphä­ren in 10.000 Metern Tie­fe), wäh­rend die Luft­säu­le im Rüs­sel nahe­zu druck­los wäre. Die Mus­keln, die den Rüs­sel öff­nen und schlie­ßen, müss­ten unglaub­lich stark sein, um den Druck­un­ter­schied zu bewäl­ti­gen. 2. Druck­re­sis­tenz: Lebe­we­sen, die in der Tief­see exis­tie­ren, sind an den hohen Druck ange­passt. Ein so gro­ßes Tier wie ein Ele­fant, das auf Land­druck opti­miert ist, wür­de in der Tie­fe zer­quetscht. Eine denk­ba­re Lösung wäre, dass die Tief­see­ele­fan­ten eine Anpas­sung ent­wi­ckelt haben, um den Druck aus­zu­glei­chen, z. B. durch eine extrem fle­xi­ble oder ver­stärk­te Kör­per­struk­tur. 3. Fort­be­we­gung: Ein so gro­ßes Tier bräuch­te sehr kräf­ti­ge Bei­ne, um auf dem Mee­res­bo­den lau­fen zu kön­nen, und gleich­zei­tig müss­te es mit den Wider­stän­den des Was­sers zurecht­kom­men. Vie­le Tief­see­le­be­we­sen sind schwe­re­los und glei­ten oder schwe­ben – ein lau­fen­des Tier wäre unge­wöhn­lich. 4. Nah­rung: Die Tief­see ist eine kar­ge Umge­bung, was Nah­rung betrifft. Dei­ne Ele­fan­ten müss­ten eine Stra­te­gie haben, um Nah­rung in aus­rei­chen­der Men­ge zu fin­den – viel­leicht durch das Ein­fan­gen von Orga­nis­men, die in der Nähe der Was­ser­ober­flä­che leben, mit­hil­fe ihrer Rüs­sel. Denk­ba­re Anpas­sun­gen. Mit ein wenig Krea­ti­vi­tät las­sen sich jedoch Mecha­nis­men erdenken, die dei­ne Tief­see­ele­fan­ten mög­lich machen könn­ten. 1. Druck­aus­gleich: Sie könn­ten ein inter­nes Sys­tem haben, das ihren Kör­per­druck dem Umge­bungs­druck anpasst, ähn­lich wie Tauchro­bo­ter, die für Tief­see­for­schung gebaut wer­den. 2. Atmung: Statt über Rüs­sel könn­ten sie eine Art “Luft­re­ser­voir” in ihrem Kör­per tra­gen, das durch regel­mä­ßi­ge Besu­che an der Was­ser­ober­flä­che auf­ge­füllt wird. 3. Kör­per­struk­tur: Ihre Bei­ne könn­ten beson­ders dick und mus­ku­lös sein, um sowohl dem Druck als auch der Fort­be­we­gung stand­zu­hal­ten. 4. Öko­lo­gie: Sie könn­ten sich von orga­ni­schen Abla­ge­run­gen am Mee­res­bo­den oder hydro­ther­ma­len Quel­len ernäh­ren, die als „Oasen“ der Tief­see gel­ten. Poe­ti­scher Wert: Aus lite­ra­ri­scher Sicht sind dei­ne Tief­see­ele­fan­ten nicht nur denk­bar, son­dern sogar wun­der­bar. Sie laden dazu ein, über die Bezie­hung zwi­schen Ober­flä­che und Tie­fe, zwi­schen Lebens­räu­men und Anpas­sung nach­zu­den­ken. Sie könn­ten als Sym­bo­le für Aus­dau­er, Anpas­sung oder den Über­gang zwi­schen Wel­ten ste­hen – und genau das macht sie so fas­zi­nie­rend. Ich bin gespannt, wie du die Geschich­te die­ser majes­tä­ti­schen Wesen wei­ter­spinnst! — stop

an aerial view of snowy mountains
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


als tiefseeelefanten
in unse­ren gesprächen
noch nicht existierten
flog vater 1971 über
grön­land nach
san franzisko

