Aus der Wörtersammlung: merkwürdig

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hydra

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nord­pol : 17.58 — Hör­te im Radio vor weni­gen Minu­ten eine merk­wür­di­ge Geschich­te. Man erzähl­te, durch New Jer­sey sol­len seit Wochen Vor­ort­zü­ge mit Abtei­len von Stil­le in Rich­tung Man­hat­tan fah­ren: Tele­fo­ne und Spiel­do­sen jeder Art ver­bo­ten. Das könn­te Gerücht, Erfin­dung, von Wün­schen geträumt gewe­sen sein. Mit eige­nen Augen dage­gen habe ich beob­ach­tet, wie im Super­markt gleich um die Ecke, Zwerg­kak­teen Müt­zen von rotem Stoff auf­ge­setzt wor­den sind. Bär­te rau­schen, wei­ße Bär­te, mit­tels Nadeln sind sie an den Leib der Pflan­zen gena­gelt. Auch dass es reg­net, hier in mei­ner nächs­ten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachs­tum einer wei­te­ren elek­tri­schen Hydra im Pro­zess der Selbst­be­haup­tung. Ges­tern Abend, mit­tel­eu­ro­päi­sche Zeit, ver­füg­te sie über 208, kurz nach Mit­ter­nacht über 355 und wei­te­re 12 Stun­den spä­ter über 507 ein­an­der glei­chen­de Köp­fe. — Da war noch die­ser alte Mann auf einem Basar zu Mar­ra­kesch. Wie er vor einer 40 Jah­re alten Schreib­ma­schi­ne sitzt und Lie­bes­brie­fe notiert gegen eine klei­ne Gebühr für Men­schen, die nie gelernt haben, zu schrei­ben, zu lesen. — stop

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time

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fox­trott : 0.28 — Merk­wür­dig, die Wahr­neh­mung der Zeit. Wenn ich kei­ne Zeit habe, kann ich die ver­ge­hen­de Zeit nicht bemer­ken, weil ich mich so schnell bewe­gen muss von einem Ort zum ande­ren, von Gespräch zu Gespräch, von Auf­ga­be zu Auf­ga­be, dass ich etwas spä­ter viel­leicht mei­nen möch­te, ich hät­te nicht exis­tiert. Auch dann, wenn ich traue­re, habe ich kei­ne Zeit, sagen wir, kei­ne wirk­li­che Zeit, weil ich aus mei­nem übli­chen Leben her­aus gefal­len bin. Ich ste­he zum Bei­spiel in einer U‑Bahn und unter­hal­te mich, ich lache, ich stel­le Fra­gen, und doch bin ich an einem ganz ande­ren Ort, spre­che mit der Ver­gan­gen­heit, viel­leicht mit einem Men­schen, von dem ich weiß, dass ich ihn nie wie­der berüh­ren wer­de, von dem ich hof­fe, dass er noch irgend­et­was zu hören ver­mag, indem ich mich zu ihm spre­chend an ihn erin­ne­re. Ich ver­wei­le also in die­ser selt­sa­men Zeit der Ver­gan­gen­heit, einer suchen­den Zeit, die des­halb zeit­los ist, weil sie sich wie­der­ho­len will, weil sie kei­nen Fort­gang kennt. Manch­mal sit­ze ich in einem Café, einer Biblio­thek, im Zug, im Kino oder einem Thea­ter her­um, ich schau auf die Uhr. Ich sage: Beweg Dich!
 — stop

