Aus der Wörtersammlung: kind

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kein schnee

mwriupol

gink­go : 20.16 UTC – Auf einem Tisch ruht eine Foto­gra­fie. Ich hat­te sie auf ein Blatt star­ken Papie­res (180 Gramm) gedruckt. Es ist Abend. Som­mer­licht. Ein Tisch von Holz. Blät­ter­schat­ten, die sich kaum bewe­gen. Mei­ne Hand hält die Foto­gra­fie an ihrem west­li­chen Rand mit zwei Fin­gern fest. Die Hand einer wei­te­ren Per­son hält die Foto­gra­fie an ihrem öst­li­chen Rand mit einem Fin­ger fest. Die Foto­gra­fie zeigt eine Bus­hal­te­stel­le der Stadt Mariu­pol. Split­ter lie­gen auf der Stra­ße. Glas, Stei­ne, Metall. Und zwei mensch­li­che Kör­per. Die Gesich­ter der Kör­per sind von wei­ßen Tüchern bedeckt. Es reg­net. Einer der Kör­per trägt eine blaue Hose, der ande­re eine gel­be Hose. Ein Stoff­tier liegt in der Nähe auf dem Boden. Die Kör­per sind klei­ne Kör­per. Die Kör­per sind Kin­der­kör­per. Ein Fuß in einem Schuh steht etwas ent­fernt auf dem Boden. Ein Turn­schuh mit einem Fuß und einem hal­ben Bein. Der Fin­ger, der die Foto­gra­fie an ihrer öst­li­chen Sei­te berührt, tippt auf das Bild nahe des ein­sa­men Fußes. Der Fin­ger berührt die Stra­ße. Die Stim­me einer Frau ist zu hören. Sie sagt: Das ist nicht echt. Das ist gut gemacht. Wo hast Du das Foto her? Das ist gut erfun­den. Die hal­be Welt wird das glau­ben, so gut ist das erfun­den, aber nicht gut genug, nur die hal­be Welt wird das glau­ben. Du siehst, die­se Unmen­schen erschie­ßen ihre eige­nen Kin­der. Und dann sagen sie, die Anden waren das. Aber das ist kom­plett gut erfun­den! So etwas gibt es nicht. Das ist ein Kunst­fuß, alles künst­lich. Das ist wirk­lich gut gemacht. Du redest Unsinn! Du warst nicht dort, Du hast das nicht mit eige­nen Augen gese­hen. Man stirbt nicht, wenn ein Fuß ver­lo­ren geht. Es war Win­ter dort. Es muss geschneit haben. Wo ist der Schnee? Du musst wis­sen, dass das alles gefälscht ist, das sieht doch jeder ver­nünf­ti­ge Mensch auf der Stel­le. Du darfst nicht immer glau­ben, was Du siehst. War­um steht der Fuß auf­recht? Irgend­je­mand hat ihn dort auf die Stra­ße gestellt. Sie haben sich Mühe gege­ben, das muss man Ihnen las­sen. Das ist gut gemacht. Der Turn­schuh müss­te blu­tig sein. Da haben sie einen Feh­ler gemacht. Schön mon­tiert, aber mit einem Feh­ler, das Blut fehlt, schon wie­der ein­mal fehlt das Blut. Sie sagen, die Orks haben das gemacht. Wir machen so etwas nicht. Wir sind kei­ne Orks. Wir glau­ben an Gott. Du weißt, dass wir an Gott glau­ben, es ist eine Schan­de. War­um zeigst Du mir so etwas? Du warst nicht in Mariu­pol. Wenn Du in Mariu­pol gewe­sen wärest, wür­dest Du das wis­sen, dass man so etwas nie­mals dort gese­hen haben kann. Es war Win­ter im März. Kein Schnee, siehst Du, kein Schnee.- stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


der Inarisee
im november
mit uhrzeit
ursprung

 

