Aus der Wörtersammlung: heimlich

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PRÄPARIERSAAL : erste schritte erste minuten

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nord­pol : 3.12 — Abends spät erreicht mich die E‑Mail eines jun­gen Man­nes, den ich längst ver­ges­sen hat­te, ich mei­ne, ich hat­te ver­ges­sen, dass die­ser Mann jemals exis­tier­te, weil ich lan­ge Zeit, ein Jahr unge­fähr, nicht an ihn dach­te. Sein Name ist Elia. Elia hat­te auf eine Fra­ge, die ich ihm schrift­lich stell­te, nicht geant­wor­tet. Irgend­wann habe ich auf­ge­hört zu war­ten, ich kann nicht sagen, wann genau das gewe­sen sein könn­te, im Win­ter viel­leicht oder bereits im Herbst. Selt­sam ist, das fällt mir in die­ser Minu­te des Notie­rens auf, dass ich nie wahr­neh­men kann, wenn ich etwas ver­ges­se, den exak­ten Zeit­punkt des Leich­ter­wer­dens genau­er, weil ich das Ver­ges­sen stets mit einem Ein­druck der Schwe­re­lo­sig­keit in Ver­bin­dung setz­te. Das Ver­ges­sen scheint ein heim­li­cher Pro­zess zu sein, so heim­lich, dass ich erst dann, wenn etwas Ver­ges­se­nes zurück­kehrt ins Leben, über­haupt in der Lage bin, sein Ver­schwin­den zu bemer­ken. Nun ist sie also wie­der hier bei mir, mei­ne ver­ges­se­ne Fra­ge. Ich hat­te Elia gefragt, wie er die ers­ten Minu­ten in einem ana­to­mi­schen Prä­pa­rier­saal erleb­te. Er beob­ach­te­te Fol­gen­des: > Zuerst habe ich das Gebäu­de von außen gese­hen, die Milch­glas­fens­ter, die rie­si­gen Röh­ren an den Fens­tern vor­bei und die Run­dun­gen des ver­hei­ßen­den und mich ängs­ti­gen­den Rau­mes. dann hat mich das ehr­wür­di­ge Gebäu­de ver­schluckt. die Trep­pe hin­auf konn­te ich die­sen wider­li­chen Geruch atmen. ich fand es unglaub­lich, mit wel­cher Lie­be zum Detail die­ses Gebäu­de aus­ge­stat­tet ist. auf der Suche nach einem Ansprech­part­ner habe ich die Ver­zie­run­gen im Boden bewun­dert. nach­dem ich die Erlaub­nis bekom­men hat­te, bin ich den lan­gen Gang an den haut­far­be­nen Spin­den vor­bei­ge­gan­gen zur Tür des Prä­pa­rier­saa­les. sie war ver­schlos­sen. aber durch den klei­nen Spalt konn­te ich in eine Apsis vol­ler mit rot leuch­ten­den Wachs­tü­chern bedeck­ter Kör­per sehen. ich habe nur die Tücher gese­hen, aber ich wuss­te, was dar­un­ter sein wür­de und war mir dabei trotz­dem nicht sicher. ich hat­te Angst. in der Nacht hat­te ich Alb­träu­me und mach­te Sezier­ver­su­che. am nächs­ten Tag hat­te ich mei­nen fri­schen wei­ßen Kit­tel dabei, der aber durch das Bevor­ste­hen­de schon jetzt mit einer selt­sa­men Schwe­re ver­se­hen war. ich wur­de an ein paar Assis­ten­ten über­ge­ben. wil­len­los folg­te ich ihnen mit einer Mischung aus Angst und Neu­gier in den Saal. nach fünf Schrit­ten blieb ich ste­hen. ich hat­te das Gefühl, ich wür­de auf­ge­saugt vom Geruch und dem tosen­den Lärm der klap­pern­den Instru­men­te. mir war heiß und kalt. ich muss­te mich wider­wil­lig zwin­gen tie­fer zu atmen. und atme­te noch inten­si­ver den süß­lich ste­chen­den Duft des For­mal­ins. dies­mal mit den ent­spre­chen­den Bil­dern vor mei­nen Augen. ich befahl mir genau hin­zu­se­hen. ich zwang mei­ne Augen ihre Bli­cke über die Kör­per schwei­fen zu las­sen. um nicht mit den Mosai­ken im Boden zu ver­schmel­zen, muss­te ich alle Bil­der vor mei­nen Augen mit Wör­tern versehen.