ping

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panther

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lima : 1.42 – Etwas Merk­wür­di­ges muss gesche­hen sein, wäh­rend ich schlief. Als ich erwach­te, konn­te ich nicht sagen, ob ich eine Frau bin oder ein Mann. Ich öff­ne­te die Augen und bemerk­te einen Pan­ther, der vor mei­nem Bett auf und ab spa­zier­te. Das war ein merk­wür­di­ger Pan­ther gewe­sen, der vor mei­nem Bett spa­zier­te. Der Pan­ther war schwarz wie alle Pan­ther, wenn sie wirk­li­che Pan­ther sind. Die­ser wirk­li­che Pan­ther nun aber trug Men­schen­haut und hat­te grü­ne, anstatt gel­be Augen. Wenn ich mich beweg­te, fauch­te der Pan­ther und mach­te einen Satz auf mich zu, sodass ich mich ent­schloss abzu­war­ten, viel­leicht weil ich hoff­te, er wür­de bald schla­fen oder ganz aus mei­nen Zim­mern ver­schwin­den. — Es ist jetzt wie­der Nacht gewor­den. Noch immer habe ich mein Bett nicht ver­las­sen. Der Pan­ther ruht vor mir auf dem Boden. Wei­ter­hin genie­ße ich sei­ne unge­teil­te Auf­merk­sam­keit. Nicho­las Bak­ers Buch der Streich­höl­zer, das ich in der Nähe auf dem Boden gefun­den hat­te und gera­de noch unter mei­ner Decke ver­ste­cken konn­te, ist kreuz und quer zu Ende gele­sen. Ich spü­re ein lei­ses Hun­ger­ge­fühl in mir auf­stei­gen, der quä­len­de Durst der Wüs­ten­wan­de­rer klebt schon seit Stun­den an mei­nem Gau­men. Soll­te, sobald in fünf Stun­den die Däm­me­rung ein­set­zen wird, zum Angriff über­ge­hen. Ich muss, kein Aus­weg, die Küche, das heißt, die nächs­te Was­ser­stel­le errei­chen. Viel­leicht sind die­se Zei­len, die ich in weni­gen Minu­ten über mein Funk­netz abset­zen wer­de, die letz­ten Zei­len, die ich als leben­der Mensch notier­te. — stop

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nachtvogel

14

 

 

nord­pol

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : NACHTVOGEL

Eine merk­wür­di­ge Novem­ber­nacht neigt sich dem Ende zu. Ich habe, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, in den ver­gan­ge­nen Stun­den mehr­fach den Ver­such unter­nom­men, einen Vogel von blau­em Gefie­der, der ein paar Run­den durch mei­ne Woh­nung geflo­gen war, auf­zu­fan­gen, das heißt, mei­ne Hän­de in einer Wei­se dar­zu­bie­ten, dass der Vogel auf ihnen lan­den konn­te, ohne auf den Boden zu fal­len. Ich dürf­te eine kurio­se Erschei­nung gewe­sen sein, wie ich mich ver­renk­te, wie ich dem Vogel folg­te, wie ich Geräu­sche mach­te, als könn­te ich in der Spra­che der Vögel spre­chen. Und jetzt ist es bald fünf Uhr und der Vogel ist immer noch hier. Er flat­tert her­um, ein aus­dau­ern­des Geschöpf von der Grö­ße eines Ten­nis­bal­les, oran­ge­far­be­ne Augen, gel­ber Schna­bel, ein sehr beson­de­res Wesen, weil es sich um einen Vogel ohne Füße han­delt. Sicher wer­det Ihr Euch fra­gen, wie es mög­lich sein kann, dass der Vogel ohne sei­ne Füße über­le­ben konn­te, dass er nicht längst in irgend­ei­ner Ecke zer­schell­te, und über­haupt, wie es dazu gekom­men war, dass der Vogel sei­ne Füße ver­lor. Das alles liegt noch völ­lig im Dunk­len. Ich habe kei­ne Ahnung, nicht die gerings­te Vor­stel­lung, sodass ich nun war­ten muss, solan­ge war­ten, bis mir etwas ein­fällt, das noch fehlt, um voll­stän­dig wer­den zu kön­nen. Wie geht es Euch über­haupt? Denkt Ihr noch an die Fra­ge, die ich Euch unlängst stell­te? Ich woll­te wis­sen, ob Ihr dort Oben für die Ewig­keit noch immer leib­lich mit­ein­an­der ver­wach­sen seid? – Euer Lou­is, sehr herz­lich, wünscht einen guten Tag!

gesen­det am
11.11.2010
5.05 MESZ
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lou­is to dai­sy and violet »

