charlie : 3.55 — Einige meiner Bücher scheinen über ein geheimes Gedächtnis zu verfügen. Wenn ich ein Buch mit Gedächtnis nach Jahren aus dem Regal nehme und auf einen Tisch lege, öffnet es sich ein wenig, ein Raum entsteht, als würde das Buch nach einem Finger rufen, der genau in diesen Raum hineinfassen soll. Ich lese dort Sätze, die mir vertraut sind, vielleicht, weil ich sie oft wiederholte, woran sich das Buch noch immer erinnert. Vor kurzem öffnete sich ein Bändchen Elias Canettis genau in dieser Weise. Entdeckte: Es ist das Gute an Aufzeichnungen, dass sie frei von Berechnung sind. Sie sind zu rasch, sie hatten kaum Zeit, der Kopf, in dem sie entstanden sind, konnte bisher nicht fragen, wozu sie zu gebrauchen wären. — stop
Aus der Wörtersammlung: jahre
ferdinands letztes ende
sierra : 5.52 — Vom Ferdinand habe ich lange Zeit nichts gehört. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war ich überzeugt gewesen, dass er gefährlich geworden war, verrückt, er brüllte herum, sobald er bemerkte, dass man ihm nicht länger zuhören wollte. Kurz darauf plötzlich Stille. Kein Anruf, niemand hatte ihn gesehen, niemand erwähnte seinen Namen, ich traf ihn niemals auf der Straße, nicht im Kino, nicht in den Cafés, nicht im Theater, als wär er eine Erfindung gewesen. Wenn ich an ihn dachte, sagte ich leise, gut so, vielleicht bist du tatsächlich nicht länger hier. Bei dem Gedanken aber, dass er überhaupt aufgehört haben könnte zu existieren, hatte ich ein eigenartiges Gefühl, als ob ich etwas versäumte, noch einmal ein Gespräch, ein oder zwei Fragen, ein Spaziergang ohne zu sprechen, eine Korrektur. Deshalb doch leise Freude, als er anrief, fragte, ob er mich treffen könne. Fünf Jahre, wie die Zeit vergeht, wie siehst du denn aus, kennen wir uns noch? Ich sagte, dass ich mich vermutlich kaum verändert haben würde, und sofort erwiderte er, dass auch er sich kaum verändert habe, dass er noch immer derselbe sei, ein paar neue Zellen, sonst aber derselbe. Also habe ich mich gefreut, dass Ferdinand noch lebte, obwohl wir uns nicht wiedersehen werden, weil er immer noch derselbe ist, weil er unverzüglich losbrüllte am Telefon, als ich von ihm wissen wollte, ob er noch immer gern betrunken sei. Er brüllte also, dann legte er auf. Das war so, als ob er in diesem Moment aufhörte zu atmen, Ruhe, Frieden, ein stillstehendes Herz. — Späte Nacht. Sitze auf einem Stuhl am Fenster und lese im neuen Salterroman. Habe das Buch in zweifacher Ausgabe, einerseits einen schweren Körper, in dem ich blättern kann, anderseits einen derart leichten elektrischen Körper, dass mein Notebook kein Gramm schwerer wurde, als der Roman durch die Leitung zu mir gesendet wurde. All night in darkness the water sped past. — stop
unter salzbäumen
tango : 2.02 — Im Traum sitze ich mit einem alten Mann an einem Tisch. Große Hitze auch im Schatten, den Salzbäume spenden. Wir trinken Kaffee und Wasser, das süß ist wie Honig. Der alte Mann trägt kakifarbene Shorts, seine Haut ist dunkel, gebrannt wie Kaffee, hellgrüne Augen. Eine Erscheinung, zahnlos, die nicht spricht, Haut und Knochen, aber ein Wesen von enormer Ausdauer. Ich höre, der alte Mann soll seit Jahren bereits vor diesem Tisch sitzen, ohne je aufgestanden zu sein. Papiere liegen auf dem Tisch und auf dem Boden. Sie sind beschriftet, kaum leserliche Zeichen. Vor dem Mann ruht ein kleines, schwer atmendes Notebook. Einmal blickt er auf den Bildschirm seiner Maschine, dann wieder auf ein Blatt Papier, das vor ihm liegt, und schreibt. Ameisen von Metall irren im Sand herum. Es gibt keinen Ton im Traum, wenn ich spreche, vernehme ich weder Gedanken noch Stimme. – stop
