delta : 6.58 — Im Traum mit Jürg Federspiel auf Fährschiffen zwischen Manhattan und Staten Island hin und her unterwegs. Sobald wir eines der beiden Ufer erreichten, verließen wir unser Schiff, um sofort das nächste Schiff in die Gegenrichtung zu besteigen. Wir machten das so selbstverständlich, als hätten wir nie etwas anderes an diesem Ort getan. Jedes Mal mussten wir eine Schleuse passieren, wir zogen dann unsere Schuhe und unsere Gürtel aus und setzten bedeutungsvolle Gesichter auf, indem wir an schwer bewaffneten Polizisten vorübergingen. Bald schon standen wir wieder Nasen im Fahrtwind, Schulter an Schulter, und Herr Federspiel wiederholte seine Lieblingsgeschichte, eine kurze Erzählung, die von den Augen der Freiheitsstatue berichtete. Das seien ohne Zweifel die Augen jener Menschen, die übers Meer gekommen waren, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Riesige Möwenmaschinen begleiteten das Schiff, sie jagten nach Fotoapparaten und anderen glitzernden Dingen. Kaum hatten wir ein Ufer erreicht, war der Dichter zu Ende gekommen und die Geschichte vergessen, weswegen sie unverzüglich erinnert werden musste. Und so fuhren wir weiter und immer weiter Hin und Her. Auch Holly war da. Ich konnte ihren Rücken sehen und ihren Hut, der sich auf dem Kopf langsam drehte. — stop
Aus der Wörtersammlung: hut
edison
olimambo : 3.15 — Varianten, Bewegungen einer Hand zu beschreiben, die sich spielerisch über einer Klarinette bewegt. — Müde. — Vielleicht diese Art Sandaugenmüdigkeit, die Nachtarbeit bewirken kann. Wann ist Mittag in der Nacht? Wann beginnt der Abend? Ich stehe auf, vertrete mir die Beine, laufe vor dem Bücherregal hin und her, entdecke ein Buch, das von Edison erzählt, ein Buch aus der Kinderzeit, sitze auf dem Sofa, lese und schaue. — Wie man Glühbirnen macht? Zunächst macht man einen gläsernen Behälter für das Licht und dieses Glas nun glüht in einem sehr warmen orangefarbenen Ton und ist flüssig und irgendwie sehr heiß, denn die Männer, die an ihm arbeiten, tragen kräftige Handschuhe, ihre Gesichter sind zum Schutz mit feuchten Tüchern verbunden. Jetzt bin ich eingeschlafen. — stop
juli 14
romeo : 22.38 — Stunde um Stunde auf Fährschiffen zwischen Staten Island und der südlichen Spitze Manhattans hin und her. Ein schaukelnder Ort. Ein Ort, der im Moment meiner ersten Begegnung schon vertraut gewesen war, als ob ich vor langer Zeit geboren wurde auf einer der brummenden Bänke, ein früher Blick, Schatten riesiger Möwen hinter Scheiben, auf welchen Salzkristalle funkelten, der Klang der Nebelhörner, und wieder oder immer noch seither dieser rote Ball, den die Bewegung des Meeres über das untere Deck der Fähre spielt. Heiß und stickig, der Tag meiner Notiz, auch über der Upper Bay ruhte bewegungslos die Luft, bereit zu sinken. Lungerte mit Reiseschreibmaschine auf den Knien hechelnd, Luvseite, herum und wartete. — stop
morsen
echo : 0.25 — Gestern, am späten Abend, eine erste Zeile in meinen Bogen lebenden Papiers eingetragen, einen Satz, den Walter Benjamin vor langer Zeit einmal unter dem Begriff Kaktusblüte verzeichnete. Dieser Satz geht so: Der wahre Liebende freut sich, wenn der geliebte Mensch streitend im Unrecht ist. — Zärtlich, ohne zu atmen, arbeitete ich Zeichen für Zeichen voran. Und als ich fertig geworden war mit einem schließenden Punkt, lehnte ich mich zurück und wartete. Ich wartete lange. Ich wartete so lange, bis ich eingeschlafen war. Dann wachte ich auf und staunte. Sicher ist nun, dass sich Papiertierchen mittels einer Sprache verständigen, die morsenden Zeichen ähnlich ist. Sie verfügen demzufolge über Ohren und ihre Stimmen sind hell, sind Fledermäusen, Walen und Delfinen nur vernehmbar. — stop
animals
tango : 22.12 — Ich notiere so leise und behutsam wie möglich. Das erste noch winzige Blatt eines beschreibbaren Wesens ist in meiner Nähe gelandet. Spazierte, beobachtete den Himmel und als ich zurückkehrte, war dann alles bereits fertig gewesen. Noch leichte Unruhe auf meinem Schreibtisch, sobald ich mich vorsichtig nähere. Ein wundervolles Gefühl, die Blicke abertausender Augen, deren Licht ich nicht sehen, doch spüren kann. Und so sitze hier nun seit Stunden und überlege, welchen ersten Satz ich mit meinem Lichtstift in das lebende Blatt vor mir eintragen könnte. — stop
standardminute