ping

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verschwinden

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sier­ra : 18.01 — Vor Kur­zem, am frü­hen Abend genau­er, ist mir eine merk­wür­di­ge Geschich­te mit mir selbst pas­siert. Ich saß gera­de vor dem Com­pu­ter­bild­schirm und beob­ach­te­te, wie ein Ser­ver Zei­le um Zei­le mel­de­te, wel­che Datei einer digi­ta­len Arbeit gera­de aus der les­ba­ren Welt in eine nicht les­ba­re Welt beför­dert wird, als ich bemerk­te, dass mir das Löschen gefällt, dass auch das Ver­schwin­den, Zei­le für Zei­le, reiz­voll sein kann. Für einen kur­zen Moment hat­te ich die Idee, dass der Ser­ver, nach­dem er mei­ne Geschich­te zu Ende gelöscht haben wür­de, auf mich selbst zugrei­fen könn­te, also die Per­son des Autors zu sich holen und löschen, wie kurz zuvor die Gedan­ken­ar­beit zwei­er Tage. Womit, frag­te ich, wür­de er begin­nen? Mit einer mei­ner Hän­de even­tu­ell, oder mit mei­nen Augen oder mit mei­nen Ohren? Wie wür­de sich die­ses Ver­schwin­den bemerk­bar machen? Wür­de ich den Ein­druck haben, leich­ter zu wer­den, oder wür­de ich viel­leicht ver­geb­lich nach einem Blei­stift grei­fen, weil mei­ne zupa­cken­de Hand licht­durch­läs­sig gewor­den ist? – stop
ping

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marit

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nord­pol : 0.02 — Ver­gan­ge­ne Nacht war ich wach gewor­den um fünf. Ich hat­te einen merk­wür­di­gen Traum, in dem Mr. Eli­ot erklär­te, dass er Brie­fe, die ich an ihn schrei­be, nicht lesen kön­ne, weil er schon vor lan­ger Zeit blind gewor­den sei. Ich war dann also wach um fünf und fühl­te mich leicht, und ich wun­der­te mich, woher die­se Leich­tig­keit gekom­men sein moch­te. Da erin­ner­te ich mich, dass ich noch immer nach­drück­lich auf eine Ant­wort James Sal­ters war­te, ich hat­te ihm vor zwei Jah­ren zuletzt geschrie­ben. Auch Mr. Sal­ter könn­te blind gewor­den sein, kein Wun­der, dass er nicht schreibt. Unver­züg­lich such­te ich in den Archi­ven nach dem Brief, den ich notiert hat­te. Er war rasch gefun­den, eine fei­ne Geschich­te, die ich berüh­re, die ich hier wie­der­ho­le, indem ich sie mit Stim­me lese, in der Hoff­nung, dass Mr. Sal­ter mich hören kann: Lie­ber James Sal­ter, als ich heu­te Nacht am Schreib­tisch saß und in Ihren wun­der­ba­ren Erzäh­lun­gen las, habe ich eine klei­ne Spin­ne bemerkt, die mich beob­ach­te­te, jawohl, sie saß auf dem Feins­ten der Blatt­haa­re eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, der neben mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne steht, und beob­ach­te­te mich aus meh­re­ren win­zi­gen schwar­zen Augen. Ich habe über­legt, was die­ses Wesen wohl in mir sieht. Für einen wei­te­ren kur­zen Moment habe ich dar­über nach­ge­dacht, ob Spin­nen viel­leicht hören, – ich lese oft laut vor mich hin, das soll­ten sie wis­sen -, und so wun­der­te ich mich, dass ich vie­le Jah­re gelebt habe, ohne der Fra­ge nach­zu­ge­hen, ob Spin­nen über Ohren­paa­re oder doch wenigs­tens über einen zen­tra­len Gehör­gang, wo auch immer, ver­fü­gen. Ich saß also am Schreib­tisch, ich las und die klei­ne geti­ger­te Spin­ne, von der ich Ihnen erzäh­le, seil­te sich zur Tas­ta­tur mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne ab. Ich hat­te den Ein­druck, dass ihr die­se Luft­num­mer Freu­de mach­te, weil sie ihre Lan­dung immer wie­der hin­aus­zö­ger­te, indem sie den Faden, der aus ihr selbst her­aus­ge­kom­men war, ver­speis­te, dem­zu­fol­ge ver­kürz­te. Viel­leicht hat­te sie bemerkt, dass ich sie betrach­te­te, das ist denk­bar, weil ich auf­ge­hört hat­te, laut zu lesen, für einen Moment, um nach­zu­den­ken, viel­leicht woll­te sie, um sich mir dar­zu­stel­len, auf mei­ner Augen­hö­he blei­ben. Das war genau in dem Moment, als Marit nach ihrer letz­ten Nacht auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­ge­kom­men war, Marit, die doch eigent­lich seit Stun­den schon tot gewe­sen sein muss­te. Marit setz­te sich auf eine Trep­pe und begann zu wei­nen. Sicher wer­den Sie sich erin­nern an Marit, wie sie auf der Trep­pe sitzt und weint, weil sie wuss­te, dass sie eine wei­te­re letz­te Nacht vor sich haben wür­de. Als ich las, dass Marit lebt und weint, habe ich eine Pau­se gemacht, weil ich erschüt­tert war, weil das Gift nicht gewirkt hat­te. Ich saß vor mei­nem Schreib­tisch und über­leg­te, ob auch sie, James Sal­ter, erschüt­tert waren, als Marit lang­sam, auf unsi­che­ren Bei­nen die Trep­pe her­un­ter­kam. Und wäh­rend ich an Sie und Ihre Schreib­ma­schi­ne dach­te, beob­ach­te­te ich die Spin­ne, die mit­tels ihrer win­zi­gen Bei­ne, den Faden, an dem sie hing, betas­te­te. Ist das nicht ein Wun­der, eine Spin­ne wie die­se Spin­ne? Haben Sie schon ein­mal bemerkt, dass es nicht mög­lich ist, mit einer elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne zwei Buch­sta­ben zur glei­chen Zeit, also über­ein­an­der, auf das Papier oder den Bild­schirm zu schrei­ben? Immer ist einer vor, nie­mals unter dem ande­ren. Mit herz­li­chen Grü­ßen Louis.

