tango : 20.02 — In der Schnellbahn hörte ich eine Stimme, die von Blütenbestäubern erzählte. Immer wieder unterbrochen von scheppernden Maschinengeräuschen, welche Haltestationen kommentierten, vermochte ich nicht alle Fäden der Geschichte wahrzunehmen. So viel habe ich verstanden. Ein Apfelbaumgarten soll existieren, dessen Bienenvölker verstorben sind, auch Hummeln und Wespen und Schmetterlinge seien nicht erschienen, nicht einmal Falter, nur selten Vögel, Dompfaffen und Zeisige, Sperlinge aber nicht. Es sei nun der Aufruf ergangen, man möge sich, wenn man Zeit finden könne, melden, man würden dann mittels eines feinen Pinsels auf einer Leiter in die Bäume steigen, um Biene oder Zitronenfalter zu spielen. Wie gern würd ich mich melden, wenn ich nur wüsste, wo und bei wem? — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
synopse
ginkgo : 12.08 — In einem mehrstündigen, äußerst strapaziösen Versuch, Gedanken auszutauschen mit Menschen, die eine Twitterhöllenkammer befeuern, habe ich Folgendes gelernt. Es ist nämlich so, dass in der Vorstellung dieser Menschen bald Ankerzentren existieren werden, umzäunte Gebiete, die Personen beherbergen, Personenmenschen, welche aus dem Süden bereits zu uns gekommen sind oder furchtbarer Weise noch kommen werden. Weiterhin habe ich bemerkt, dass Menschenpersonen, die sich in jenen umzäunten und bewachten Gebieten zwangsweise aufhalten sollten, in der Wahrnehmung der Höllenkammerbewohner immerzu jung sind und gesund und Männer. Man vermutet, dass diese männlichen Menschenpersonen möglicherweise schwächere Menschen auf hoher See vorsätzlich von Bord gestoßen haben könnten, vorwiegend Kinder und Mädchen, das ist selbstverständlich reine Behauptung, die durch stetige Wiederholung in der Höllenkammer stetig zur Gewissheit wird. Diese jungen Männer nun, sie sind sehr häufig von schwarzer oder dunkler Haut bedeckt, sollen außerdem über finanzielle Mittel gebieten, die ihre Flucht oder Reise überhaupt erst möglich machten, sie seien also, so erzählt man, weder arm noch in irgendeiner Weise hilfsbedürftig, sie würden beileibe nicht südlichen Hungergebieten entkommen oder vor Bürgerkriegen geflohen sein, vielmehr sollen sie von irgendwoher angereist sein wie aus dem Nichts, um auf Kosten verarmter Ureinwohner in der Mitte Europas Mischbevölkerung zu erzeugen. Weil sie sich sorgfältig kleiden, weil sie über Telefone gebieten, weil sie mitnichten ausgehungerte Elendsgestalten sind, werden sie verdächtigt, gut organisierte Ankermenschen zu sein, Vorhut oder Schlimmeres. Ja, so in dieser Art und Weise wird vorgestellt, wird ausgedacht, wird Gewissheit erzeugt. Ich stelle fest: Menschen, die keine Menschenpersonen, sondern Patrioten sind, Menschen, die in dieser skizzierten Gewissheit leben, sind empfindlich, sind wütend, sobald man sich mittels Wörtern fragend nähert. Sie schreiben unverzüglich zurück, dass man den Fragenden selbst sehr gerne pfählen würde bei lebendigem Leibe, erschießen, nach Afrika verjagen, da doch der Fragende ein linker Faschist sei, ein Antisemit, ein Mitvergewaltiger, das Böse schlechthin. stop. Die Sonne ist rund. — stop
samuel beckett : 16 steine
romeo : 3.25 UTC – Ich nutze diesen Aufenthalt, um mich mit Steinen zum Lutschen zu versorgen. Es waren kleine Kiesel, aber ich nenne sie Steine. Ja, dieses Mal brachte ich einen bedeutenden Vorrat von ihnen zusammen. Ich verteilte sie gleichmäßig in meinen vier Taschen und lutschte sie nacheinander. Dadurch entstand ein Problem, das ich zunächst auf folgende Art löste: Angenommen, ich hatte sechzehn Steine und vier davon in jeder meiner vier Taschen, nämlich in den zwei Taschen meiner Hose und den zweien meines Mantels. Wenn ich einen Stein aus der rechten Manteltasche nahm und in den Mund steckte, so ersetzte ich ihn in der rechten Manteltasche durch einen Stein aus der rechten Hosentasche, den ich durch einen Stein aus der linken Hosentasche ersetzte, den ich durch einen Stein aus der linken Manteltasche ersetzte, den ich wiederum durch den Stein in meinem Mund ersetzte, sobald ich mit dem Lutschen fertig war. Auf diese Weise befanden sich immer vier Steine in jeder meiner vier Taschen, aber nicht genau dieselben … / Mittwoch. stop. Wieder Samuel Becketts wunderbarer Text der sechzehn Steine an diesem späten Abend. Dunkel. Schwere, würzige Luft der Kastanienblüte. Nachtbienen pfeifen am Fenster vorüber. Das war schon einmal so gewesen. — stop
glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller