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prypjat

9

echo : 5.57 — Die Stadt Pryp­jat an einem son­ni­gen April­tag des Jah­res 1986. Duns­ti­ge Haut lag über far­bi­gen Bil­dern des Films, spie­len­de Kin­der vor Häu­ser­blocks, ein Karus­sell, ein Rie­sen­rad, fla­nie­ren­de Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, All­tag, Frie­den. Man­che der Men­schen tru­gen Taschen, ande­re hiel­ten ihre Söh­ne und Töch­ter an der Hand, ein Drei­rad glaub­te ich gese­hen zu haben, Bäu­me von hel­lem Grün, und den Him­mel, wol­ken­los. Aber da war noch etwas ande­res gewe­sen, etwas Unheim­li­ches, da waren Punk­te, Krei­se, hel­le Erschei­nun­gen, in Bruch­tei­len rasen­der Zeit tauch­ten sie auf und waren sofort wie­der ver­schwun­den. So rasch und so uner­war­tet tra­ten sie aus der Bewe­gung des Films her­vor, dass ein mensch­li­cher Betrach­ter nicht sicher sein konn­te, ob die Erschei­nung, die er gera­de wahr­ge­nom­men hat­te, tat­säch­lich zu sehen oder nicht ein Irr­tum sei­nes Gehirns gewe­sen war, hel­le Schir­me, pel­zig, weich. Die­ses blit­zen­de Licht, das ich vor eini­gen Jah­ren beob­ach­te­te, zeig­te Ver­let­zun­gen des bild­tra­gen­den Mate­ri­als an, Ver­hee­run­gen, die durch strah­len­de Teil­chen des bren­nen­den Gra­phit­re­ak­tors zu Tscher­no­byl ver­ur­sacht wur­den, Teil­chen­spur­licht, des­halb so unheim­lich, so tra­gisch, weil die­ses Licht in den Augen des Film­be­trach­ters von einer spä­te­ren Wirk­lich­keit aus wahr­ge­nom­men wer­den konn­te, nicht aber von jenen Men­schen, die sich in der Wirk­lich­keit der Auf­nah­me vor der Kame­ra beweg­ten durch einen lebens­ge­fähr­li­chen Tag, den sie für einen glück­li­chen Tag ihres Lebens gehal­ten haben moch­ten, weil nie­mand sie vor der unsicht­ba­ren Bedro­hung, die sich in der Atmo­sphä­re befand, warn­te. — Ich muss mei­ne Erin­ne­rung sofort über­prü­fen. — stop

ping

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man on wire

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nord­pol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Phil­ip­pe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem win­di­gen Tag heim­lich zwi­schen den Tür­men des World­tra­de Cen­ters gespannt wor­den war, mit Balan­cier­stan­ge in Hän­den auf den Rücken legt. Kei­ne Film­auf­nah­men exis­tie­ren von jenem Moment aus nächs­ter Nähe, aber Foto­gra­fien, die im Wis­sen des Win­des und der Tie­fe einen deh­nen­den, einen zer­ren­den Schmerz in mei­nem Kör­per erzeu­gen. Der Seil­tän­zer wur­de fest­ge­nom­men und einem Psych­ia­ter vor­ge­führt. stop. Schnee in Zeit­lu­pe. stop. Ruhe. stop. Der Luft­raum, in dem sich Phil­ip­pe Petit beweg­te, exis­tiert wei­ter fort. — stop
ping