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mangrove

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india : 22.58 — Im Pal­men­gar­ten befin­den sich acht waben­för­mi­ge Glas­häu­ser, die durch Schleu­sen­räu­me mit­ein­an­der ver­bun­den sind, sodass man in weni­gen Minu­ten zunächst durch eine Wüs­te spa­zie­ren kann, dann durch einen Regen- und kurz dar­auf durch einen Nebel­wald. Ich sitz gern dort, jen­seits der Man­gro­ven­ab­tei­lung im Bro­me­li­en­haus, und lese in was­ser­fes­ten Büchern her­um. Es ist ange­nehm still. Kaum jemand ver­irrt sich hier­her, so ver­steckt liegt die Wabe im Zen­trum der Glas­haus­ver­samm­lung. Und viel­leicht genau aus die­sem Grund, weil es von Men­schen still ist, kom­men dut­zen­de, lei­se jau­len­der Wach­teln unter Bäu­men zusam­men, auf wel­chen Blu­men lun­gern wie schla­fen­de Vögel. Hat­te vor Stun­den noch unter Luft­wur­zeln etwas Wil­helm Gen­a­zi­no beob­ach­tet. Plötz­lich bemerk­te ich, dass kein Geräusch um mich her­um zu hören war. Völ­li­ge Stil­le. Eine merk­wür­di­ge, eine tro­cke­ne Stil­le. Für einen kur­zen Moment der Ein­druck, wäh­rend des Lesens viel­leicht taub gewor­den zu sein. Schau­te mich um, sah eine Hand auf einer Buch­sei­te lie­gen und dach­te, dass ich jetzt mit die­ser Hand sofort zur Beru­hi­gung ein Papier­ge­räusch erzeu­gen müs­se. Ich blät­ter­te also um, und ich hör­te ein Rascheln und das lei­se Sau­sen der Luft, hör­te Vögel wie­der pfei­fen, das Trop­fen des Was­sers. Ich hör­te mei­ne Stim­me das Wort selt­sam sagen. — stop
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pong pong

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alpha : 2.01 — Kurio­se Beob­ach­tung heut Nacht. Ich saß auf mei­nem Sofa und dach­te an eine Appa­ra­tur, die in der Lage sein könn­te, Bücher in einem vor­ge­ge­be­nen Rhyth­mus selbst­stän­dig umzu­blät­tern. Über zwei Arme soll­te die­se Maschi­ne ver­fü­gen, gleich­wohl über fin­ger­ähn­li­che Fort­sät­ze, einen Motor und Sen­so­ren, emp­find­lich für Licht. Wäh­rend ich die Maschi­ne in mei­nem Kopf zusam­men­setz­te, notier­te ich die Anzahl der Schrau­ben, die bald ein­mal im wirk­li­chen Leben zur Fes­ti­gung nötig sein wer­den, hand­schrift­lich auf ein Blatt Papier. Immer wie­der, wenn ich in mei­ner Arbeit gestört wur­de, setz­te ich neu an. Das ist näm­lich sehr merk­wür­dig mit Maschi­nen, die ich erfin­dend mon­tie­re, sie ver­schwin­den voll­stän­dig aus dem Sinn, sobald ich nur für eine Sekun­de mei­ne Arbeit zu unter­bre­chen habe, sagen wir, weil ich höre, wie drau­ßen auf der Stra­ße Schrit­te lau­fen. Eigent­lich ist die­se Nacht über­haupt unge­eig­net, eine Kopf­ma­schi­ne zu bau­en. Ich habe die Fens­ter mei­ner Woh­nung geöff­net, ein leich­ter Wind fährt durch die Kro­nen der Bäu­me vor dem Haus. Die­se Bäu­me im Dun­keln sind Kas­ta­ni­en. Sie machen Nuss­mu­sik, pong, pong. — stop

