echo : 20.08 — Besuch von Mr. Tuttle zur unmöglichsten Zeit gegen 10 Uhr vormittags. Saß, müde Augen, vor dem Bildschirm und hörte, wie der Monteur mit Pumpenmaschinen, Schraubenschlüsseln, Rohrzangen an meinen Wasserleitungen in der Küche hantierte. Das waren Geräusche eines Kampfes, nicht Geräusche einer Rekonstruktion, Bohrungen wurden ins Erdinnere vorangetrieben, Wände zu benachbarten Wohnungen eingerissen, hartes Wasser strahlte Bilderrahmen in alle Winde. Einmal kam Mr. Tuttle in das Zimmer, in dem ich das Ende seines Besuches erwartete. Zaghaftes Klopfen, seine erstaunlich helle Stimme, ob er mich sprechen könne, stand bald neben meinen Papieren, mit erhitztem Gesicht, staubig, ein Hüne, er müsse jetzt an die Heizung. Dann wieder Hiebe von sonorem Klang, überlegte, was in meiner nächsten Nähe geschah, welche Arbeit präzise die Erschütterung meiner Schreibmaschine, meiner ganzen Person bewirken könnte. Ein Löschzug passierte die Straße vor dem Fenster. Vom Dach des Hauses gegenüber stürzte ein Schneebrett in die Tiefe. Irgendetwas flatterte pfeifend um meinen Kopf herum. Ein Punkt verharrte über der Bodenlinie. — stop
Aus der Wörtersammlung: fotografie
groundzerosekundenzeit
charlie : 22.18 — Kurz nach sechs Uhr abends. Church Street. Auf einer Treppe sitzt ein Mann in einem dunklen Anzug, weißem Hemd, blauer Krawatte. Seit bald einer Viertelstunde, Aktenkoffer zwischen den Beinen, Hände gefaltet, verharrt er in dieser Weise bewegungslos, schaut in den Luftraum über Ground Zero. Presslufthämmer sind zu hören, Tauben picken über den Boden. Eine Armlänge entfernt von dem Mann, der zu beten scheint, balanciert ein sehr viel jüngerer Mann auf den Schultern eines weiteren jungen Mannes. Er hält mit einer Hand einen Fotoapparat so weit wie möglich in die Höhe, um eine Fotografie jenes Ortes aufnehmen zu können, der hinter einem Bauzaun verborgen liegt. Das sieht so aus, als versuche er rückwärts in die Zeit vorzudringen, als wolle er noch etwas vom Verschwundenen, vom Schrecken dokumentieren, all das finden vielleicht, was dort nicht mehr ist, so gründlich wurde aufgeräumt. Wie er jetzt von den Schultern des Freundes springt, fällt ihm der Fotoapparat aus der Hand. Der kleine Blechkasten scheppert über den Gehsteig, Tauben fliegen auf. Auch der Blick des betenden Mannes bewegt sich, flackert für einen Moment in den Räumen der Zeit. — stop
raymond carver goes to hasbrouck heights
echo : 22.12 — Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincoln Tunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
manhattan — bellevue hospital
alpha : 14.15 — Auf einer Bank im Schatten kühlender Bäume gleich neben dem Bellevue Hospital sitzt ein alter Mann in einem blau und weiß gestreiften Pyjama. Er versucht eine Mineralwasserflasche zu öffnen, schimpft vor sich hin in dieser schweren Arbeit, sagt, dass das doch nicht möglich sei, warum sich das verdammte Ding nicht öffnen ließe, er habe die Flasche vor einer Stunde noch selbst zugedreht. Ein graues Eichhörnchen hockt auf mächtigen Hinterbeinen neben ihm, beobachtet die Hände des alten Mannes, bleibt auch dann ganz still, als ich mich nähere und meine Hilfe anbiete. — Ein angenehmer Nachmittag, die Luft ist etwas kühler geworden und trocken, ein leichter Wind raschelt in den Bäumen, die so alt zu sein scheinen, dass der Schriftsteller Malcolm Lowry sich an ihren Stämmen festgehalten haben könnte, damals, im Jahr 1936, als er schwer alkoholsüchtig in enger werdenden Kreisen auf das Krankenhaus zustürzte, um in einem Tage währenden Delirium, Wale über den East River fliegen zu sehen. Der Dichter, der Trinker auf hoher See. Bellevue war in Lowry’s Kopf zu einem Schiff geworden, dessen Planken unter ihm ächzten, in den Stürmen, die sein armes Gehirn durchleben musste, in Fieberschüben, unter den schwitzenden Händen der Matrosenärzte, die ihn an sein Bett fesselten. Und wie er dann selbst, oder jene Figur, die Malcolm Lowry in seiner großartigen Erzählung Lunar Caustic gegen das Alkoholungetüm antreten lässt, nach Wochen der Abstinenz aufrecht und leichtfüßig gehend durch den Haupteingang des Hospitals wieder festen Boden betritt, schon die nächste Flasche Absinth vor Augen hier am East River, an einem Tag wie diesem Tag vor langer, langer Zeit.
