india : 22.02 – In einem New Yorker Subwayzug mit geschlossenen Augen freihändig stehen und balancieren, sagen wir eine zweistündige Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Boulevard. Das Reiten auf einem wilden Tier. Vielleicht könnte ich sagen, dass das Erlernen einer Subwaystrecke, das neuronale Verzeichnen ihrer Steigungen, ihrer Gefälle, ihrer Kurven, auch ihrer feinsten Unebenheiten, dem wortgetreuen Studium eines Romantextes vergleichbar ist. Aber dann die Zufälle des Alltages, das Unberechenbare, ein Tunnelvogel, eine schmutzige Möwe, Höhe 135. Straße, die den Zug zur Bremsung zwingt, die Eigenart des Zuges selbst, das unvorhersehbare Verhalten zusteigender Fahrgastpersonen, wie sich eine Jazzband nähert, wie ich dringend darum bitte, man möge nicht näher kommen. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
samuel beckett : 16 steine
india : 3.25 – Ich nutze diesen Aufenthalt, um mich mit Steinen zum Lutschen zu versorgen. Es waren kleine Kiesel, aber ich nenne sie Steine. Ja, dieses Mal brachte ich einen bedeutenden Vorrat von ihnen zusammen. Ich verteilte sie gleichmäßig in meinen vier Taschen und lutschte sie nacheinander. Dadurch entstand ein Problem, das ich zunächst auf folgende Art löste: Angenommen, ich hatte sechzehn Steine und vier davon in jeder meiner vier Taschen, nämlich in den zwei Taschen meiner Hose und den zweien meines Mantels. Wenn ich einen Stein aus der rechten Manteltasche nahm und in den Mund steckte, so ersetzte ich ihn in der rechten Manteltasche durch einen Stein aus der rechten Hosentasche, den ich durch einen Stein aus der linken Hosentasche ersetzte, den ich durch einen Stein aus der linken Manteltasche ersetzte, den ich wiederum durch den Stein in meinem Mund ersetzte, sobald ich mit dem Lutschen fertig war. Auf diese Weise befanden sich immer vier Steine in jeder meiner vier Taschen, aber nicht genau dieselben… / Mittwoch. stop. Samuel Becketts wunderbarer Text der sechzehn Steine an diesem frühen Morgen. Noch dunkel. Schwere würzige Luft der Kastanienblüte. Nachtbienen pfeifen am Fenster vorüber. Ich werde jetzt gleich eine Stunde unternehmen, an die ich mich lange Zeit, vielleicht bis an mein Lebensende erinnern werde. In dieser einen Stunde habe ich nichts zu tun, als diese eine Stunde zu beobachten, und mich selbst, wie ich sie passiere. stop. — 3 Uhr 35
eisschrank
himalaya : 5.57 — Ob es möglich ist, einen hölzernen Kühlschrank zu bauen? Keine halbe Sache. Nichts Postmodernes. Nicht einen Kühlschrank von Edelholz verkleideter Tür beispielsweise. Nein, ein wahrhaftig hölzerner Kühlschrank müsste durch und durch aus Holz bestehen, jede Schraube, jede seiner Wände, jedes Fach, auch das Eisfach, wären organischen Ursprungs. Kann ich einen Kühlschrank ernsthaft denken, der wie eine Schreibmaschine mit einer Handkurbel zu bedienen ist, einen Kühlschrank, der im Frühling austreiben wird und blühen im Mai, sagen wir einen Kühlschrank, den jede Biene für einen Magnolienbaum, und jedes Scoiattolo für einen Ginkgo halten möchte? — stop
malta : carmelite church
delta : 22.07 – Als er mich über die Straße kommen sieht, erhebt sich der alte Mann von dem Stuhl vor der Tür seines Hauses. Sofort, schon von Weitem, hat er mich wiedererkannt, vielleicht an dem roten Pullover, den ich über meinen Schultern trage oder an meinem Gang. Jetzt folgt er mir grußlos in die Kirche an der Old Mint Street, deren Kuppelbau die Silhouette der Stadt Valletta weithin prägt. Gestern noch haben wir ein kleines Gespräch geführt vor dem Gotteshaus, das dem alten Mann kostbar zu sein scheint, ein Ort, den er zu schützen versucht, vor Personen wie mir beispielsweise, die kommen und gehen wie sie wollen, ohne je einmal zu fragen, ob es statthaft sei, an diesem heiligen Ort zu fotografieren. Jetzt will er mich prüfen, will mein Versprechen genauer, das ich gegeben habe, prüfen, ob ich es einhalte, ob ich glaubwürdig sei. Und so sitze ich bald unweit des Altars, der alte Mann ein paar Reihen hinter mir, und überlege, ob es möglich sein könnte, in dieser Kirche ein Aquarium zu errichten, ein Glasgehäuse von enormer Größe, in dem Kiemenmenschen schweben und somit in der Lage sein würden, an heiligen Feiern unter Lungenmenschen teilzuhaben. Lange Zeit sitze ich fast bewegungslos, dann beginne ich einige Sätze in mein Notizbuch zu schreiben, fertige eine Zeichnung an, einen Grundriss in etwa, der Kirche und einiger Positionen, da ein Aquarium zu errichten sinnvoll wäre. Und wie ich so leise vor mich hin arbeite, kaum wage ich zu atmen, höre ich, wie der alte Mann hinter mir sich erhebt, er kommt an mir vorüber, bleibt einige Minuten in meiner Nähe stehen, verbeugt sich bald vor dem Altar und verlässt die Kirche durch einen Seiteneingang. — Sonntag. Ich habe heute Bäume entdeckt, die mit ihren weichen Blättern seltsame Nüsse bebrüten. — stop
