Aus der Wörtersammlung: minute

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eine libelle

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hima­la­ya : 6.51 — Im Colum­bus Park sit­zen Män­ner im Kreis um einen Stein und spie­len mit Kar­ten, die ich noch nie zuvor gese­hen habe. Vom East River her, der nah ist, das Gespräch der Schif­fe. In den blatt­lo­sen Bäu­men kau­ern kal­te Vögel, äußerst lang­sam öff­nen und schlie­ßen sie ihre Augen, Häut­chen, hell wie von Milch. Ich bin auf dem Weg, Mr. Fefei in sei­ner Werk­statt Pell Street 8 zu besu­chen. Tra­ge die Uhr mei­nes Vaters in der rech­ten Hosen­ta­sche, hal­te sie fest, hal­te sie fest. In der Werk­statt ist es dun­kel. Eine alte Frau, tief gebückt, führt mich durch den schma­len Raum. Vor­sich­tig, sehr vor­sich­tig, als wür­de sie nie wie­der vom Boden kom­men, wenn sie ein­mal stür­zen soll­te, geht sie durch die sti­cki­ge Luft dahin. Ein Lun­gen­hum­mer kreuzt schep­pernd unse­ren Weg. Mr. Fefei sitzt hin­ter einer Werk­bank im Roll­stuhl, einem uralten Ding mit Rädern, die so groß sind wie der alte Mann selbst. Ich wer­de eine Vier­tel­stun­de in sei­ner Nähe ver­brin­gen, ich wer­de ihm erzäh­len von der Uhr mei­nes Vaters, dass sie nicht ste­hen geblie­ben ist, seit er starb, dass ich mir wünsch­te, sie wür­de nie­mals ste­hen blei­ben, die Zeit mei­nes Vaters. Wie, Mr. Fefei, wer­de ich fra­gen, könn­te es mög­lich sein, die Bat­te­rien der Uhr zu wech­seln, ohne sie anhal­ten zu müs­sen? Ich wer­de sehen, wie die zier­li­che Hand des alten Man­nes über den Tisch wan­dert, um nach der Uhr zu grei­fen, wie er die Uhr wie­gen und wie er sie betrach­ten wird, von allen Sei­ten her, wie er ein Hör­rohr an das Gehäu­se legen, wie er nicken, wie er lachen wird. Sei­ne Frau wird mir einen Tee ser­vie­ren, einen grü­nen Tee, einen sehr grü­nen damp­fen­den Tee, den ich sicher nicht ver­tra­gen und doch trin­ken wer­de, wäh­rend sich Mr. Fefei wie­der mit sei­ner Libel­le beschäf­tigt. Vor­sich­tig nähert er sich dem Gesicht des wil­den Tie­res, das zu einem zit­tern­den Röhr­chen gefes­selt vor ihm liegt, mit einer Pin­zet­te. Alles das wird gleich gesche­hen, in weni­gen Minu­ten ist wie­der Abend gewor­den. Alte Män­ner sit­zen im Kreis um einen Stein und spie­len Kar­ten, die ich noch nie gese­hen habe. Vom East River her, der nah ist, höre ich das Gespräch der Schif­fe. In den blatt­lo­sen Bäu­men kau­ern kal­te Vögel, äußerst lang­sam öff­nen und schlie­ßen sie ihre Augen, Häut­chen, hell wie von Milch. — stop