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trommeln

2

papa : 22.58 — In dem Moment, da Sie die­se Zei­len lesen, sehen Sie mich ver­wun­dert, stau­nend, ja, sagen wir’s ruhig, glück­lich. Das ist so dar­um, ich habe gera­de bemerkt, wie kleins­te Din­ge, Lebe­we­sen, die eigent­lich nicht sicht­bar sind, sicht­bar wer­den, sobald ich sie mit Gedan­ken berüh­re. Auch Geräu­sche, die so lei­se und zart, dem­zu­fol­ge klein sind, dass ein mensch­li­ches Ohr sie nie­mals ver­neh­men könn­te, wer­den hör­bar durch ein ein­zel­nes Wort, das sie behaup­tet. Systo­li­sche Fre­quen­zen, hel­les Trom­meln, 250 Pul­se, kein Wort exis­tiert für jene Musik heim­li­cher Her­zen, als die Sum­me der Pfa­de, die sich um Annä­he­rung bemü­hen. Und ihre Augen, ihre Augen, jawohl, sie haben Augen, wo wer­den ihre Augen sein? — stop
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augenzeit

2

 

alpha : 0.03 — Im Regen her­um­spa­ziert, wollt ein Paar neu­er Augen besor­gen, hat­te so lan­ge Zeit Papie­re und Zei­chen betrach­tet, dass ich blind für jede Bedeu­tung gewor­den war. Im Wald tropf­te das Was­ser von den Bäu­men, eine Amsel lief auf feuch­ten Wegen vor mir her, da und dort Spu­ren von Schnee. — Schnee­ku­chen. — Schnee­sup­pe. —  Schnee­bü­cher. -  Nach einer Stun­de dann waren mir neue Augen gewach­sen, ich kehr­te zurück und jetzt ist schon wie­der heim­lich Nacht gewor­den. Merk­wür­dig, wie man einen Abend lang in einem Zim­mer auf dem Boden sit­zen kann und den­ken und zugleich nichts den­ken. Nur noch atmen. Und die Augen bewe­gen. — stop

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warenmenschen

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oli­mam­bo : 0.01 — Ein Film, der den All­tag sehr armer Men­schen in Kai­ro doku­men­tiert. So arm sind die­se Men­schen, dass sie Tei­le ihres leben­den Kör­pers ver­kau­fen. Und ich dach­te noch: Du darfst nicht ver­ges­sen, was Du gera­de wahr­ge­nom­men hast, soll­test über­le­gen, was das mit Dir per­sön­lich, mit Dei­ner Exis­tenz zu tun haben könn­te. Eini­ge Stun­den spä­ter hat­te ich die 5‑Minutenfilmgeschichte, die der wirk­li­chen Wirk­lich­keit unse­rer unheim­li­chen Zeit ent­nom­men wor­den war, inso­fern ver­lo­ren, da ich mich an sie erin­ner­te, als hät­te ich Jah­re nicht an sie gedacht, indem ich das Wort Waren­haus­men­schen, von eige­ner Hand notiert, auf einem Schreib­tisch­zet­tel wie­der­ent­deck­te. — Ein Schrift­zug. Der Schrift­zug eines Frem­den von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de. War­um? — stop
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regenschirmtiere vol.2

9

tan­go : 22.28 — Seit eini­gen Tagen den­ke ich, sobald ich lese, begeis­tert an Neu­ro­ne, Syn­ap­sen, Axo­ne, weil ich hör­te, dass ich mit­tels Gedan­ken, die Ana­to­mie mei­nes Gehirns zu gestal­ten ver­mag. Vor­hin, zum Bei­spiel, ich folg­te der Ankunft eines Schif­fes in New York im Jah­re 1867, über­leg­te ich, was nun eigent­lich geschieht in die­sem Moment der Lek­tü­re dort oben hin­ter mei­nen lesen­den Augen, ob man ver­zeich­nen könn­te, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wie­der auf­ge­ru­fen wird, fri­sche Fäd­chen gezo­gen wer­den, indem sich das Wort schritt­wei­se mit einer unheim­li­chen Geschich­te ver­bin­det. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schla­fend, Stun­de um Stun­de, Geräu­sche fal­len­den Was­sers ver­neh­me? In der ver­gan­ge­nen Nacht jeden­falls habe ich wie­der ein­mal von Regen­schirm­tie­ren geträumt, sie schei­nen sich fest ein­ge­schrie­ben zu haben in mei­nen Kopf, viel­leicht des­halb, weil ich sie schon ein­mal nacht­wärts gedacht und einen klei­nen Text notiert hat­te, der wie­der­um in mei­nem Gehirn zu einem blei­ben­den Schat­ten gewor­den ist. Natür­lich besuch­te ich mei­nen Schat­ten­text und erkann­te ihn wie­der. Trotz­dem das Gefühl, Gedan­ken einer fer­nen Per­son wahr­ge­nom­men zu haben. Die Geschich­te geht so: Von Regen­schirm­tie­ren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Was­ser, und ich wun­der­te mich, wie ich so durch die Stadt ging, bei­de Hän­de frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und ich staun­te, nie zuvor hat­te ich eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut, ja, die Flug­haut der Abend­seg­ler. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es reg­ne­te noch immer. Jetzt sit­ze ich seit bald einer hal­ben Stun­de mit einer Tas­se Kaf­fee vor mei­nem Schreib­tisch und über­le­ge, wie mein geträum­ter Regen­schirm sich in der Luft hal­ten konn­te. Ob er wohl über Augen ver­füg­te und über ein Gehirn viel­leicht und wo genau moch­te die­ses Gehirn in der Ana­to­mie des schwe­ben­den Schirms sich auf­ge­hal­ten haben. — stop
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coney island