malta : operation odyssey dawn
echo : 22.01 – Zu Fuß die Straße von Mdina rauf zu den felsigen Höhen, ihrem großartigen Blick südwärts über das Meer. Links und rechts der asphaltierten Straße, Felder, wie in Fächer gelegt von steinernen Wällen umgeben. In den Blättern der Kakteengewächse sitzen Schnecken in Höhlen und schmausen vom faulig gewordenen Fleisch. Was ich höre in diesen Minuten des Laufens ist der Wind, der sich an den Widerständen der wilden Landschaft reibt. Er scheint gegen die steilen Felsen, die schon in nächster Nähe sind, himmelwärts zu pfeifen, ein afrikanischer Wind an diesem Tag ein Mal mehr, ein Wind aus einem militärischen Operationsgebiet, das einen Namen trägt: Odyssey Dawn. Aber vom Krieg ist nichts zu sehen an dieser Stelle, in diesem Moment, da ich die Cliffs erreiche, wie mein Augenlicht sich zu einem Kameralicht verwandelt, wie das Land unter den Füßen weicht, wie ich für einen kurzen Moment glaube, abheben zu können und zu fliegen weit raus auf himmelblaue Wasserfläche, deren Ende nicht zu erkennen ist. Kein Flugzeug, kein Schiff, außer einem kleineren Boot, das auf dem Weg nach Misurata sein könnte, eingeschlossenen Menschen Mehl und Medikamente zu bringen. Tauben lungern im bereits tief über dem Horizont stehenden Licht der Sonne auf warmen Steinen, Eidechsen, grün und blau und golden schimmernd, sitzen erhobenen Kopfes und warten. Sie benehmen sich, als hätten sie noch nie zuvor ein menschliches Wesen gesehen. — stop
malta : eine scheeweiße frau
tango : 10.18 – Kurz nach 10 Uhr morgens sind heute ein paar seltsame Dinge geschehen. Ich saß auf einem schmalen Balkon in angenehmster Luft und hörte dem bezaubernden Gesang eines nicht sichtbaren Vogels zu. Eine Fähre, vielleicht von Sizilien her, kreuzte indessen den Ausschnitt des Meeres, den ich von meinem Stuhl aus wahrnehmen konnte. Sobald sie verschwunden gewesen war, öffnete ich die Times vom Vortag und las, dass noch immer nicht bekannt geworden sei, wo der chinesische Künstler Ai Weiwei gefangen gehalten wird. In Japan versuchte man weiterhin unter höchster Gefahr in verseuchtem Gebiet, Opfer des Tsunami zu bergen. In diesem Moment öffnete sich ein Fenster jenseits der Straße, eine Frau, deren Gesicht schneeweiß gewesen war, starrte mich für einige Sekunden an. Das war ein merkwürdiger Blick, ein Blick, als ob sie mich in diesen Sekunden mit ihren Augen fotografieren würde. Bald zog sie ihren Kopf wieder zurück in den Schatten des Raumes, um kurz darauf wiederzukehren, mit einem Korb in der Hand, der an einer Schnur befestigt war. Sie seilte den Korb zur Straße hin ab, sah mich in dieser Bewegung wieder fotografierend an, beobachtete demzufolge, wie ich ihrem Korb mit den Augen folgte. Vor dem Haus weit unter uns wartete ein Briefträger. Der junge Mann entnahm dem Korb ein Schriftstück und legte stattdessen eine Flasche hinein. Unverzüglich holte die Frau den Korb wieder zu sich nach oben. Kräftige Bewegungen ihrer dürren Arme. Auch ihre Arme waren so strahlend weiß, dass ich den Eindruck hatte, sie wären aus Licht gemacht oder von der Einsamkeit des Zimmers. — stop
=
echo : 8.02 — z u n g e n p a p i l l e n z e l l e
prypjat
echo : 5.57 — Die Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut lag über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen trugen Taschen, andere hielten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad glaubte ich gesehen zu haben, Bäume von hellem Grün, und den Himmel, wolkenlos. Aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Unheimliches, da waren Punkte, Kreise, helle Erscheinungen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchten sie auf und waren sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet traten sie aus der Bewegung des Films hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein konnte, ob die Erscheinung, die er gerade wahrgenommen hatte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht, das ich vor einigen Jahren beobachtete, zeigte Verletzungen des bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Graphitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden konnte, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben mochten, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. — Ich muss meine Erinnerung sofort überprüfen. — stop
existenz