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eine funkuhr

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sier­ra : 7.01 — Weni­ge Stun­den nach­dem mein Vater im April des ver­gan­ge­nen Jah­res gestor­ben war, über­reich­te mir mei­ne Mut­ter eine Uhr. Sie sag­te, ich, der ältes­te Sohn der Fami­lie, sol­le sie tra­gen. Viel­leicht mein­te sie, ich sol­le die Uhr mei­nes Vaters bewah­ren und damit die Zeit mei­nes Vaters behü­ten. Ja, genau so könn­te das gewe­sen sein, denn die klei­nen und die gro­ßen Uhren der Men­schen, die gestor­ben sind, blei­ben nicht sofort ste­hen, auch die Uhr mei­nes Vaters, die ich in die­sem Moment an mei­nem lin­ken Unter­arm tra­ge, zeigt uner­müd­lich wei­ter die vor­rü­cken­de Zeit. Sie knis­tert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so lei­se, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knis­tert oder mein Ohr in der Begeg­nung mit dem küh­len Gehäu­se. Vie­le Tage und Wochen lang habe ich die Uhr mei­nes Vaters nicht getra­gen, sie ruh­te auf mei­nem Schreib­tisch. Manch­mal, indem ich sie beob­ach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, sie war­te. Immer wie­der ein­mal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirk­li­che Zeit ange­zeigt zu bekom­men. Bei der Uhr mei­nes Vaters han­delt es sich näm­lich um eine Funk­uhr, die zu jeder Zeit auf die Sekun­de genau die all­ge­mein­gül­ti­ge Zeit anzu­zei­gen ver­mag. Ihr Zif­fer­blatt ist über­sicht­lich gestal­tet, ein gro­ßer Kreis für Halb­ta­ges­zeit und klei­ner Kreis in der unte­ren Hälf­te, in dem der Sekun­den­zei­ger sich um Minu­ten­zeit fort­be­wegt. Die­se Uhr und ihre drei Zei­ger ist nun mei­ne Uhr. Am ver­gan­ge­nen Sonn­tag setz­te ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nacht­zeit. Um genau zwei Uhr beschleu­nig­te der Minu­ten­zei­ger wie von Geis­ter­hand, dreh­te sich schnell ein­mal im Kreis her­um, dann war Som­mer gewor­den, ein selt­sa­mer Moment, weil ich für einen Augen­blick den Ein­druck hat­te, mein Vater selbst beweg­te den Zei­ger der Uhr, die sei­ne letz­te gewe­sen ist, weil er auf mich und mei­ne Zeit ach­tet. — Ges­tern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop

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ameisengeschichte

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india : 6.15 — Die müde Stim­me eines Freun­des ges­tern Abend auf dem Anruf­be­ant­wor­ter. Ich hat­te um einen Rück­ruf gebe­ten, der Rück­ruf kam bald. Er mel­de­te, er sei gera­de auf dem Land in sei­nem Haus und kämp­fe mit Amei­sen. In den dar­auf­fol­gen­den Minu­ten hat­ten wir mehr­fach kür­ze­re Ver­bin­dun­gen, die je nur Sekun­den­zeit dau­er­ten. Das waren Ver­bin­dun­gen einer Art gewe­sen, die man viel­leicht von frü­her her kennt, Stör­ge­räu­sche, Wort­fet­zen, Stim­men von sehr weit her, geheim­nis­voll. Nach eini­gen Minu­ten war dann end­lich eine sta­bi­le Ver­bin­dung erreicht. Ich hör­te einen Bericht jener Vor­gän­ge, die sich fern, im Rhein­gau, in einem klei­nen Haus, das sich in der Nähe eines Wal­des befin­det, abspiel­ten. Möbel wur­den ver­rückt, in Mau­er­spal­ten geleuch­tet, Die­len ange­ho­ben, um das Nest der Amei­sen­tie­re, die wie­der ein­mal in das Haus ein­ge­wan­dert waren, auf­zu­spü­ren. Zu die­sem Zeit­punkt hat­te ich noch immer die Vor­stel­lung eines Kamp­fes, der mit den Werk­zeu­gen der Uhr­ma­cher gefoch­ten wur­de, Lupen, Pin­zet­ten, dazu feins­te Net­ze, Nadeln, Honig­trop­fen. Rasch wur­de deut­lich, dass ich mich in Dimen­sio­nen der Vor­stel­lung beweg­te, die mit der Wirk­lich­keit mei­nes Freun­des nichts zu tun hat­ten, mein Freund kämpf­te mit Schau­feln, mit Besen, mit Gif­ten, mit Feu­er, mit Was­ser. Er sag­te, er habe ein­zel­ne Tie­re bereits vor Wochen wahr­ge­nom­men, sie aber zunächst nicht ernst genom­men. Ich stell­te mir vor, wie sie nun über­all sind, ein Haus, das von Amei­sen geflu­tet wird, ein Haus, das eine Haut von Amei­sen­kör­pern trägt. Sie sol­len als Staats­we­sen ohne beson­de­re Intel­li­genz sein. Sie bemer­ken nicht, dass man sie bekämpft, sie wer­den weni­ger, aber sie hören nicht auf, sie flüch­ten nicht, gera­de des­halb sind sie viel­leicht nicht zu bezwin­gen. Und wie­der die Fra­ge, neh­men wir ein­mal an, ein Volk von Wan­der­amei­sen näher­te sich, was wür­de ich hören? Viel­leicht ein gut sicht­ba­res Geräusch? — stop