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heimsuchung

heimsuchung

tan­go : 20.01 UTC – Über dem Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment kreist seit drei Tagen ein krä­hen­ar­ti­ger Vogel, ohne je zu lan­den. Er scheint mit der kal­ten Win­ter­luft ein Gespräch zu füh­ren im Flug bei Tag und bei Nacht. Vogel­be­ob­ach­ter sind ein­ge­trof­fen. Sie sit­zen auf Bän­ken und Bal­ko­nen, ihre Fern­roh­re auf Sta­ti­ve gestellt und gegen den Him­mel aus­ge­rich­tet. Es ist des­halb, weil mit die­sem spre­chen­den und sin­gen­den Vogel mög­li­cher­wei­se etwas nicht stimmt. Seit der Vogel ein­ge­trof­fen ist, so wird erzählt, erschei­nen auf den Bild­schir­men loka­ler Fern­seh­ge­rä­te Film­auf­nah­men, die aus der Sicht die­ses Vogels auf­ge­nom­men wor­den sein könn­ten. Gleich­wohl sind Geräu­sche ver­zeich­net, sodass nun das Wei­nen von Kin­dern in den Pari­ser Häu­sern zu ver­neh­men ist, auch auf den Bild­schir­men der Hand­te­le­fo­ne sind Kin­der zu sehen, die in Zel­ten woh­nen ohne einen Fuß­bo­den, weil dort hin­durch der Schlamm, der von den Ber­gen kommt, tal­ab­wärts strömt. Die Kin­der sind krank, das kann man sehen, sobald man die erschro­cke­nen Augen öff­net. Auch die Eltern der Kin­der sind krank, sie tra­gen Pus­teln im Gesicht und auf den Armen und Bei­nen und auf ihren mage­ren Rücken. Vul­ka­ne wach­sen auf den Kör­pern der Men­schen und spei­en Eiter und Blut. Jener Vogel, der die­se Auf­nah­men in einer afri­ka­ni­schen Gegend mach­te, um sie per­sön­lich nach Euro­pa zu trans­por­tie­ren, war und ist noch immer ein gedul­di­ger Beob­ach­ter. Der Vogel flog lei­se in Boden­nä­he umher, ohne das Leid zu stö­ren, das sich ihm öff­ne­te, als wäre es eine dunk­le schmer­zen­de Blu­me. Kin­der fass­ten nach dem Vogel, deu­ten auf ihn, sie waren ohne Furcht. Und die Eltern der Kin­der erzähl­ten in einer fremd­ar­ti­gen Spra­che, wie es ist der­art krank und elend und bedroht zu sein. Ihre Ges­ten zu dem Auge des Vogels hin waren fle­hen­de Ges­ten. Seit Tagen nun kom­men die­se Bil­der in die Welt der Bild­schir­me und der Laut­spre­cher­an­la­gen bei Tag und bei Nacht am Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment. Nie­mand kann sagen, war­um das so ist und wie lan­ge die Heim­su­chung noch dau­ern wird. Viel­leicht, so eine Ver­mu­tung, wer­den wei­te­re Vögel kom­men, wei­te­re Bil­der, Fil­me, Geräu­sche. Eine Per­son soll auf einer Kanal­brü­cke ste­hend laut­stark gefor­dert haben, den Vogel end­lich vom Him­mel zu holen. Ein­mal waren Schüs­se zu hören. — stop

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stimmen

9

alpha : 2.58 UTC — Eine hoch­be­tag­te Dame wünscht zu ver­rei­sen. Sie erzählt, sie kön­ne doch kaum noch Schrit­te gehen, sie ver­rei­se mit dem Roll­stuhl, in einem Auto­mo­bil wird sie durch die Land­schaft gefah­ren wer­den, das ist ihr Wort, Auto­mo­bil, ein Wort der Kin­der­zeit. Sie sagt, sie wis­se nicht, ob sie die Rei­se schaf­fen wür­de. Ich sage, Du musst auf Dei­ne inne­re Stim­me hören. Da sind vie­le Stim­men, ant­wor­tet sie, eine Stim­me sagt, das musst Du tun, Du hast nicht mehr viel Zeit. Eine ande­re Stim­me sagt, das ist gefähr­lich, die­se Stim­me ist lei­se. In der Nacht bekommt sie Fie­ber. Sie wird nicht rei­sen, sagt sie am Tele­fon. Fie­ber­stim­me. — stop

