alpha : 16.12 — Ramos erzählte gestern am späten Abend von einer Methode, E‑Mail derart zu programmieren, dass sie sich kurz nach ihrem Aufruf vor den Augen des Lesenden selbst zerstören oder auflösen wird, weil ihre Zeichen heller und heller werden, bis sie unsichtbar geworden seien. Ramos selbst will diese Möglichkeit des Verschwindens programmiert haben. Wir notierten zur Probe einen elektrischen Brief an mich selbst. Ich sendete also einen kurzen Text, den ich vor fünf Jahren bereits aufgeschrieben hatte: 6.15 – Während ich Stunde um Stunde in Stewart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobster lese, immer wieder das Wort Mississippi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Mississippi in der Fortsetzung der Lektüre nach und nach alle weiteren Wörter und Gedanken ersetzten könnte. In einem Wort verschwinden. — stop - Sobald die E‑Mail, die mittels Ramos’ Programm notiert worden war, auf meiner Schreibmaschine eingetroffen war, öffnete ich sie. Tatsächlich, kaum hatte ich den Cursor meiner Schreibmaschine über den Text hin bewegt, lösten sich seine Buchstaben auf, sie verblassten, waren bald nur noch eine Ahnung auf der Netzhaut meines Auges. Ramos erklärte, alle Zeichen, die mittels seines Programmes verschlüsselt worden seien, würden für eine Minute zur Verfügung stehen, man dürfe den Text der E‑Mail jedoch nicht berühren oder den Versuch unternehmen, einen Screenshot anzufertigen. Jede bekannte Methode des Fangens auf künstlichem Wege sei unwirksam. Auch eine Fotografie zu nehmen mittels eines gewöhnlichen Fotoapparates sei nicht möglich. Ramos, der höchst begeistert wirkte, wollte mir nicht erzählen, wie dieses Verhalten programmiert sein könnte. Was bleibt, sagte Ramos, ist eine E‑Mail dieser Art auswendig zu lernen, um sie kurz darauf auf Papieren zu rekonstruieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: methode
glücklicher brief an vladimir nabokov : propeller
~ : louis
to : Mr. vladimir nabokov
subject : PROPELLER
Lieber Mr. Nabokov, vor langer Zeit, Sie erinnern sich vielleicht, hatte ich Ihnen einen Brief notiert, welchen ich heute wiederentdeckte. Plötzlich war ich mir nicht sicher, ob Sie den Brief tatsächlich erhalten haben, deshalb sende ich ihn unverändert ein weiteres Mal: Gestern Abend, nach einem Spaziergang und dem Besuch einer Bar, in der ein paar halbwegs betrunkene Freunde saßen, habe ich mich an ihre Vorlesung über Franz Kafkas Verwandlung erinnert, an Ihre liebevolle und akribisch genaue Untersuchung des Textes, an ihre Käferzeichnungen von eigener Hand, mit welchen Sie versuchten eine Vorstellung zu gewinnen von Wesen und Gestalt jener Hülle, in die Gregor Samsa eingeschlossen worden war. Ja, die Genauigkeit, mit der man sich erfindend einem Gegenstand nähert oder die Genauigkeit, mit der man einen erfundenen Gegenstand sezieren kann, immer wieder begegne ich während meiner Arbeit Ihren Untersuchungen, Ihrer Methode. Vorgestern hatte ich bei einer ersten Annäherung an eine Geschichte, die von lebenden Papieren erzählen wird, das Wort Propellerflügel in den Mund genommen, ohne zu ahnen, dass Propeller in der Welt lebender Organismen nur sehr schwer zu verwirklichen sind, weil ein Propeller sich doch frei bewegen muss, drehend in einer Fassung, die ihn lose hält, sodass ein lebender Organismus aus einem weiteren Körper bestehen müsste, der ganz zu ihm gehören würde und doch nicht ganz zu ihm gehören kann. Nun habe ich beschlossen, die Vorstellung der Propellerflügel nicht so ohne Weiteres aufzugeben. Ich habe mir gedacht, dass ein Propeller, der aus organischen Materialien bestehen wird, vielleicht auf atomarer Ebene einem flugfähigen Körper verbunden sein könnte, verbunden durch Moleküle, die im Moment einer Flugbewegung, den Rotor von Haut und Knochen einerseits anzutreiben in der Lage sind und andererseits je für einen kurzen Moment in die Freiheit entlassen. Und jetzt bin ich glücklich und hoffe, dass sie an meinem Entwurf Gefallen finden werden. – Mit allerbesten Grüßen, Ihr Louis - stop
nordpol : 18.55 UTC – In den Echokammern der Twitterwelt üben menschliche Lebewesen inverse Methoden, beispielsweise die Methode, bezüglich einer Position grundsätzlich das Gegenteil zu glauben, etwas zu glauben also, auch dann, wenn es nicht sein kann. Am Abend des 7. April beobachtete ich, wie ein junger Mann einer jungen Frau notierte: Erhäng Dich. Die junge Frau hatte zu einem frühen Zeitpunkt unterstellt, ein Anschlag in der Stadt Münster sei von Mitgliedern des IS verübt worden. An anderer Stelle sprach sie von Menschen, die aus Eritrea nach Israel geflüchtet sind, diese Menschen seien VIEHZEUG. Die junge Frau antwortete unverzüglich: Dein Satz hat das falsche Satzzeichen. Es müsste “Erhäng Dich!” heißen. Der junge Mann wiederum notierte, er denke, dass der Kontext ( sie solle sich erhängen ) auch ohne Satzzeichen “rüber” komme. Das hier ( Twitter ) sei ein Kurznachrichtendienst und kein Diktat. — stop