polaroidstrand

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von nachthüten

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echo : 6.48 — Es war das ers­te Mal, dass ich ein Hut­ge­schäft betre­ten habe. Es roch sehr gut, es roch nach fei­nen Stof­fen und nach Leder, es roch eigent­lich eher nach einem Schuh­ge­schäft als nach einem Geschäft für Hüte. Der Mann hin­ter dem Tre­sen trug natür­lich selbst einen Hut auf dem Kopf. Als ich mich näher­te, war er gera­de in ein Gespräch ver­tieft mit einem Herrn, der sich Hüte vor­füh­ren ließ. Er schien über sehr viel Geld zu ver­fü­gen, weil er jeden Hut, der ihm gefiel, unver­züg­lich kauf­te. Ein Turm von Hut­schach­teln, so hoch wie der Mann selbst, hat­te sich neben ihm gebil­det. Der Turm wur­de von einem Ange­stell­ten des Ladens fest­ge­hal­ten, damit er nicht stürz­te. Ein wei­te­rer jun­ger Mann klet­ter­te auf einer Lei­ter hin­ter dem Tre­sen vor einem Regal her­um, das aus einem frü­he­ren Jahr­hun­dert zu kom­men schien, das heißt, das Regal war übrig geblie­ben, wäh­rend ande­re Gegen­stän­de der­sel­ben Zeit längst ver­schwun­den waren. Eini­ge Minu­ten nahm kei­ner der Men­schen, die sich in dem Laden befan­den, Notiz von mir, und so konn­te ich die­se klei­ne Geschich­te beob­ach­ten, auch den Aus­füh­run­gen lau­schen, mit wel­chen der Mann, der Hüte kauf­te, sein Ver­hal­ten begrün­de­te. Obwohl auf sei­nem Kopf noch sehr viel Haar zu ent­de­cken war, schien der Mann sich bereits jetzt Gedan­ken dar­über zu machen, wie lang er über sein Haar noch ver­fü­gen wür­de. Er schien damit zu rech­nen, dass er bald kein ein­zi­ges oder nur räu­di­ges Haar auf dem Kopf tra­gen wür­de, dar­un­ter blo­ße Haut, nichts also als sei­nen Kopf, was für ihn inak­zep­ta­bel sein konn­te. Er woll­te nun vor­sorg­lich Hüte wie Fri­su­ren besit­zen, woll­te nichts ande­res, als mäch­tig sein über sei­ne Zukunft, vor­be­rei­tet, sagen wir. Selbst noch nachts, stell­te er sich vor, soll­te ein Hut sei­nen Kopf bede­cken, wes­we­gen er nach Nacht­hü­ten frag­te, aber so etwas gibt es nicht, oder bis­her nicht, Müt­zen ja, aber nicht Hüte, nicht Nacht­hü­te, was selt­sam ist, nicht wahr, dass es alles Mög­li­che gibt auf die­ser Welt, aber kei­ne Hüte, die rei­ne Nacht­hü­te sind. Seit ich das Hut­ge­schäft vor Stun­den ver­las­sen habe, den­ke ich dar­über nach, was einen Nacht­hut genau genom­men aus­ma­chen wür­de, was ihn von ande­ren Hüten unter­schei­den wür­de. Es müss­te ver­mut­lich sehr weich sein, das könn­te sein. Sehr viel wei­ter bin ich in mei­nen Über­le­gun­gen bis­lang nicht gekom­men. Es ist jetzt kurz nach drei Uhr. Schnee­wol­ken nähern sich von Nord­os­ten her. – stop