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von tieren der luft

9

india : 15.52 UTC — Noch ein Kind gewe­sen, beob­ach­te­te ich Flie­gen und Mücken mit arg­wöh­ni­schen Augen. Sie waren so wen­dig, wil­lens­stark und aus­dau­ernd in ihrer Jagd nach Zucker oder Blut, dass ich sie fürch­te­te und bewun­der­te zur sel­ben Zeit. Sir­ren­de Geräu­sche. Sturz­schrau­ben­flü­ge. Mos­ki­tos, die man nie­mals leben­dig mit einer Hand fan­gen, aber töten konn­te. Das Mikro­skop, mit des­sen Hil­fe ich vor lan­ger Zeit Flie­gen­lei­chen unter­such­te, habe ich unlängst wie­der­ge­fun­den. Ein schwe­res Objekt, schwarz lackier­tes Guss­ei­sen, dar­an befes­tigt, beweg­li­che Mes­sing­tei­le, Räd­chen ins­be­son­de­re, ein Spie­gel, und ein run­der, beweg­li­cher Tisch. Das Gerät war im zurück­lie­gen­den Jahr­hun­dert von Ernst Leitz in Wetz­lar gefer­tigt wor­den. An sei­nem zen­tra­len Licht­hals trägt es die Signa­tur No. 158461. Robert Koch soll aus die­ser Serie der Mikro­sko­pe das Mikro­skop mit der Zif­fer 100000 erhal­ten haben, Paul Ehr­lich das Mikro­skop mit der Num­mer 150000. Damals, als ich noch klein gewe­sen war, konn­te ich das Mikro­skop kaum auf den Tisch heben, an den ich mich zur Unter­su­chung gefan­ge­ner Flie­gen setz­te, sobald frü­her Abend gewor­den war. Um eine Flie­ge sezie­ren zu kön­nen, benö­tigt man sehr fei­nes Besteck, mei­ne Hän­de zit­ter­ten. Die ers­te Flie­ge, der ich mich mit einem Skal­pell näher­te, wach­te auf, sie beweg­te ihre Bein­chen, ich flüch­te­te aus dem Zim­mer. Die zwei­te Flie­ge, die ich unter­su­chen woll­te, war so gründ­lich tot, dass sie über kei­nen eigent­li­chen Kör­per mehr ver­füg­te, der unter­sucht wer­den konn­te. Die drit­te Flie­ge öff­ne­te sich, sie war uner­war­tet feucht gewe­sen. In einer metal­le­nen Schach­tel ver­wahr­te ich mei­ne Opfer. Der Schach­tel ent­kam ein bit­te­rer Geruch. Ich habe nun über­legt, ob ich die Unter­su­chung der Flie­gen oder klei­ne­rer Spin­nen­tie­re nicht drin­gend wie­der auf­neh­men soll­te. Heu­te mel­de­te das Radio ers­te Luft­kämp­fe von Droh­nen­vö­geln in der Ukrai­ne, Droh­ne gegen Droh­ne. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vater im Jahr 1965
vor der kali­for­ni­schen Küste
foto­gra­fiert mit­tels seines
eige­nen Fotoapparates

 

