tango : 15.06 UTC — Über einen langen Flur eines Schiffes wandernd, begegneten mir zwei Männer, ein junger und ein etwas älterer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stimmen in meinen Ohren deshalb lauter wurden, hörte ich, dass sie sich über ein Büro unterhielten, in welches einer der beiden Männer vor wenigen Tagen erst eingezogen war. Es ging in dem Gespräch außerdem um Möbel. Die Männer waren sich, so mein Eindruck, nicht ganz einig gewesen. Sie diskutierten, ein lautes, lachendes, ein lebendiges Gespräch, weshalb ich umdrehte und den Männern in dezentem Abstand folgte, ich wollte Ihnen heimlich zuhören, was vermutlich nicht ganz höflich gewesen war. Ich glaube, die zwei Männer bemerkten mich glücklicherweise nicht. Warum ist dein neues Büro so leer? Wollte der eine Mann, er war wirklich noch sehr jung gewesen, von dem anderen, dem älteren Mann wissen? Das ist so, antwortete der alte Mann dem jungen Mann, hör zu, ich will unabhängig leben von meinem Büro, ich will nicht mit ihm verwachsen sein. Wenn ich von meinem Büro einmal getrennt werden sollte, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit meinem Büro verwachsen sein würde, könnte man mir Schmerzen zufügen, man könnte sagen, Sie dürfen bleiben, wenn sie folgsam sind, man könnte mich erpressen, verstehst Du, man könnte mich mit leichter Hand fertig machen. Deshalb sind in meinem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papiere, ein Obstkorb, eine besondere Tafel, die beschriftet werden kann und wieder gereinigt von Farbe, eine Zeichnung weiterhin, die einen Mann zeigt, der sein Fahrrad zerlegte, außerdem sind da noch, eine Kaffeetasse, drei Stühle für Gäste, ein kleiner Kühlschrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Teppich, welchen ich auf einer Reise nach Marokko entdeckte, eine Stehlampe, die sich gleich hinter meinem Schreibtisch befindet, ein wunderbar warmes Licht strömt von dort, eine zweite Lampe auf dem Schreibtisch, die im Winter zusätzlich Licht spenden wird, ein kleines Sofa, Bleistifte in einem Bleistiftgefäß, ein Telefon, zwei Kakteen, fünf Orchideen auf der Fensterbank, ein Käfig mit einem Zeisigpärchen, drei Schreibmaschinen, eine Fotografie, die meine Geliebte zeigt, wie sie lächelt, ist das nicht wunderbar. — stop
Aus der Wörtersammlung: mann
ein koffer
delta : 16.12 UTC — Ich weiß nicht, wohin die Vögel schlafen gehen, stellt Hilde Domin einmal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem geliebten Mann begegnete, dass sie wunderbare Gespräche führten, dass sie sicher ein Jahr brauchten, um sich zum ersten Mal zu küssen. Wir waren sehr förmlich. In der 45. Minute des wundervollen Films Ich will Dich — Begegnungen mit Hilde Domin von Anna Ditges will die junge Filmemacherin wissen, ob Hilde Domin’s Ehemann ein guter Liebhaber gewesen sei. Hilde Domin antwortet mit trockener Stimme: Ich hatte keinen anderen. Ich kann das nicht beurteilen. Ich find, ja. Sie macht eine längere Pause. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm niemanden geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurückhaltend war wie ich. Meine Freundinnen waren alle anders. Anna Ditges: Er war der einzige Mann, den Du je gekannt hast? Hilde Domin antwortet: Ja! Anna Ditges: Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist? — Hilde Domin: Jedenfalls habe ich keine andere. Weißt Du, der lebendige Mensch ist der lebendige Mensch. Und der Mensch, der nur noch in meiner Vorstellung ist, das ist nicht dasselbe. — In diesem Augenblick erinnere ich mich an eine Fotografie, die mich neben meinem sterbenden Vater zeigt. Ich sitze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzusehen wagte. Ich habe tatsächlich eine Hand vor Augen gehalten und zwischen meinen Fingern hervor gespäht. Später wurde mir warm, wenn ich das Bild betrachtete. Die Fotografie zeigt einen friedlichen Moment meines Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lange Zeit fürchtete. Weinen und Lachen falten sich, wie Hände sich falten. Mutter irrte wochenlang zwischen Haus und Friedhof hin und her, als würde sie unsichtbare Ware in gleichfalls unsichtbaren Koffern tragen. Sie geht noch immer, Jahre sind vergangen, so umher. – stop
chicago
india : 16.28 UTC — Einmal, ich habe vor zwei Jahren bereits davon erzählt, arbeitete ich im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclair’s Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiere in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
die geschwindigkeit der wörter
tango : 22.30 UTC — Wie flink vermag ich mit einem Finger auf einem Bildschirm zu schreiben, wie schnell mit einem Sensorstift? Am schnellsten schreibe ich, wenn ich mittels Wörtern denke? Ich schreibe dann, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, schreibe eine denkende Spur, die erinnert oder sofort vergessen werden könnte, wie jener Mann, der in einer Erzählung Patricia Highsmith’s einen Roman nach dem anderen Roman im Kopf notiert. Das Schreiben per Hand auf Papier oder mittels einer Tastatur auf einem Bildschirm bewirkt vermutlich ohne Ausnahme eine Verlangsamung des Denkens, eine Präzisierung. Das sprechende, erzählende Denken scheint der Luft, den Vögeln verbunden, das schreibende Denken dem Wasser, den Fischen. Ich stelle mir vor, Menschen, die mich einmal schweigsam wahrgenommen haben, eine in sich gekehrte Person, werden diese Gedanken in einer vollkommen anderen Weise wahrnehmen, als jene Menschen, die einen sprudelnd erzählenden, Wörter sprühenden Mann erlebten. — stop
late late blues
echo : 18.30 UTC — Samstag. Kaum auf den Beinen beschließe ich, ein Experiment zu wagen, an dem ich mich vor Jahren schon einmal versuchte. Ich wünschte, einen Gedanken genau so zu denken, als wäre dieser Gedanke der letzte meiner Gedanken. Die Beobachtung, dass sich bereits die Wahrnehmung eines letzten Gedankens in einer Zeit weit nach dem letzten Gedanken zu befinden scheint, als ob jedem Gedanken sofort ein Echo folgte. Vielleicht wird überhaupt jeder Gedanke niemals als Gedanke im Moment seiner Verfertigung, sondern immer nur in seiner Echospur für mich verfügbar sein. — Noch zu tun: Nachdenken über den Sandmann. — stop
lions writers inc.