Samia Yusuf Omar
ulysses : 0.03 — Exakt 418 Tage zurück, am Montag, dem 20. August 2012, meldeten Nachrichtenagenturen, die somalische Sprinterin Samia Yusuf Omar sei auf dem Weg nach London zu den Olympischen Spielen ertrunken. Sie reiste auf einem Flüchtlingsschiff von Libyen aus nordwärts. Die Havarie des Bootes soll sich im Kanal von Sizilien nahe der Insel Malta bereits Anfang April ereignet haben. Einzige Vertreterin ihres Heimatlandes während der Olympischen Spiele 2008 in Peking, hatte sich Samia Yusuf Omar allein auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. Sie lebte 22 Jahre. — stop / koffertext
hirnhummeltee
~ : malcolm
to : louis
subject : HIRNHUMMELTEE
date : oct 8 13 6.11 p.m.
Am achten September, es war ein Sonntag gewesen, ein warmer, freundlicher Tag, erreichte Frankie Battery Park. Er hielt sich nicht lange auf unter den Bäumen, die sich bereits herbstlich färbten, folgte der Küstenlinie, um zwei Stunden später das Schiffsterminal South Ferry zu erreichen. Bis dahin hatten wir vermutet, Frankie sei ein scheues, ein menschenscheues Tier, doch gegen den Abend zu in der Dämmerung, wagte sich das Eichhörnchen in den zentralen Saal des Gebäudes, in welchem hunderte Passagiere auf das nächste Schiff nach Staten Island warteten. Allison warnte als Erste mittels eines Funkspruches, Frankie könnte vielleicht eines der Fährschiffe entern. Und genauso war es gekommen, das kleine, muskulöse Tier hastete lautlos über den blitzblanken Boden des Terminals, duckte sich unter Sitzbänken, verbarg sich in den Schatten des Abends, um von den Hunden der Küstenwache unbemerkt, nur von einigen Kindern staunend betrachtet, über den Steg an Bord der John F. Kennedy zu huschen. Hier befinden wir uns zu diesem Zeitpunkt. Es ist wieder Abend geworden, der dreißigste Tag, an dem Frankie auf dem Fährschiff über die Upperbay pendelte, neigt sich dem Ende zu. Am Horizont, im Westen, leuchten die Hafenkräne New Jerseys, sie blinken, mächtige Eisenvögel. Auf der Promenade spazieren Menschen mit Fotoapparaten. Es ist ein schöner Spätsommerabend. Seit vielen Stunden rollt ein Ball von einer Seite des Schiffes zur anderen. Ich werde müde, indem ich ihm mit den Augen folge. Niemand scheint sich an seiner Bewegung zu stören, es ist so, als würde der Ball zum Schiff gehören, als würde er schon seit vielen Jahren über das Hurrikanedeck rollen. Frankie schläft. Er ruht in einer Rettungsweste, die unter einer Sitzbank baumelt. Die Weste schaukelt im leichten Seegang hin und her. — Ihr Malcolm / codewort : hirnhummeltee
empfangen am
8.10.2013
1871 zeichen
im gebirge