landau
ulysses : 16.05 UTC – Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiß, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Gidhsti, die in Eritrea groß geworden ist, sagte: Was für eine seltsame Frage! Wir hatten nichts zu binden, wir sind barfuß gewesen oder trugen Sandalen. Ich war ungefähr 20 Jahre alt, als ich lernte, meine Schuhe zu binden. Darauf muss man erst einmal kommen, an einem Sonntagnachmittag. — stop
ein präsident
alpha : 5.12 — Während einer seiner Wahlkampfreden im November des vergangenen Jahres, simulierte der 45. nordamerikanische Präsident in abwertender Weise Bewegungen eines Journalisten, der seit seiner Geburt mit einem körperlichen Handicap lebt. Der Moment, da der 45. nordamerikanische Präsident sich selbst, sein Wesen, seine Kultur, seine Würde, in authentischer Methode zur Darstellung brachte, wurde aufgezeichnet. Ich werde diese Filmsequenz niemals vergessen, ich werde diese Filmsequenz stets vor mir sehen, sobald ich den 45. nordamerikanischen Präsidenten über einen Bildschirm schreitend oder auf ein Blatt Zeitungspapier gedruckt wahrzunehmen habe. Wir werden Großartiges tun! Wir werden Amerika wieder großartig machen! — Der 9. November 2016 ist ein großartig, schrecklicher Tag. — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um eine weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zurzeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
postkarte
echo : 5.15 – In meinem Briefkasten ruhte eine Postkarte, die von irgendjemandem mit winzigen japanischen Zeichen beschriftet worden war. Zunächst wirkte der Text wie ein Muster, das sich erst dann zu Schriftzeichen auflöste, als ich meine Brille aus der Schublade holte. Ich konnte den Text natürlich nicht lesen. Ich nehme an, die Postkarte wurde versehentlich in meinen Briefkasten geworfen. Bei genauerer Untersuchung stellte ich jedoch fest, dass die Postkarte in jedem anderen Briefkasten vermutlich gleichwohl ein versehentliches Ereignis gewesen wäre, die Postkarte trug nämlich keine Anschrift an der dafür vorgesehenen Stelle, aber eine Briefmarke des japanischen Hoheitsgebietes. Auch auf ihrer Rückseite war kein Adressat zu erkennen. Eine Fotografie zeigt Samuel Beckett, der unter einem blühenden Kirschbaum sitzt, oder einen Mann, der Samuel Beckett ähnlich sein könnte, der Dichter im Alter von 160 Jahren, er hat sich kaum verändert. Ein sehr interessantes Bild. Auf einem Ast des Baumes sind Eichhörnchen zu erkennen, sieben oder acht Tiere, die ihre Augen geschlossen halten. Ich erinnere mich, dass ich einmal davon hörte, Menschen würden immer wieder einmal Postkarten notieren, oft sehr aufwendig ausgearbeitete Schriftstücke, um zuletzt die Adresse des Empfängers zu vergessen. Das ist tragisch oder vielleicht eine Methode, Information an die Welt zu senden, die niemanden oder irgendeinen beliebigen Menschen erreichen soll. Nun liegt diese Postkarte neben Zimtsternen, Bananen und Äpfeln auf meinem Küchentisch. Zunächst hatte ich das Wort L i e b e r in die Google – Übersetzermaschine eingegeben und in die japanische Sprache übersetzt. Zeichen, die sich auf meinem Bildschirm formierten, waren mit den ersten Zeichen auf der Postkarte identisch. Ich weiß sehr genau, was jetzt zu tun ist. In diesem Augenblick jedoch scheue ich noch davor zurück, meinen Namen in die Maske der Suchmaschine einzugeben. Bald Morgendämmerung im Koffertext, ich höre schon Tauben auf dem Dach spazieren. – stop
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit winzigen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen vollkommen leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war, damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
timi
nordpol : 5.32 — Seit fünf Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Einmal schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren, dachte finnisch klingende Namen aus: Satu N. Mäkela . Annukka R. Timi. Helena Paivi . Jonathan Paivi . Janne Ollila. Zwei dieser ausgedachten Namen zeitigen Spuren wirklicher Menschen in der Sphäre der Suchmaschinen, einer scheint männlicher Natur zu sein, obwohl ich ihn weiblich überlegte. — stop