lichtbilder
tango : 22.55 — Prozession der Holzkohlewagen abends in der Dämmerung auf der Fifth Avenue südwärts. Fäden weißen Rauches, die sich den Luftbewegungen der Seitenstraßen beugen. Im Café, am Nebentisch, eine Frau, die gegen den Himmel fotografiert. Das künstliche Geräusch der Kamera im Moment der Aufnahme, ein wegwerfendes Geräusch, visieren, festhalten, vergessen. Wie viele Bilder sind genommen, ohne je betrachtet worden zu sein? — Zur Mittagszeit ein griechischer Mann auf dem Fährschiff nach Ellis Island. Scheue Blicke der Enkelkinder, die sein uraltes Gesicht betasten, während er schläft. Sie halten Windräder in Händen, die sich schnurrend drehen. Ihre Mutter, die Tochter, lehnt an der Reling. — stop
ground zero
sierra : 18.16 — Zwei Stunden Broadway südwärts bis Fultonstreet. Eine kleine Kirche, St Paul’s Chapel, Granitsteine, Gräber, ein Garten unter Bäumen. Ich kenne diesen Garten, diese Bäume, eine Fotografie genauer, die einen Staubgarten zeigt, Sekundenzeit entfernter Gegenwart, ein Bild, das im September 2001 aufgenommen wurde, am elften Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vormittags. Hellgraue Landschaft, Papiere, größere und kleinere Teile, liegen herum, Akten, Scherben. Auch die Bäume vor der Kirche, helle Gestalten, als hätte es geschneit, eine feine Schicht reflektierender Kristalle, Spätsommereis, das an Wänden, Stämmen und an den Menschen haftet, die durch den Garten schreiten, träumende, schlafwandelnde, jenseitige Personen im Moment ihres Überlebens. Ein merkwürdiges Licht, beinern, nicht blau, nicht blühend wie am heutigen Tag um Jahre weitergekommen. Etwas fehlte in der Luft im Raum unter dem Himmel über Manhattan sehr plötzlich, war so fein geworden, dass es von flüchtenden Menschen eingeatmet wurde. Kaffeetassen. Treppenläufe. Hände. Feuerlöscher. Füße. Waschbecken. Nieren. Stühle. Schuhe. Computerbildschirme. Arme. Brüste. Kopfschalen. Radiogeräte. Bleistifte. Telefone. Ohren. Augen. Herzen. stop
mann ohne mund
tango : 22.16 — Dreifach einem Mann ohne Mund begegnet, jedes Mal unter der Lexington Avenue gegen den Abend zu fahrend, wenn sich die Züge füllen mit Pendlern in alle Richtungen des Himmels. Das Pfeifen der Luft, die den Saum einer Öffnung am Hals des Mannes in Schwingung versetzt, ich hörte es in nächster Nähe, ich hörte es im Traum, ich erinnerte es bei einer zweiten Begegnung sofort, als wäre das pfeifende Flattern eine Stimme, da war er noch entfernt, da sah ich sein zerstörtes Gesicht durch die Menge der Reisenden näherkommen, sah seine gleichwohl vom Feuer versengten Hände, rosa leuchtende Haut da und dort, die Ahnung einer Nase, sein Auge, das letzte, gerötet von der Anstrengung und vom Ausdruck der Dankbarkeit, mit dem er jeden unter der Stadt reisenden Menschen bedachte, sobald er sich Davids Geschichte lesend näherte, sprechenden Fotografien vor einer ruhig atmenden Brust: Ich, ich habe in Bagdad mein Gesicht verloren in einer Sekunde an einem Abend wie diesem Abend, in einem Sommer wie diesem Sommer. Und wie er jetzt weitergeht, wie er die Stille mit sich nimmt. Auch ich habe kein Wort zu ihm gesagt, als ob ein Mann ohne Mund nicht hören könne. — stop
schlafbild
bamako : 22.15 — Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, Louisiana’s schillernde Küste. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt, lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen? — stop
standby
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : STANDBY
Mein lieber Jonathan, Mittwoch ist geworden, früher Morgen, höchste Zeit, eine Nachricht zu übermitteln, die Sie vielleicht traurig stimmen wird. Sie haben gehört, eine Insel nahe Grönland spricht seit Tagen mittels Feuer und Asche zur Welt. Vermutlich werden Sie sich fragen, warum ich Ihnen davon erzähle. Nun, der Himmel über Europa ist zu einem unsicheren Ort geworden, Staubsteine fliegen durch die Luft in großer Höhe, es ist denkbar, dass sich meine Reise zu Ihnen nach Amerika verzögern wird. Ich habe deshalb eine Bitte an Sie, lieber Mr. Kekkola, den dringenden Wunsch habe ich, dass Sie selbst, sollte ich im Mai, am 2. des Monats, nicht auf Coney Island erscheinen, für mich dort sitzen und den Horizont fotografieren werden, unsere Elefanten, Sie verstehen, Spuren unserer Elefanten! Ich wäre Ihnen so sehr herzlich dankbar, mein lieber Freund. Machen Sie sich um Gotteswillen unverzüglich auf den Weg! Bis bald, ich hoffe, bis bald! STANDBY. – Ihr Louis. Ahoi ps. Besitzen Sie eine Kamera?
gesendet am
21.04.2010
6.22 MESZ
1002 zeichen
feuerblume
marimba : 6.28 — Kurz nach Mitternacht. Hunderte gestrandeter Menschen liegen, Flughafenterminal 2, auf Feldbetten, schlafen unter grauen Decken, still, als seien sie ohne Träume, bewegungslos, verpuppt. Saß auf einer Bank in nächster Nähe, wartete, notierte: Die Augen der Papiertierchen befinden sich im Zentrum ihrer Körperscheibe, eines erhaben aufwärts, das andere erhaben abwärts gerichtet. Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand, so ist ihre Welt beschaffen. stop – Nie werden diese Augen sehen, was ich in vergangenen Stunden mit menschlichen Augen auf dem Bildschirm meines Computers beobachtete. Fotografien einer Feuerblume aus dem Eis, ihr tiefschwarzer Atem, das Blut der Erde, ursprünglichste Kraft. — Bleibt noch, mit den Winden zu sprechen.