echo : 22.02 — Vor längerer Zeit begegnete mir ein alter Mann im Gebirge. Ich erinnere mich deshalb gut an ihn, weil er rasant aufwärts gestiegen war. Er musste über achtzig Jahre alt gewesen sein, ich war damals Mitte dreißig, konnte ihm aber nicht folgen. Er trug ein kariertes Hemd, dessen Muster durch dichten Nebel leuchtete, der sich langsam über den Rücken des Berges bewegte. Ameisen überquerten die steinigen, sehr steilen Pfade. Sie waren so leise wie die Wolken um uns her. Auch der alte Mann bewegte sich fast geräuschlos. Manchmal hörte ich einen Stein, der abwärts rollte und das Pfeifen der Dohlen von weit oben. Nach einer Weile war der alte Mann verschwunden, zwei oder drei Stunden später tauchte er in der Nähe des Gipfels wieder auf. Er saß auf einem Stein unweit des Weges. In seiner Nähe, in Sichtweite, war an einem Felsen ein Bildstock befestigt. Das Marterl beherbergte die Schwarz-Weiß-Fotografie eines jungen Mannes. Ich grüßte den alten Mann und stieg weiter zum Gipfel auf. Nach einer halben Stunde machte ich mich auf den Rückweg. An der Stelle, an welcher der alte Mann gerastet hatte, rauften sich ein paar Dohlen um etwas Brot. Noch heute meine ich, ihre schrillen Rufe hören zu können. — stop
vom fliegen
echo : 22.08 — Mein Vater verfügte über ein hervorragendes Gedächtnis. Jahrelang konnte er sich an Geschichten erinnern, die unmittelbar mit Lichtbildern, die er aufgenommen hatte, in Verbindung stehen. Nun, da er gestorben ist, existieren viele dieser Geschichten im Verborgenen, weil mein Vater sich nicht mehr an sie erinnert, sie nicht mehr erzählen wird. In seinem Arbeitszimmer, weiterhin unberührt, steht ein schwerer, alter Schrank gleich neben einem Fenster zum Garten, in welchem sich tausende Aufnahmen in Magazinen befinden. Einige der Magazine wurden beschriftet. Ägypten 1986, Chicago 1978 oder Wandern im Wallis 1969. Auf einer kleinen Schachtel ist Folgendes notiert: Andreas läuft. 87 Diafotografien sind in dieser Schachtel enthalten, farbige Aufnahmen, die sich mit meinen ersten Spazierversuchen verbinden. Ich trage weiche, helle Hosen und einen roten Pullover. Ich scheine sehr begeistert gewesen zu sein, mache große, runde Augen, manchmal sitze ich auf dem Boden und lache, ein andermal sitze ich auf dem Boden und weine. Auf der ein oder anderen Fotografie kommen Hände von der Seite her ins Bild oder sie kommen von oben. Einmal sind nur meine Füße zu sehen, sehr kleine Füße in blauen Strümpfen. Man könnte meinen, diese Aufnahme würde dokumentieren, dass ich das Fliegen lernte, noch ehe ich richtig stehen und laufen konnte. Indem ich die Bilder meines Vaters beobachte, wird seine Gegenwart intensiv spürbar, er war bei jeder Aufnahme in meiner Nähe gewesen, in der Nähe eines Kindes, das zur Zeit der Lichtnahme noch keine wirkliche Vorstellung davon haben konnte, was Erinnerung ist. Und tatsächlich, ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich das Laufen lernte. – Später Abend. stop. In Brooklyn, Haus 77, Orange St., soll eine Steinkirsche, Steinkirsche No 632, vollendet worden sein. — stop. — 5.08 Gramm. — stop
versuch über nachtsprache
romeo : 22.58 — Vor einem meiner Fenster in der Höhe ist heute Abend eine kleine Spinne aufgetaucht, ein Jäger auf dem Fensterbrett, schnell, geschmeidig, gestreifter Pelz, Augen so klein, dass ich sie nicht sehen kann. Mit diesen Augen, die ich nicht sehen kann, beobachtete mich die Spinne vermutlich, während ich in ihrer Nähe am Fenster stand und Sätze wiederholte, die derart verknotet waren, dass ich sie kaum aussprechen konnte. Die Spinne bewegte sich nicht, und ich dachte, vielleicht hörte sie mir zu, hört, was