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fliegende schnecke

9

alpha : 8.32 UTC — Ein Schrift­stel­ler soll exis­tie­ren, der all jene Gegen­stän­de, über die er prä­zi­se zu schrei­ben wünscht, besit­zen muss, um sie dre­hen und wen­den zu kön­nen, in sie hin­ein­se­hen, also öff­nen, zer­le­gen und wie­der, wenn dann noch mög­lich,  zusam­men­fü­gen. Es wur­den bei­spiels­wei­se gekauft: Eine rote Rei­se­schreib­ma­schi­ne  Oli­vet­ti Valen­ti­ne nach dem Design des Etto­re Sott­s­ass, ein Kalei­do­skop von Metall und bun­tem Glas, ein auf­zieh­ba­res Vogel­we­sen mit Federn eines Strau­ßes, ein Mes­sing­mi­kro­skop Leitz No158461, eine flie­gen­de Schne­cke. Den Kauf die­ser flie­gen­den Schne­cke hat­te ich nur geträumt wie die Schne­cke selbst, und zwar mehr­fach, ein sehr lang­sam durch die Luft fah­ren­des Wesen ohne Flü­gel. Ich wach­te auf, sobald ich nach der Schne­cke grei­fen woll­te mit den Hän­den eines Kin­des. Eigent­lich soll­te ich nie­mals das Ende eines Trau­mes erzäh­len, Trau­men­den befin­den sich nicht sel­ten bereits mit einem Bein im neu­en Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirk­lich­keit nen­nen, ich bin dann schon wach gewor­den auf einem Bein, habe die Fens­ter geöff­net, es reg­net zum Bei­spiel, auf der Stra­ße weit unter mir bewe­gen sich Regen­schir­me, Men­schen sind kei­ne zu erken­nen, aber ein paar nas­se Tau­ben, die sich, von der Schwe­re ihres Gefie­ders in die Tie­fe gezo­gen, kaum noch in der Luft zu hal­ten ver­mö­gen. Eine Exkur­si­on zur Kaf­fee­ma­schi­ne hin nüt­ze ich, um mein Mikro­skop vom Tisch zu holen. Tat­säch­lich erken­ne ich jetzt eine Her­de gold­grü­ner Frö­sche, die sich an der Haus­wand gegen­über west­wärts bewe­gen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, pras­selt auf die Blät­ter der Bäu­me, tropft von den Regen­rin­nen auf ble­cher­ne Fens­ter­sim­se, was für ein wun­der­schö­ner Mor­gen, schon habe ich den Traum, den ich träum­te, bei­na­he ver­ges­sen. — stop

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lockerbie

9

echo : 22.57 UTC — Eine Frau erzähl­te auf dem Bild­schirm mei­nes Fern­seh­ge­rä­tes, ihr Mann sei über Schott­land in gro­ßer Höhe von einer Bom­be getö­tet wor­den. Sie habe den Kof­fer ihres Man­nes erhal­ten, in dem sich sei­ne sau­be­re Klei­dung befand. Er sei nie mit sau­be­rer Klei­dung von einer Geschäfts­rei­se zurück­ge­kehrt. Sei­ne Klei­dung, erfuhr sie, wur­de von Frau­en der klei­nen Städt­chen nahe Locker­bie gewa­schen und gefal­tet und gebü­gelt. Eine die­ser fal­ten­den Frau­en erzähl­te wie­der­um, ihre Arbeit sei bis­wei­len merk­wür­dig gewe­sen. Sie sei­en 20 bis 30 Leu­te gewe­sen. Das rühr­te ans Herz. Vie­le in die Tie­fe gestürz­te Ted­dy­bä­ren. Da war das rote Kleid eines 2‑dreijährigen Kin­des. Manch­mal sei sie nach Hau­se gekom­men und habe geweint. — stop

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mariupol / 6.

9

vic­to­ry : 22.01 UTC — In einem Zim­mer eines Hau­ses in Mariu­pol im sechs­ten Stock lag eine Foto­gra­fie auf dem Boden. Kin­der sit­zen dort im Bild auf Stüh­len. Ihr ers­ter Schul­tag. Die Foto­gra­fie war ver­staubt und außer­dem ver­letzt von einem Gra­nat­split­ter, der das Bild durch­schla­gen hat­te. Der Kopf eines Mäd­chens war in die­ser Wei­se ver­schwun­den. Das Mäd­chen hat­te einen him­mel­blau­en Rock getra­gen, eine koral­len­far­be­ne Blu­se mit wei­ßen Blü­ten einer Rose, schwar­ze glän­zen­de Schu­he mit gol­de­nen Span­gen und eine Ket­te bun­ter Stei­ne um den Hals. Über das Gesicht des Mäd­chens kann ich natür­lich nichts erzäh­len. Auch nicht über ihr Haar. Ich müss­te, um über das Gesicht des Mäd­chens erzäh­len zu kön­nen, die Kin­der des Bil­des fin­den und befra­gen. Viel­leicht haben sie alle über­lebt, das ist viel­leicht mög­lich. Oder eines oder zwei der Kin­der. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Loko­mo­ti­ve
des Jah­res 1968
auf meinem
Küchentisch
im Win­ter um
kurz nach
Mitternacht