14

nord­pol

~ : louis
to : Mr. jona­than noe kekkola
sub­ject : CONEY ISLAND

Mein lie­ber Kek­ko­la, das müs­sen Sie wis­sen, ich bin glück­lich, füh­le mich leicht, alle Sor­gen der ver­gan­ge­nen Wochen sind von mir gefal­len, ein Mensch, der mir nahe ist, wird wei­ter­le­ben. Wie schwe­ren Zei­ten, leich­te­re Zei­ten fol­gen! Nun wie­der ange­neh­mes Arbei­ten. Bin zu atlan­ti­schen Phä­no­me­nen zurück­ge­kehrt, das Hör­ver­mö­gen der Tief­see­ele­fan­ten, natür­lich, eine unend­li­che Geschich­te. Habe dar­über nach­ge­dacht, ob es nicht viel­leicht mög­lich sein könn­te, dass Tief­see­ele­fan­ten über klei­ne, kaum noch sicht­ba­re Ohren ver­fü­gen, die an ihren Rüs­sel­spit­zen gewach­sen sind über Jahr­mil­lio­nen ihres heim­li­chen Lebens hin­weg, um hören zu kön­nen, was man spricht in der Trom­pe­ten­spra­che jen­seits des Was­sers. So könn­te ich wei­ter­kom­men in die­ser Ange­le­gen­heit. Es ist nun bei­na­he sicher, dass ihre Her­den bereits in der Mit­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts vor Coney Island im Staa­te New York wahr­ge­nom­men wor­den sind. Ein Herr schrieb mir von Hand, sei­ne gelieb­te Rose habe ihm, wäh­rend eines Aus­flu­ges an den Strand, von Erschei­nun­gen erzählt, die alle unse­re Ver­mu­tun­gen bestä­ti­gen. Ich füge, lie­ber Kek­ko­la, mei­nem Brief eine Foto­gra­fie hin­zu, die an genau jenem Tag der Beob­ach­tung auf­ge­nom­men wor­den sein soll. Sieht sie nicht hin­rei­ßend unsterb­lich aus, Mrs. Rose, wie sie so sitzt und sich über das Tief­see­leuch­ten ihres Kop­fes zu freu­en scheint? – Ihr Lou­is, ihr Vogel.

gesen­det am
14.11.2009
22.58 MESZ
1668 zeichen

lou­is to jonathan
noe kekkola »

 