~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER
Lieber Mr. Nabokov, vor langer Zeit, Sie erinnern sich vielleicht, hatte ich Ihnen einen Brief notiert, welchen ich heute wiederentdeckte. Plötzlich war ich mir nicht sicher, ob Sie den Brief tatsächlich erhalten haben, deshalb sende ich ihn unverändert ein weiteres Mal: Gestern Abend, nach einem Spaziergang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halbwegs betrunkene Freunde saßen, habe ich mich an ihre Vorlesung über Franz Kafkas Verwandlung erinnert, an Ihre liebevolle und akribisch genaue Untersuchung des Textes, an ihre Käferzeichnungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstellung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa eingeschlossen worden war. Ja, die Genauigkeit, mit der man sich erfindend einem Gegenstand nähert oder die Genauigkeit, mit der man einen erfundenen Gegenstand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Untersuchungen, Ihrer Methode. Vorgestern hatte ich bei einer ersten Annäherung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propellerflügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Organismen nur sehr schwer zu verwirklichen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Organismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstellung der Propellerflügel nicht so ohne Weiteres aufzugeben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus organischen Materialien bestehen wird, vielleicht auf atomarer Ebene einem flugfähigen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Moleküle, die im Moment einer Flugbewegung, den Rotor von Haut und Knochen einerseits anzutreiben in der Lage sind und andererseits je für einen kurzen Moment in die Freiheit entlassen. Und jetzt bin ich glücklich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – Mit allerbesten Grüßen, Ihr Louis - stop
tasmanien
echo : 22.15 UTC — In den Magazinen eines Briefmarkenhändlers entdeckte ich kürzlich einen besonderen Brief. Der Brief war mit Postwertzeichen Italiens, Frankreichs und Großbritanniens versehen, eine nicht übliche Art der Frankierung. Weiterhin war der Brief an eine weibliche Person adressiert, wohnhaft in einer Stadt, die überhaupt nicht existiert: 85, Teatree-City / Tasmania. Unter dieser handschriftlichen Ortsangabe nun fand sich eine filigrane Buntstiftzeichnung, deren Schönheit sich zunächst im Licht eines starken Vergrößerungsglases erschloss. Sie zeigte ein Kreuzfahrtschiff, das eine Küste passiert, dort eine bergige Landschaft, dicht bewaldet. Affen, vermutlich Gibbons, waren zu erkennen, die an ihren Schwänzen oder langen Armen in den Bäumen hingen. Manche der Affen hielten die Augen geschlossen, vermutlich, weil sie schliefen, andere schienen den Künstler selbst, der sie gestaltete, zu beobachten. Da waren noch zwei Panther im Unterholz, einige Muscheln im Sand, und Krabben, und fliegende Fische. Über den Stamm eines Baumes wanderten Ameisen, welche Einzelteile eines Vogels transportierten, Federn, Teile eines Schnabels, Knochen. Über einen Absender verfügte der Brief übrigens nicht, auch nicht über fühlbaren Inhalt. — stop
moskau
tango : 22.01 UTC — Am 4. August 2014 ereignete sich eine seltsame Geschichte, Sie werden sich vielleicht erinnern? Vor einem Schalter am Zentralbahnhof stand damals eine alte Dame. Sie trug ein blaues Hütchen auf dem Kopf, war grell geschminkt und lachte. Auf den ersten Blick schien sie fröhlich zu warten wie ihr kleiner Koffer, der gleich neben ihr stand. Auf den zweiten Blick war allerdings zu sehen, dass sie nicht nur wartete, sondern vielmehr bewacht wurde von einer weiteren, sehr viel jüngeren Frau und einem Mann, der die Uniform einer Bahngesellschaft trug. Wie Säulen standen sie links und rechts der alten Reisenden, die junge Frau hatte überdies die Handtasche der Bewachten an sich genommen, um sie zu durchsuchen. Eine ihrer Hände wühlte so heftig in der Tasche herum, dass ein Rascheln weithin zu vernehmen war. Sie forschte ein oder zwei Minuten in dieser wilden Art und Weise. Weil sich aber in der Börse der alten Dame kein Dokument zur Identifizierung aufspüren ließ, schüttelte sie den Kopf, beugte sich noch einmal herab, sprach leise zu der zierlichen Erscheinung hin, um sich kurz darauf an einen Schalterbeamten zu wenden, der hinter spiegelndem Glas auf einem Bürostuhl saß. Dieser Herr nun führte kurz darauf ein Mikrofon an seinen Mund, eine warme, melodische Stimme war zu hören, die durch die Bahnhofshalle schallte, sie sagte: Achtung! Wir bitten um ihre Aufmerksamkeit, vor dem Informationsschalter Gleis 24 wartet ein Personenfundstück. Melden Sie sich! — Diese Geschichte ereignete sich kurz bevor der Fernzug aus Moskau via Warschau den Bahnhof erreichte. Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen. Manche hielten Blumen in ihren Händen. Andere fotografierten. — stop