himalaya : 3.38 — Von allen intensiven Lebensmomenten war einer der Schönsten jener gewesen, als mich ein Mensch, der mir sehr nahe ist, wiedererkannte. Ein Blitz war ihm nachts in den Kopf gefahren, hatte Bedeutungen der Gegenstände und Orte und Menschen derart umgeschrieben, dass er nicht mehr sagen konnte, wo er sich gerade befand, dass er einen Baum für eine Birne halten wollte, einen Fernsehapparat für den Mond, und mich persönlich für einen wildfremden Menschen, eine Person, deren Namen und deren Gesicht er nie zuvor gesehen haben wollte. Ein Blick, fremd, kalt. Ein Blick, der nach langen Wochen des Wartens nachdenklich wurde, der wieder wärmen konnte, weil er sich der Vertrautheit seines Gegenübers zu erinnern schien. Wie ich in der Zeit der Verlorenheit mit meiner Stimme lockte, mit Geschichten, die wir gemeinsam erlebten, kleinen Alltagsverbrechen, Fotografien, Musik. Ich bin kein Anderer! Und wie der suchenden Nachdenklichkeit Erinnerung folgte, ein Licht, Irisbrennen, das meinen Namen noch vor Mund und Stimme formulierte. Und wie ich nach langer Abwesenheit von einer Minute zur anderen im gemeinsamen Augenraum wieder zu existieren begann, davon wird einmal zu erzählen sein. stop. Heute ist Montag. stop. Leichter Regen. stop. Drei Uhr zweiundfünfzig in Bengasi, Libyen. — stop
von der hölle / von der hoffnung
marimba : 0.55 — Sie singen wieder! Vielleicht haben Sie nie aufgehört. Teheran bei Nacht. Auch Persiankiwi und Fereshteh Ghazi, die für lange Zeit verstummten, senden auf Position Twitter. Der Eindruck, ein Film, der im Sommer 2009 angehalten wurde mit extremen Mitteln staatlicher Gewalt, setze sich langsam erneut in Bewegung. stop. Das Schweigen. stop. Die Stille. stop. 18 Monate. stop. stop. / 26. juni 2009 : F. erzählt von Nächten, die er vor 30 Jahren in den Straßen und auf den Dächern über der Stadt Isfahan verbrachte. Das Rufen tausender Stimmen: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfunden, um den Schah zu vertreiben, auch ältere Menschen konnten sich in dieser Weise bemerkbar machen. Wir kämpften für Demokratie, hörten BBC, um herauszufinden, ob irgend jemand wahrnimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du verstehen, wie ich mich jetzt fühle? – Furchtbar wurden sie betrogen, eine Generation im Exil. – Kurz nach Mitternacht. Fereshteh Ghazi, junge Journalistin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehran & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Finger wund. Persiankiwi aber, dessen Zeichen ich viele Stunden lang auf dem Bildschirm erwartete, ist verstummt. Vorgestern noch Zeilen auf Twitter folgende: > just in from Baharestan Sq – situation today is terrible – they beat the ppls like animals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with broken arms/legs/heads – blood everywhere – pepper gas like war 3:35 PM Jun 24th
they were waiting for us – they all have guns and riot uniforms – it was like a mouse trap – ppl being shot like animals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia beating one woman with baton on ground – she had no defense nothing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arrested – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia standing there waiting – from 2 sides they attack ppl in middle of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was closed – nowhere to go – they follow ppls with helicopters – smoke and fire is everywhere 4:03 PM Jun 24th phone line was cut and we lost internet – getting more difficult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are tracking high use of phone lines to find internet users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fighting in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baharestan we saw militia with axe choping ppl like meat – blood everywhere – like butcher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobile – so many killed today – so many injured – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lalezar Sq is same as Baharestan – unbelevable – ppls murdered everywhere – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like factory – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Everybody is under arrest & cant move – Mousavi – Karroubi even rumour Khatami is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get internet – they take 1 of us, they will torture and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 supporting Sea of Green – pls remember always our martyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the creator of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th