N., die seit zwölf Jahren als Sachbearbeiterin in der Nähe eines Flughafens arbeitet, erzählte, warum nämlich die Begrüßung in der Nacht unter Nachtarbeitern eine seltsame Angelegenheit sein kann. N’s Aussage zur Folge soll es jeweils nach Mitternacht zu Schwierigkeiten deshalb kommen, weil man bis zur Mitternachtsstunde noch einen guten Abend wünschen könne, indessen eine Person, der man im Aufzug begegne, in den ersten Minuten eines neuen Tages bereits mit einem fröhlichen guten Morgen zu begrüßen sei, obwohl doch der nächste Morgen mit Licht oder Aussicht auf Feierabend zu diesem Zeitpunkt noch viele Stunden weit entfernt sein müsste. Ein eigentümliches Gefühl, sagte N., das dieser vorauseilende Morgen inmitten der Nacht noch nach Jahren in ihr erzeuge. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass inmitten der Nacht die Nacht selbst in einer Begrüßungsformel nicht angesprochen werden kann, weil die Formulierung Gute Nacht im allgemeinen Abschied bedeutet unter Menschen, die zur üblichen Wachzeit existieren, obwohl man doch im Moment des Abschiedes vielleicht gerade Stirn an Stirn in einem Bett liegt, man macht die Augen zu und schläft, sofern man glücklich und zufrieden ist. Zwei Schlafende. Es ist so, als wären sie beide verreist, als wären sie beide nicht anwesend, nicht erreichbar, auch nicht für sich selbst, weil ein Schlafender niemals zuverlässig in der Lage sein wird, sich persönlich zu wecken, ohne vorbeugend externes Glockenwerk programmiert zu haben. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte. — stop
stille
tango : 22.15 — Am 21. Dezember des vergangenen Jahres notiert Wolfgang Herrndorf auf Position Arbeit und Struktur : Agota Kristofs Trilogie zum dritten Mal nacheinander in Folge gelesen, das Personal verirrt sich schon in meine Träume. Einer der eineiigen Zwillinge, Klaus, Schriftsteller wie im Buch, steht von Gaffern und Polizisten umringt auf dem Nürnberger Hauptmarkt und hält ein Manuskript mit dem Titel Die glückliche Stadt hoch, dessen sofortige Publikation er verlangt. Es handle von Ungeheuerem, Skandalösem, Verborgenem. Doch niemand, scheint ihm, nimmt ihn ernst; man behandele ihn wie einen Wahnsinnigen. Ein Polizist sagt: Warum bringen Sie es nicht zur Zeitung, um es dort veröffentlichen zu lassen? / Klaus betritt ein Gebäude, dessen Flure und Räume an einen vor Jahrzehnten stillgelegten Bürokomplex der Deutschen Post erinnern, und gibt sein Manuskript zusammen mit einem kleinen Zettel an der zuständigen Stelle ab. Beim Verlassen der Redaktion bemerkt er, dass alle ihm mitleidig nachschauen. Er kehrt um. Ein junger Mann erklärt: Sie kommen jedes Jahr einmal mit Ihren Dokumenten hierher und geben sie zusammen mit einem Zettel ab, auf dem steht: “Bitte nehmen Sie mein Manuskript entgegen, tun Sie so, als ob Sie es drucken, und lassen Sie mich niemals wissen, was auf diesem Zettel steht.” / Das große Heft. / Der Beweis. / Die dritte Lüge. / Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Nussschale, die die Dimensionen eines Riesentankers hat, ungeheuer, wahnsinnig, maximal kaputt. — Stille. - stop
memory
alpha : 5.06 — Vor 936 Tagen wurde die ukrainische Dramatikerin Anna Yablonskaya im Alter von 30 Jahren in einer Halle des Flughafens Moskau-Domodedowo von einer Bombe getötet. — stop