ponge
alpha : 20.05 UTC — Die Gegenstände eines Menschen berühren: Einen Stuhl, einen Schreibtisch, einen Füllfederhalter, einen Löffel. Ich erinnere mich, in Francis Ponge’s Kiefernwald lagen weder botanische noch geografische Bücher. Oder einen Schal, ein Fieberthermometer, einen Handschuh, ein Salzfässchen, ein Buch, eine Postkarte, einen Kamm, einen Herzschrittmacher, eine Teetasse, eine Schreibmaschine, einen Fotoapparat. Ein Haar — stop
haus no 178
romeo : 20.33 UTC — Wie viele Male bin ich bereits an dem Büro im Parterre des Hauses No 178 vorüber gekommen, es müssen hunderte Male gewesen sein. Ein Mann sitzt dort hinter einem Fenster, der im Licht einer Lampe und eines Bildschirmes arbeitet, ohne je seinen Kopf zu heben, wenn ich an ihm vorübergehe. Andere berichten das Gleiche. Und das ist doch seltsam, er scheint an dem Leben auf der Straße überhaupt nicht interessiert zu sein. Nie wendet er den Kopf, als sei er fest verschraubt, als sei auch seine Wirbelsäule verankert in dieser Haltung geradeaus auf einem Stuhl, der gleichwohl nicht beweglich ist, sodass der Mann weder freiwillig noch mit Vergnügen so vor dem Tisch sitzen wird, sondern weil er nicht anders kann. Und weil das so zu sein scheint, wird der Mann vermutlich über Radare gebieten, die ihm ermöglichen zu wissen, wer an seiner Tür vorüber kommt. Er weiß nämlich immerzu genau, wer kommt und wieder verschwindet, vermutlich kann er sehr gut riechen oder aber er kann sehr gut hören, kann mit den Ohren sehen. Er irrt sich, wie ich hörte, nie. — stop
von stühlen
nordpol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Menschen sitzen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fernsehapparat, der an der Wand hängt, flach wie ein Schollenfisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen nehmen kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist ausgeschaltet, der Fisch ist stumm. So sitzen sie zeitlos, wie mir scheint, sie erinnern sich vermutlich nicht, ob ich an diesem Tag schon an ihnen vorüber gekommen bin, aber sie kennen mich, den treuen Besucher, ich habe doch einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mich über einen langen Flur spazierend dem Raum der alten Damen nähere, weiß ich präzise vorherzusagen, welche der Damen auf welchem der Stühle sitzen wird, vor dem Tisch, der dreimal am Tag sich füllt, mit Speisen, auch mit Kaffee oder gekühltem Himbeersaft. Nur wenn das Wetter sich Hals über Kopf verändern wird, davon erzählen leere Stühle, die doch von den Abwesenden besetzt sind, sie warten oder schlafen nachts im Halbdunkel, schlafende Stühle. — stop
ramin
charlie : 7.55 UTC — Theodor erzählte, er sei mit einem jungen Mann befreundet, der in Isfahan im Iran geboren wurde. Er heiße Ramin und lebe seit zehn Jahren in Europa, einmal für vier Jahre in Rom, dann zwei Jahre lang in Genf, immer an der Seite seiner Eltern, Mutter wie Vater Sprachwissenschaftler. Zurzeit nun lebt Ramin in Hamburg. Volljährig geworden, wollte er im vergangenen Jahr, im Winter präzise, nach New York reisen, ein großer Traum, einmal über die Brooklyn — Bridge spazieren hin und zurück, leider habe er keine Einreiseerlaubnis erhalten. Das könne länger dauern, habe man ihm gesagt, dass er nicht einreisen könne, er solle sich keine Hoffnungen machen, es handele sich um eine politische Entscheidung, er sei gefährlich geworden von einem Jahr zum anderen Jahr. Seither erfindet Ramin die Stadt New York, indem er kleine Geschichten über sie notiert. Er hatte bemerkt, dass ihm Freude mache, Filme, die in New York aufgenommen worden seien, zu inspizieren. In China Town nahe dem Collect Pond Park habe er angefangen, von dort aus arbeite er sich weiter nordwärts voran von Straße zu Straße, sammle Fotografien, Ansichten der Google Earth Anwendung, so entstünde eine Art Spaziergang, hochauflösend, nordwärts in Richtung Central Park. Er mache sich gewissermaßen ein Bild aus Bildern oder sehr kurzen Filmen, und irgendwann werde er dieses Bild überprüfen, wie es riecht, sobald er persönlich nicht mehr gefährlich sein wird. — stop