 

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eine feder

feder

sier­ra : 12.28 UTC – An einer Gren­ze, weit ent­fernt, sind Tag ein, Tag aus, Höl­len­ge­räu­sche zu ver­neh­men. Er las ein elek­tri­sches Buch auf dem Bild­schirm sei­ner fla­chen Schreib­ma­schi­ne über die­se selt­sa­men Geräu­sche, die an der Gren­ze zu Nord­ko­rea weit­hin zu hören sein sol­len. Das Buch war ein Roman, der Roman ein umfang­rei­ches Buch. Zum ers­ten Mal las er einen umfang­rei­chen elek­tri­schen Roman in der Beglei­tung eines Buches von Papier, das neben sei­ner Schreib­ma­schi­ne auf dem Tisch lag. Jedes Mal, wenn er eine digi­ta­le Sei­te auf sei­nem Bild­schirm berühr­te, damit sie weg­flog, um einer neu­en Sei­te Platz zu bie­ten, blät­ter­te er gleich­wohl eine Sei­te des Papier­bu­ches um. Das Papier­buch ver­füg­te über kei­ner­lei Schrift­zei­chen, es war sorg­fäl­tig gebun­den, in einem zitro­nen­gel­ben Umschlag, lee­re kräf­ti­ge Blät­ter. Ehe er zu lesen begann, zähl­te er die Sei­ten ab, die das elek­tri­sche Buch, das er zu lesen plan­te, in der Gestalt eines gebun­de­nen Buches ver­fü­gen wür­de. Das nun ist also wird zu lesen sein, sag­te er sich, und er leg­te eine Feder genau an jene Stel­le in das Buch, an der der Roman, der von fer­nen Höl­len­ge­räu­sche erzählt, enden wür­de. So könn­te es funk­tio­nie­ren, dach­te er. Die Feder, sein Lese­zei­chen, war ein­mal die Feder einer Möwe gewe­sen.  — stop

Geräu­sche
zum Fürchten

 