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ein kind

pic

nord­pol : 0.58 — Ich stell­te mir Nach­rich­ten vor, die dazu geeig­net sind, Tele­fo­ne der Nach­rich­ten­emp­fän­ger unver­züg­lich in Brand zu set­zen. Was könn­te das für Nach­richt sein? Viel­leicht fol­gen­de Nach­richt, dass eine Geschich­te wie die­se Geschich­te hier mög­lich ist, eine Geschich­te, die von einem Kind erzählt, das in Groß­bri­tan­ni­en lebt. Das Kind, so wird erzählt, öff­ne­te zur Weih­nachts­zeit einen Geschenk­kar­ton, wel­cher in Chi­na erzeugt wor­den sein soll. In die­sem Geschenk fand das Kind einen Zet­tel sorg­fäl­tig ver­steckt, der von Hand beschrif­tet wor­den war. Auf dem gefal­te­ten Zet­tel war Fol­gen­des zu lesen: S O S! Neu­gie­rig gewor­den öff­ne­te das Kind das akku­rat gefal­te­te Päck­chen Papier. Das Kind ent­deck­te Zei­chen, die mit­tels eines Kugel­schrei­bers in blau­er Far­be auf das Papier gesetzt wor­den waren. Und weil das Kind unbe­dingt her­aus­fin­den woll­te, was dort hand­schrift­lich notiert wor­den war, wur­de die Zei­chen­fol­ge über­setzt. Von einem Ort in Chi­na war die Rede, von einem Gefäng­nis nahe einer gro­ßen Stadt im Nor­den des Lan­des, von der furcht­ba­re Not eines mensch­li­chen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeit­ort. Bald drei Jah­re war der Brief auf Rei­sen gewe­sen, ehe das Kind auf­merk­sam gewor­den war. — stop

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lichtbild

pic

gink­go : 0.24 UTC — Man möch­te nach lan­ger Zeit noch immer glau­ben, die fol­gen­de Bege­ben­heit könn­te rei­ne Erfin­dung gewe­sen sein, weil in unse­rer Zeit kaum vor­stell­bar ist, was ich in weni­gen Sät­ze erzäh­le. Ich hat­te mein Fern­seh­ge­rät beob­ach­tet, dort waren auf dem Bild­schirm Men­schen zu erken­nen, die auf Wagon­dä­chern eines Güter­zu­ges von Mit­tel­ame­ri­ka aus durch Mexi­ko nach Nord­ame­ri­ka reis­ten. Eine gefähr­li­che Fahrt, jun­ge Män­ner, aber auch jun­ge Frau­en, immer wie­der, so erzählt man, wur­den sie beraubt oder fie­len auf die Gelei­se und wür­den vom Zug über­rollt oder von Blit­zen hef­ti­ger Gewit­ter getrof­fen. Lang waren die Über­le­ben­den bereits unter­wegs gewe­sen, hat­ten nach eini­ger Zeit kaum noch zu essen oder zu trin­ken. Hun­ger und Durst wür­den sie ganz sicher gezwun­gen haben, vom Zug zu sprin­gen, wenn da nicht Men­schen gewe­sen wären, arme Men­schen, die ent­lang der Zug­stre­cke stan­den, um den Zug­rei­sen­den Was­ser und Nah­rungs­mit­tel in Tüten zuzu­wer­fen. Eine Frau, Maria, erzähl­te, sie und ihre Fami­lie wür­den immer wie­der hier­her­kom­men zu den Zügen mit ihren Bro­ten, dabei hät­ten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Weni­ge wür­den sie ger­ne tei­len, immer­zu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unter­neh­men, um den Flüch­ten­den zu hel­fen. Bald ver­schwand sie aus dem Bild, trat in den dich­ten Wald zurück, auch der Zug ent­fern­te sich lang­sam. — Eine wei­te­re Frau, so erzählt das Radio, habe sich an die Bela­ge­rung der Stadt Lenin­grad erin­nert gefühlt nach wochen­lan­ger Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol, die sie erleb­te. Ich war damals noch ein Kind, sag­te sie, und jetzt bin ich alt. — stop