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ground zero

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sier­ra : 18.16 — Zwei Stun­den Broad­way süd­wärts bis Ful­tonstreet. Eine klei­ne Kir­che, St Paul’s Cha­pel, Gra­nit­stei­ne, Grä­ber, ein Gar­ten unter Bäu­men. Ich ken­ne die­sen Gar­ten, die­se Bäu­me, eine Foto­gra­fie genau­er, die einen Staub­gar­ten zeigt, Sekun­den­zeit ent­fern­ter Gegen­wart, ein Bild, das im Sep­tem­ber 2001 auf­ge­nom­men wur­de, am elf­ten Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vor­mit­tags. Hell­graue Land­schaft, Papie­re, grö­ße­re und klei­ne­re Tei­le, lie­gen her­um, Akten, Scher­ben. Auch die Bäu­me vor der Kir­che, hel­le Gestal­ten, als hät­te es geschneit, eine fei­ne Schicht reflek­tie­ren­der Kris­tal­le, Spät­som­mer­eis, das an Wän­den, Stäm­men und an den Men­schen haf­tet, die durch den Gar­ten schrei­ten, träu­men­de, schlaf­wan­deln­de, jen­sei­ti­ge Per­so­nen im Moment ihres Über­le­bens. Ein merk­wür­di­ges Licht, bei­nern, nicht blau, nicht blü­hend wie am heu­ti­gen Tag um Jah­re wei­ter­ge­kom­men. Etwas fehl­te in der Luft im Raum unter dem Him­mel über Man­hat­tan sehr plötz­lich, war so fein gewor­den, dass es von flüch­ten­den Men­schen ein­ge­at­met wur­de. Kaf­fee­tas­sen. Trep­pen­läu­fe. Hän­de. Feu­er­lö­scher. Füße. Wasch­be­cken. Nie­ren. Stüh­le. Schu­he. Com­pu­ter­bild­schir­me. Arme. Brüs­te. Kopf­scha­len. Radio­ge­rä­te. Blei­stif­te. Tele­fo­ne. Ohren. Augen. Her­zen. stop
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vögel

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char­lie : 2.08 — Plötz­lich war er da, wie aus dem Nichts, der Jun­ge heut Nacht woher zurück­ge­kom­men. Knie­te auf einem Stuhl vor dem Bett, auf dem sei­ne Mut­ter ruh­te. Ein Arzt hat­te zu ihm gespro­chen, erklärt, wes­halb die Mut­ter so lan­ge Zei­ten schla­fen müs­se, die­sen merk­wür­di­gen Schlaf, Mona­te, Mona­te, Mona­te. Und dass die Mut­ter nicht ant­wor­ten, aber hören kön­ne, wenn man zu ihr spre­chen wür­de. Also erzähl­te der Jun­ge sei­ner Mut­ter von der Schu­le, vom Schnee, vom Ball­spiel, von damp­fen­den Loko­mo­ti­ven sei­ner Modell­ei­sen­bahn. Manch­mal flüs­ter­te er, beug­te sich hin zum schla­fen­den Ohr, erzähl­te von gehei­men Din­gen. Und von den Vögeln berich­te­te der klei­ne Mann, von Vögeln, die sehr nah gleich hin­ter dem Fens­ter an der Brüs­tung des Bal­kons ihre Schnä­bel wetz­ten. Vögel waren das, beson­de­re Vögel, sie hal­fen, wei­ter­zu­er­zäh­len, wenn ihm nichts ein­fal­len woll­te. Ein­mal hör­te ich, wie er einen Vogel erfand, ein Wesen, das allein durch Wör­ter für Sekun­den exis­tier­te, einen Vogel der Poe­sie. Sei­ne glo­cken­hel­le, auf­ge­reg­te Stim­me, sein erhitz­tes Gesicht, sei­ne müden Augen, sei­ne Hän­de, die die Luft beschrie­ben. — stop
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