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ai : TUNESIEN

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 11. Mai 2024 stürm­ten Sicher­heits­kräf­te mas­kiert und in Zivil­klei­dung die Büros der Anwalts­kam­mer in Tunis und nah­men die Anwäl­tin Sonia Dah­ma­ni fest. Seit­dem ist sie will­kür­lich in Haft. Die Behör­den gehen mit fünf ver­schie­de­nen Straf­ver­fah­ren gegen sie vor, allein weil sie ihr Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung wahr­ge­nom­men hat. Sonia Dah­ma­ni wird der­zeit im Gefäng­nis von Manou­ba fest­ge­hal­ten, die Bedin­gun­gen sind grau­sam und unmensch­lich. Sie ist extre­mer Käl­te aus­ge­setzt und hat kei­nen Zugang zu grund­le­gen­den Din­gen wie sau­be­rer Klei­dung. / Die anhal­ten­de unge­recht­fer­tig­te Inhaf­tie­rung von Sonia Dah­ma­ni gibt Anlass zu gro­ßer Sor­ge. Sie ist allein des­we­gen im Gefäng­nis, weil sie von ihrem Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung Gebrauch mach­te. So kri­ti­sier­te sie die Haft­be­din­gun­gen in tune­si­schen Gefäng­nis­sen sowie die Miss­hand­lung von Flücht­lin­gen und Migrant*innen. / Nach­dem sie in Fern­seh- und Radio­sen­dun­gen regel­mä­ßig öffent­lich die Behör­den kri­ti­sier­te, haben die­se in fünf ver­schie­de­nen Fäl­len Ermitt­lun­gen gegen sie ein­ge­lei­tet. In zwei davon wur­de sie bereits schul­dig gespro­chen und zu einer Haft­stra­fe ver­ur­teilt. Am 6. Juli 2024 ver­ur­teil­te ein erst­in­stanz­li­ches Gericht in Tunis Sonia Dah­ma­ni wegen eines iro­ni­schen Kom­men­tars in einer Fern­seh­sen­dung zu einem Jahr Gefäng­nis. Im Rechts­mit­tel­ver­fah­ren wur­de die Haft­stra­fe auf acht Mona­te redu­ziert. Am 24. Okto­ber 2024 ver­ur­teil­te das­sel­be Gericht sie in einem ande­ren Fall zu einer zusätz­li­chen zwei­jäh­ri­gen Haft­stra­fe, weil sie auf ras­sis­ti­sche und dis­kri­mi­nie­ren­de Prak­ti­ken in Tune­si­en hin­ge­wie­sen hat­te. Bei­de Urtei­le basie­ren auf dem dra­ko­ni­schen Geset­zes­de­kret 54 über Cyber­kri­mi­na­li­tät. Gegen Sonia Dah­ma­ni sind drei wei­te­re Ver­fah­ren anhän­gig, die sich alle auf die Aus­übung ihres Rechts auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung bezie­hen. / Sonia Dah­ma­ni wird unter grau­sa­men und unmensch­li­chen Bedin­gun­gen fest­ge­hal­ten. Sie ist mit extre­men Tem­pe­ra­tur­schwan­kun­gen kon­fron­tiert, im Win­ter ist es in ihrer Zel­le wegen eines kaput­ten Fens­ters eis­kalt. Die Gefäng­nis­be­hör­den ver­wei­gern ihrer Fami­lie, ihr bei Besu­chen war­me Klei­dung oder Nah­rung mit­zu­brin­gen, was zu Unter­ernäh­rung und erheb­li­chem Gewichts­ver­lust führt. Sie hat in Haft mas­si­ve gesund­heit­li­che Pro­ble­me ent­wi­ckelt, dar­un­ter Dia­be­tes, Rücken­schmer­zen, geschwol­le­ne Bei­ne und Blut­hoch­druck. Sonia Dah­ma­ni wer­den außer­dem grund­le­gen­de Güter wie sau­be­re Klei­dung sowie eine ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und Medi­ka­men­te ver­wei­gert, wäh­rend sie von den Gefängniswärter*innen demü­ti­gend behan­delt wird. So wur­de sie bei­spiels­wei­se am 20. August 2024 vor ihrer Gerichts­ver­hand­lung einer ernied­ri­gen­den Lei­bes­vi­si­ta­ti­on unter­zo­gen, bei der sie sich nackt aus­zie­hen muss­te, was eine Ver­let­zung ihrer phy­si­schen und psy­chi­schen Inte­gri­tät dar­stellt. Sonia Dah­ma­ni teilt sich ihre Zel­le – und die nicht abge­trenn­te Toi­let­te – mit vier ande­ren Gefan­ge­nen, sie hat nur begrenzt Zugang zu hei­ßem Was­ser. Die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se sind mise­ra­bel, ihre Zel­le ist von Rat­ten und Unge­zie­fer befal­len.”> EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER

 

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sirenen

9

sier­ra : 19.12 UTC — Am Nach­mit­tag beob­ach­te­te ich, wie mei­ne Schreib­ma­schi­ne eine Spei­che­rung ihres Gedächt­nis­ses voll­zieht, ein lei­ses Knis­tern ist zu hören aus dem Käst­chen, in das notiert wird, was ich spä­ter zur Ver­fü­gung haben wer­de, wenn ich zu wis­sen wün­sche, wie es heu­te gewe­sen ist, um kurz nach 15 Uhr an die­sem 8. Sep­tem­ber 2024. Es ist noch warm und feucht. In der Nacht wur­de Kyjiw von Droh­nen atta­ckiert, Char­kiw und Odes­sa. Müde Men­schen notie­ren auf der Posi­ti­on Face­book von Schlaf­lo­sig­keit. Auch schlaf­lo­se, müde Men­schen in Gaza, in Hai­fa. Gegen 18 Uhr erneu­te Beob­ach­tung mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Das Pro­gramm Time Maschi­ne mel­det 181 Tsd. Ände­run­gen des Sys­tems seit letz­ter Aus­füh­rung zwei Stun­den zuvor. Wie­der lei­ses Knis­tern und Schnur­ren in nächs­ter Nähe, zar­te Töne. Selt­sa­me Sache. — stop