delta : 6.05 — Wie ich abends im Warenhaus eine moderne Standardminute erlebte, das will ich rasch noch berichten, eh mir die Augen zufallen, müde vom Wundern. Eine ganze Minute also. In dieser Minute, an ihrem Anfang genauer, befindet sich eine Kassiererin mittleren Alters, unruhig sind Augen und Mund, und ihre flatternden Hände, Werkzeuge, die Waren über Lichttaster ziehen. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr langsam bewegt, ein wahres Reptil, würdevoll, bedächtig. Ein wenig zerstreut scheint sie zu sein, hebt immer wieder den Blick, beobachtet scheu die Bewegung des Bandes, die Reise ihrer persönlichen Ware: eine Schachtel Pralinen, ein Fläschchen Jägermeister, Salzstangen, drei Dosen Katzenfutter, ein duzend Schokoladenostereier in Grün, in Gelb, in Rot, und ein weiteres Fläschchen noch hinterher. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ist es schon zu spät. Zwei Aprikosensafttüten schieben sich, einem Eisbrecher ähnlich, in den wartenden Bezirk der alten Frau hinein, falten Eier, Salzstangen und andere Warenteile steil zur Seite. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höflich um Geduld bittet, um Nachsicht, eine freundliche, eine herzerwärmende Stimme, und das Geräusch einer Flasche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun aufrichtet, wie ihre hellen Augen meine Hände beobachten, die versuchen, weiteres Unglück abzuwenden. Ungläubig schaut sie mich an, dann das Förderband entlang, das weitere Waren voran transportiert. Ja, bald stehen wir und staunen zu zweit, und auch die Verkäuferin ist zur mitfühlenden Beobachterin geworden. Sie lurt zum Warenstrom hin, der über die Kante der Rollbandtheke in die Tiefe stürzt. Ihre Hände, diese seltsamen Hände, sie arbeiten weiter und weiter, schieben und schieben, als führten sie ein eigenes Leben oder gehörten schon der Maschine mit ihrem Rotlichtaugengehirn. stop. Minute zu Ende. stop. Guten Morgen. — stop
meerestee
charlie : 0.03 — Jedes Wort als winziges Tier betrachten, mit einer je sehr langen Lebensgeschichte. Das Wort Himmel, zum Beispiel, ein feines Wesen, seine vielfältige Gestalt in den Sprachen dieser Welt, Zeichenmäntel, irrlichterndes Plankton in einer Tasse Meerestee. Und so fliegen die Wörter in Herden durch Luft und Raum um den halben Erdball herum von einem Menschen zu einem anderen Menschen in Sekundenschnelle. Hier werden sie gelesen, ein Tier nach dem anderen Tier, behutsam, scheu. — Gute Nacht und guten Morgen!
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop
parachute jump
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : PARACHUTE JUMP
Jonathan, bester Freund, wie es Ihnen wohl gehen mag? Haben Sie Weihnachten unter Tannen in einem Zelt verbracht? Haben Sie vielleicht vergeblich versucht, mich zu erreichen? War verreist für ein paar Tage, hatte eine gute Zeit. Reisen, das ist wie träumen, verstehen Sie! Als ich eines Morgens, noch schlaftrunken, in meine Wohnung zurückkehrte, blühten vor den Fenstern Kakteen. Sie dufteten, wie nur Kakteen duften, süß und kräftig, und ich wunderte mich, wie das gekommen sein mag, alle zur selben Zeit, alle im Winter. Eine Nachricht war da noch auf Band gesprochen. Mrs. Monterey erzählt, sie habe in ihrem Hotel im Bear State Park, einem Wanderer ein Zimmer vermietet, einem Mann, groß und schweigsam. Dieser Mann soll Ihnen, lieber Kekkola, derart ähnlich gewesen sein, dass Sie’s höchstpersönlich gewesen sein müssen. Das will ich nun glauben, wünschen, hoffen Kraft meiner Kinderseele. Kein Wort habe der Mann gesprochen, stattdessen seltsame Zeichen in die Luft geschrieben. Ich kenne diese Zeichen! Die Sprache der Taucher! Und wenn ich das in dieser Weise schreibe, werter Jonathan, werden Sie schon einsehen, dass es sinnlos ist, so zu tun, als seien Sie nicht mehr am Leben. Bald wirds meterhoch schneien und wir werden alle untergehen. Erwarte Sie am Strand von Coney Island, Höhe Parachute Jump / 2. Mai 3 pm. – Ihr Louis, Ihr Schneemann.
gesendet am
6.01.2010
22.50 MEZ
1488 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
caravelle
romeo : 0.02 — Ich überlegte, ob ich, wenn ich bei wolkenlosem Himmel in 33000 Fuß Höhe befindlich aus einem Flugzeugfenster spähen würde, ein Schiff erkennen könnte, ein Schiff von der Größe der Queen Mary sagen wir, einen Luxusdampfer, der zur Zeit meiner Geburt noch regelmäßig zwischen New York und Southampton über den Atlantik hin und her gependelt war. Ich stellte mir zunächst einen Berg vor von entsprechender Höhe, einen Berg, der Himmel und Flugzeug berührte, kurz darauf ein Schiff. Und ich ahnte sehr bald, dass ich das Schiff wohl eher nicht, vermutlich aber die ihm folgende Spur im Wasser erkennen würde, Wellen und Wirbel von Luft. Eine junge Frau, so unsichtbar wie das Schiff, an dessen Heck sie steht, betrachtet die Spur, die das Schiff im Wasser hinterlässt. Einmal wirbelt eine Bö ihren Hut durch die Luft. Sie schaut zum Himmel. Ein Blitzen vielleicht. Ten-four. Charlie. Charlie. Kurz nach Mitternacht. Klirrende Kälte. — stop