alpha : 17.25 UTC — Eine Notiz der Lions Writers Support Services. Inc., die ich an dieser Stelle mit großer Freude übersetzt wiedergebe, berichtet von Mr. und Mrs. Shapiro: > AUF NACH CONEY ISLAND. Als Mr. Sini Shapiro, wohnhaft zu New York (Park Avenue 720), im vergangenen Jahr den dringenden Wunsch äußerste, endlich einmal seine Wohnung verlassen zu dürfen, um sich in der Stadt seiner Geburt umzusehen, waren wir mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Wie könnte es möglich werden, fragten wir, einem Kiemenmenschen, der zeit seines Lebens ein hoch spezialisiertes Wasserhabitat in Manhattan bewohnt, einen Zugang zur Stadt zu ermöglichen, ohne ihn umzubringen. Bald folgten wir einer konkreten Spur. Aus der nautischen Sammlung der Familie Landau, die auf Long Island lebt, erwarben wir einen Tiefseetaucheranzug, welcher zuletzt in den 40er-Jahren der unterseeischen Minenräumung diente. Der Anzug selbst wog 240, Mr. Shapiro, ein zartes Wesen, 32 Kilogramm, die Maße stimmten, und der Anzug, wenn man ihn mit Wasser füllte, erwies sich als vollständig dicht über viele Tage hin. Am 5. Juni des Jahres 2016 unternahmen wir mit Mr. Shapiro einen ersten Versuch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen. Getestet wurde in der Wohnung der Shapiros zunächst unter Wasser, ob Mr. Shapiros Leib sich in den Anzug fügte und ob er sich geborgen fühlen konnte. In einer zweiten Phase des Testes versuchten wir einen Eindruck von der Beweglichkeit des Anzugs zu gewinnen, immerhin war das Gefäß nun vollständig mit Wasser gefüllt. Der Taucheranzug, Mr. Shapiro plus Wasserfüllung, sowie angeschlossene technische Weiterungen, Filter und Pumpen, eine Fotokamera sowie zwei Funkkommunikationsmodule, wogen insgesamt 352 Kilogramm. Am 22. Juli dann in den frühen Morgenstunden von sorgenvollen Blicken seiner Frau begleitet, wagte Mr. Shapiro sich zum ersten Mal in das Leben jenseits der Schleusentüren seiner Wohnung hinaus. Der alte Mann wurde in sitzender Position über Aufzüge des Hauses vorsichtig zu einem Subaru – Sambar – Automobil transportiert, das sich, von einem Polizeifahrzeug eskortiert, bald langsam über die Manhattan Bridge, kurz darauf über die Coney Island Avenue südwärts bewegte. Mr. Shapiro wollte das Meer mit eigenen Augen betrachten. Brooklyn, äußerte er später, gefalle ihm. / — stop New York City. May 3 2017 by Miu Gallane
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten, wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja, sagte B., da habe ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
nachtfaltung
sierra : 20.22 UTC – Etwas Merkwürdiges hat sich ereignet. Ich will das schnell erzählen. Es ist nämlich so, dass ich einer Figur, die in einem Textgeschehen existiert, vor Monaten einmal, ich glaube im November bereits, einen Namen gegeben habe, welcher dunkel leuchtet, ein mächtiger, unheimlicher Name. Es handelt sich um die Zeichenfolge Mandrill. Immer wieder einmal erzählte ich in der langsamen Entwicklung des Textes von einem Mann dieses Namens. Als Mandrill gestern unvermittelt in einer Weise handelte, die ich nicht erwartet hatte, zart und einfühlsam, schmerzte der Name, als hätte ich meiner Figur Unrecht getan. Heute Morgen war die wilde Verwerfung, die ich gestern noch spürte, wieder schön gefaltet. Ich trat ans Fenster im ersten Licht der Sonne, der Himmel war voll Wasserdampfspuren, welche Nachtfernflüge an den Himmel zeichneten. Kein Mensch auf der Straße, aber zwei Eichhörnchen, die auf einem Briefkasten saßen. Das habe ich noch nie so gesehen, gestern noch hätte ich behauptet, Eichhörnchen würden niemals auf Briefkästen sitzen. Deniz Yücel weiterhin in Haft. — stop
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet, mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er so viel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich sehe noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop
ein mann des lichts
bamako : 0.01 UTC — Im Alter schwindet seine Sehkraft. Es bleiben ihm noch Hörbücher. Dieser würdevolle, feine Mann. Wie er leise und langsam von meinem Fernsehbildschirm aus spricht: Dadurch kompensiere ich … damit (mit den Hörbüchern) eigentlich meine … Verzweiflung. Der große Kameramann Michael Ballhaus ist gestorben. — stop