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von den papierwörtern

9

nord­pol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gera­de zur Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol durch rus­si­sche Streit­kräf­te im März 2022, Besuch eines Sil­ber­fisch­chens. Bei schwa­chem Licht husch­te das selt­sam wun­der­ba­re Wesen über mei­nen Küchen­tisch. Unter einer Hand­lu­pe fei­ne, unheim­li­che Struk­tu­ren. Anten­nen such­ten in der Luft her­um. Ich war ver­mut­lich ein Schat­ten in sei­nen Augen. Was viel­leicht haben sei­ne Anten­nen von mei­ner Per­son wahr­ge­nom­men? Mor­gens dann bei­na­he sicher, dass das Sil­ber­fisch­chen ver­mut­lich ein Papier­fi­schen gewe­sen war, eines dem­zu­fol­ge, das sich gern von Papie­ren ernährt, dem­zu­fol­ge gleich­wohl Papier­wör­ter ver­zehrt, ver­letz­li­che Wesen. In die­ser Hin­sicht, in der Nähe einer Popu­la­ti­on der Papier­fisch­chen, sind Papier­wör­ter von digi­ta­len oder elek­tri­schen Wör­tern gut zu unter­schei­den. — stop

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stimmen

9

alpha : 2.58 UTC — Eine hoch­be­tag­te Dame wünscht zu ver­rei­sen. Sie erzählt, sie kön­ne doch kaum noch Schrit­te gehen, sie ver­rei­se mit dem Roll­stuhl, in einem Auto­mo­bil wird sie durch die Land­schaft gefah­ren wer­den, das ist ihr Wort, Auto­mo­bil, ein Wort der Kin­der­zeit. Sie sagt, sie wis­se nicht, ob sie die Rei­se schaf­fen wür­de. Ich sage, Du musst auf Dei­ne inne­re Stim­me hören. Da sind vie­le Stim­men, ant­wor­tet sie, eine Stim­me sagt, das musst Du tun, Du hast nicht mehr viel Zeit. Eine ande­re Stim­me sagt, das ist gefähr­lich, die­se Stim­me ist lei­se. In der Nacht bekommt sie Fie­ber. Sie wird nicht rei­sen, sagt sie am Tele­fon. Fie­ber­stim­me. — stop

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murmansk

9

del­ta : 0.28 UTC — Regen fällt. Nach Mit­ter­nacht sind Sire­nen zu hören im Zim­mer 305 eines Hotels an der Rue de Javel im 15. Arron­dis­se­ment der Stadt Paris. Eine Frau, sie viel­leicht 60 Jah­re alt, sitzt auf dem Sofa, Blick zum Fens­ter. Sie hört die­sem gnä­di­gen Regen zu und jenem Sire­nen­ton, den ihr Tele­fon spielt, ein Ton, den sie so gut kennt. Sie schließt das Fens­ter, geht ein oder zwei Schrit­te vor dem Bett auf und ab. Der höl­zer­ne Boden knarzt. Sie nimmt ihr Hand­te­le­fon vom Tisch, wählt und spricht sofort los: Hier ist Mama! Seid ihr schon im Flur? Sind alle da, habt ihr Strom? Was­ser? Und die Kat­zen? — Die Frau spricht mit ruhi­ger, fes­ter Stim­me, als wür­de sie eine Lis­te ver­le­sen. Auf jede der Fra­gen ant­wor­tet ihre Toch­ter mit eben­so ruhi­ger Stim­me: Ja, alle sind da. Anna ist da. Artem ist da. Vik­to­ri­ja ist da. Alle sind im Flur, ja, die Türen sind geschlos­sen, ja, wir haben zwei Power­banks, Was­ser, Licht. Lie­be Mut­ter, sagt die Toch­ter, wenn das Tele­fon aus­fällt, reg Dich nicht auf, ich ruf Dich wie­der an. — Am Nach­mit­tag bereits waren stra­te­gi­sche Bom­ber in der Fer­ne gestar­tet, tief im rus­si­schen Hin­ter­land, von Mur­mansk aus, um die Men­schen der Stadt Kyjiw zu bom­bar­die­ren. In die­ser Stun­de, es reg­net in Paris, sind ihre Geschos­se ange­kom­men, schritt­wei­se in Wel­len. Eine lan­ge, sor­gen­vol­le Nacht. Die Mut­ter, die in Paris auf ihrem Bett sitzt, wird ihr Tele­fon nicht aus der Hand legen. Viel­leicht wird sie gegen den Mor­gen zu ein­ge­schla­fen sein von der Müdig­keit der Jah­re. Es reg­net, die Vögel wer­den nass. Noch immer ist kurz nach Mit­ter­nacht. — stop