ping

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im warenhaus

9

gink­go : 0.02 UTC — An einem Abend im Waren­haus vor lan­ger Zeit beob­ach­te­te ich einen klei­nen Jun­gen. Er sprang in einer War­te­schlan­ge vor einer Kas­se her­um und lach­te und ver­dreh­te die Augen. Weil sich auf dem För­der­band vor der Kas­se Milch­fla­schen, Corn­flakes, Reistü­ten sowie zwei Honig­me­lo­nen befan­den, konn­te der Jun­ge den Mann, der an der Kas­se sei­ne Arbeit ver­rich­te­te, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann han­del­te es sich um Javuz Aylin, er war mit­tels eines Namens­schild­chens, das in der Nähe sei­nes Her­zens ange­bracht wor­den war, zu iden­ti­fi­zie­ren. In die­sem Moment der Geschich­te erhob sich Herr Aylin ein wenig von sei­nem Stuhl, um neu­gie­rig über die Waren hin­weg zu spä­hen, ver­mut­lich des­halb, weil der Haar­schopf des Jun­gen mehr­fach in sein Blick­feld hüpf­te. Da war noch ein zwei­ter Haar­schopf an die­sem Abend im Waren­haus in nächs­ter Nähe, schwar­zes, locki­ges Haar, der jün­ge­re Bru­der des Jun­gen, der in weni­gen Sekun­den zu dem Kas­sie­rer spre­chen wür­de, bei­de Kin­der sind sich so ähn­lich, als sei­en sie Zwil­lin­ge, ein gro­ßer und ein klei­ner Zwil­ling. Gleich hin­ter den Buben war­te­te die Mut­ter, sie lächel­te, wie sie ihre Kin­der so fröh­lich her­um­tol­len sah. Die jun­ge Frau trug ein bun­tes Kopf­tuch, ich stell­te mir vor, sie könn­te in Marok­ko gebo­ren wor­den sein, kräf­tig geschmink­ter Mund, herr­li­che Augen. Plötz­lich waren die Waren auf dem För­der­band ver­schwun­den, der älte­re der bei­den Jungs betrach­te­te auf­merk­sam das Gesicht des Kas­sie­rers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jun­gen ein Päck­chen mit Sam­mel­bil­dern zur Euro­pa­meis­ter­schaft ent­ge­gen, außer­dem ein zwei­tes Päck­chen für den klei­ne­ren Bru­der, der immer noch hüpf­te, weil er gera­de eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hin­weg spä­hen zu kön­nen. Oh, dan­ke, sag­te der Jun­ge zu Herrn Aylin. Er schau­te kurz zur Mut­ter hin­auf, die nick­te. Ich habe schon fast alle Kar­ten, fuhr er fort, die deut­sche Mann­schaft ist kom­plett. Er mach­te eine kur­ze Pau­se. Ich bin näm­lich Deut­scher, sag­te der Jun­ge mit kräf­ti­ger Stim­me, auch mein Bru­der ist Deut­scher. Wie­der schau­te er zu Mut­ter hin, und wie­der nick­te die jun­ge Frau und lach­te. Bist Du auch Deut­scher, fragt der Jun­ge Herrn Aylin. Der schüt­tel­te den Kopf und schnitt eine freund­li­che Gri­mas­se. Der Jun­ge setz­te nach: Ach so! War­um nicht? Aber das war gewe­sen, ehe Herr Aylin ant­wor­ten konn­te, er war mit sei­nem klei­nen Bru­der und sei­nen Sam­mel­bil­dern bereits hin­ter der Kas­se ver­schwun­den, sodass sich ihre Mut­ter beei­len muss­te, um sie nicht aus den Augen zu ver­lie­ren. — Das Radio erzählt, man habe, indem man Men­schen neben Stra­ßen der Stadt Mariu­pol beer­dig­te, zur glei­chen Zeit ein Fläsch­chen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläsch­chen, wur­den auf einem Zet­tel ver­zeich­net der Name des ver­stor­be­nen Men­schen und der Tag sei­ner Geburt und der Tag sei­nes gewalt­sa­men Todes. — stop



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