rose

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napapiin

9

india : 6.22 — Schau­te gegen den Him­mel. Bemerk­te, dass sich die Dun­kel­heit wie eine Flüs­sig­keit ver­hielt. Vögel hüpf­ten in die­ser feuch­ten Licht­lo­sig­keit in Kas­ta­ni­en­bäu­men von Ast zu Ast, ein traum­ar­ti­ges Bild. Viel­leicht habe ich etwas gese­hen, das ich nur des­halb beob­ach­ten konn­te, weil ich ohne jeden Grund auf der Stra­ße stand, wie aus einem Ver­se­hen her­aus, ein Mann, der die fal­sche Tür genom­men hat­te. Jetzt, etwas spä­ter, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelan­det war, weil ich ins­ge­heim wünsch­te, mit mei­nen Gedan­ken an den gewalt­sa­men Tod eines Tor­hü­ters, unter frei­em Him­mel zu ste­hen. Und wie ich so war­te­te, hör­te ich die Stim­me sei­ner muti­gen, jun­gen Frau in mei­nem Kopf, eine Stim­me, die ver­such­te, von all dem Wahn­sinn, dem Wahn­sinn des Ver­heim­li­chens zu spre­chen. Da war ein­mal ein Mensch gewe­sen, der nicht wei­ter­le­ben konn­te, der ster­ben muss­te, weil er sei­ne Ver­letz­lich­keit, sei­ne Schwä­che, sei­ne Mensch­lich­keit nicht zei­gen durf­te oder glaub­te, sie nicht zei­gen zu dür­fen. So könn­te das gewe­sen sein. Ein Mensch, der lan­ge Zeit über Was­ser has­te­te. So weit ist er gelau­fen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewe­sen war. — 2 Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Die Welt dreht sich, um einen Atem­zug lang­sa­mer gewor­den, wei­ter, immer wei­ter. Soeben wur­de amt­li­cher­seits die Öff­nung fol­gen­der Weih­nachts­post­äm­ter, nörd­li­che Hemi­sphä­re, bekannt gege­ben: Nord­pol-Grön­land San­ta Claus Nord­po­len, Jule­man­dens Post­kon­tor DK-3900 Nuuk / Finn­land Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napa­pi­in / USA San­ta Claus India­na 47579.
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blaue kamele

9

tan­go : 3.28 – Wie wir auf den Schul­tern unse­res Vaters durch die Welt schau­kel­ten, als säßen wir auf dem Rücken eines Dro­me­dars, das die mensch­li­che Spra­che spre­chen konn­te. Wie er uns das Licht erklär­te, die Geschwin­dig­keit und die Zeit, die das Licht unter­wegs gewe­sen war, um zu uns zu kom­men. Sei­ne gro­ßen Schu­he, in wel­chen wir durch den Gar­ten segel­ten. Und Gene Krup­pa, Drum­mer­man, dort, noch lan­ge vor unse­rer Zeit, Vater, mit Schlips im Anzug als jun­ger Mann. Heu­te Nacht erzäh­len wir uns Geschich­ten. Und schon ist es kurz nach zwei Uhr gewor­den. Ich habe ganz heim­lich mei­ne Schreib­ma­schi­ne ange­schal­tet, um eine wei­te­re klei­ne Geschich­te auf­zu­schrei­ben, weil Geschich­ten auf Papier oder Geschich­ten, die man von einem Bild­schirm lesen kann, wie alle ande­ren Geschich­ten als lei­se beten­de Stim­men zu ver­neh­men sind. Die­se Geschich­te nun geht so. Immer an Frei­ta­gen, ich war fünf oder sechs Jah­re alt gewe­sen war, brach­te mein Vater aus dem Insti­tut, in dem er als Phy­si­ker arbei­te­te, Kar­ten mit nach Hau­se, die ich bema­len durf­te, Com­pu­ter­loch­kar­ten, kräf­ti­ge, beige Papie­re, in wel­chen sich selt­sa­me Löcher befan­den. Die­se Löcher waren nie­mals an der­sel­ben Stel­le zu fin­den, und ich erin­ne­re mich, dass ich mich über ihr Ver­hal­ten hef­tig wun­der­te. Ich war zu jener Zeit ein begeis­ter­ter Maler, ich mal­te mit Wachs­krei­de und ich mal­te in allen Far­ben, über die ich ver­fü­gen konn­te, weil ich das Bunt­sein schon immer moch­te. Ich mal­te blaue Kame­le und schwar­ze Blu­men und rote Mon­de. Ein­mal frag­te ich mei­nen Vater, was jene Löcher bedeu­te­ten, über deren Exis­tenz ich mich freu­te, weil sie ver­steck­te Bil­der zeig­ten, die ich so lan­ge such­te, bis ich sie gefun­den hat­te. Hör zu, sag­te mein Vater. — stop
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