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von tieren der luft

9

india : 15.52 UTC — Noch ein Kind gewe­sen, beob­ach­te­te ich Flie­gen und Mücken mit arg­wöh­ni­schen Augen. Sie waren so wen­dig, wil­lens­stark und aus­dau­ernd in ihrer Jagd nach Zucker oder Blut, dass ich sie fürch­te­te und bewun­der­te zur sel­ben Zeit. Sir­ren­de Geräu­sche. Sturz­schrau­ben­flü­ge. Mos­ki­tos, die man nie­mals leben­dig mit einer Hand fan­gen, aber töten konn­te. Das Mikro­skop, mit des­sen Hil­fe ich vor lan­ger Zeit Flie­gen­lei­chen unter­such­te, habe ich unlängst wie­der­ge­fun­den. Ein schwe­res Objekt, schwarz lackier­tes Guss­ei­sen, dar­an befes­tigt, beweg­li­che Mes­sing­tei­le, Räd­chen ins­be­son­de­re, ein Spie­gel, und ein run­der, beweg­li­cher Tisch. Das Gerät war im zurück­lie­gen­den Jahr­hun­dert von Ernst Leitz in Wetz­lar gefer­tigt wor­den. An sei­nem zen­tra­len Licht­hals trägt es die Signa­tur No. 158461. Robert Koch soll aus die­ser Serie der Mikro­sko­pe das Mikro­skop mit der Zif­fer 100000 erhal­ten haben, Paul Ehr­lich das Mikro­skop mit der Num­mer 150000. Damals, als ich noch klein gewe­sen war, konn­te ich das Mikro­skop kaum auf den Tisch heben, an den ich mich zur Unter­su­chung gefan­ge­ner Flie­gen setz­te, sobald frü­her Abend gewor­den war. Um eine Flie­ge sezie­ren zu kön­nen, benö­tigt man sehr fei­nes Besteck, mei­ne Hän­de zit­ter­ten. Die ers­te Flie­ge, der ich mich mit einem Skal­pell näher­te, wach­te auf, sie beweg­te ihre Bein­chen, ich flüch­te­te aus dem Zim­mer. Die zwei­te Flie­ge, die ich unter­su­chen woll­te, war so gründ­lich tot, dass sie über kei­nen eigent­li­chen Kör­per mehr ver­füg­te, der unter­sucht wer­den konn­te. Die drit­te Flie­ge öff­ne­te sich, sie war uner­war­tet feucht gewe­sen. In einer metal­le­nen Schach­tel ver­wahr­te ich mei­ne Opfer. Der Schach­tel ent­kam ein bit­te­rer Geruch. Ich habe nun über­legt, ob ich die Unter­su­chung der Flie­gen oder klei­ne­rer Spin­nen­tie­re nicht drin­gend wie­der auf­neh­men soll­te. Heu­te mel­de­te das Radio ers­te Luft­kämp­fe von Droh­nen­vö­geln in der Ukrai­ne, Droh­ne gegen Droh­ne. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vater im Jahr 1965
vor der kali­for­ni­schen Küste
foto­gra­fiert mit­tels seines
eige­nen Fotoapparates

 



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