ping

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konzert für posaune

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lima : 2.12 — Vor weni­gen Stun­den, am spä­ten Nach­mit­tag, wur­den in der Cham­bers Street 155, drit­ter Stock, zwei Sau­er­stoff­fla­schen für den Trans­port in Rich­tung der Lex­ing­ton Ave­nue vor­be­rei­tet. Es han­del­te sich um zwei schlan­ke, metal­le­ne Behäl­ter von je 12 Kilo­gramm Gewicht. Sie schim­mer­ten sehr schön im Licht der tief ste­hen­den Son­ne, die durch die Fens­ter eines exqui­si­ten Ladens strahl­te, in dem man Zube­hör für Tau­cher und ande­re Was­ser­men­schen erwer­ben kann, see­fes­te Bücher, schwe­ben­de Stüh­le und Tische, Kie­men­vö­gel, Pracht­schne­cken, Leucht­mol­lus­ken und vie­le wei­te­re Gegen­stän­de, die man sich viel­leicht wün­schen wird, wenn man es mit einer dau­er­haf­ten Exis­tenz im oder unter dem Was­ser zu tun haben wür­de. Nun waren an den Sau­er­stoff bewah­ren­den Behäl­tern je zwei beson­de­re Vor­rich­tun­gen zu ver­mer­ken, Pro­pel­ler oder etwas Ähn­li­ches, die sich zur Pro­be mit einem hel­len Sau­sen so schnell dreh­ten, dass man sie in der Luft nicht sehen, aber spü­ren konn­te. Vier Ange­stell­te des klei­nen Ladens prüf­ten sehr sorg­fäl­tig eine hal­be Stun­de lang die Funk­ti­ons­tüch­tig­keit der Appa­ra­tu­ren, dann mon­tier­ten sie zwei metal­le­ne Schläu­che, an wel­chen sich Mund­stü­cke befan­den, die den Mund­stü­cken der Trom­pe­ten ähnel­ten. Denk­bar, dass jene beob­ach­te­ten Sau­er­stoff­fla­schen durch das Was­ser schwe­ben wer­den, wäh­rend man etwas Luft von ihnen nip­pen könn­te. Mei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit aber galt einem Zet­tel, der dem Trans­port bei­gefügt wor­den war. Dort war ver­merkt, dass die Behäl­ter am spä­ten Abend mit­tels eines Taxi­trans­fers an Mrs. Sün­ja Täp­pin­nen aus­ge­lie­fert wer­den soll­ten, wohn­haft in der Lex­ing­ton Ave­nue 1285, wie bereits erwähnt, 14. Eta­ge. Ursäch­lich für die Bestel­lung könn­te ein Unter­was­ser­jazz­kon­zert gewe­sen sein, das genau in die­sen Minu­ten, da ich mei­ne Nach­richt notie­re, zur Auf­füh­rung kom­men wird. Es ist nun alles, auch wirk­lich alles mög­lich, was man sich den­ken kann in die­ser schö­nen Win­ter­nacht. — stop

ping

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flamingo

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alpha : 2.25 — Seit eini­gen Wochen der Ver­dacht, dass sich Wör­ter mei­ner Par­tic­les-Sphä­re genau so ver­hal­ten, als wären sie unge­bän­dig­te Lebe­we­sen, sie tun näm­lich in heim­li­cher Wei­se was sie wol­len, fügen sich zum Bei­spiel selbst Buch­sta­ben hin­zu oder las­sen Buch­sta­ben, die für ihre spe­zi­el­le Exis­tenz unver­zicht­bar sind, ver­schwin­den. Ande­re Wör­ter las­sen Buch­sta­ben krei­sen, einen Buch­sta­ben um einen ande­ren Buch­sta­ben. Kaum habe ich nach lan­ger Arbeit in der Nacht die Augen zuge­macht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach gewor­den bin und betrach­te, was ich nachts notier­te, mein Gott, den­ke ich, aus Wet­ter ist Wat­te gewor­den, aus Mie­te Mut, aus Regen­schir­men Schir­me von Schnee. Gera­de eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beob­ach­tet, den ich vor Mona­ten notier­te. Ich hat­te die­ses Wort schon lan­ge im Auge. Eine Stun­de betrach­te­te ich das Wort, ohne dass es sich ver­än­der­te. Kaum aber war ich für eine Minu­te aus dem Raum getre­ten, um in die Küche zu gehen, wur­de aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreib­tisch zurück­kehr­te, gera­de noch sehen konn­te, wie aus dem Wort Mive wie­der das Wort Möwe wur­de. Eine selt­sa­me Sache. Auch gan­ze Wör­ter schei­nen durch den Text­raum wie durch Zeit zu rei­sen. Im Juli 2008 fabri­zier­te ich eine klei­ne Geschich­te, die davon erzählt, war­um ich nachts manch­mal im Dunk­len sit­ze. Genau die­sen Text scheint das Wort Fla­min­go beson­ders ange­nehm zu fin­den, wes­we­gen es immer wie­der erschei­nen will im Text anstel­le der Flie­gen, die Tee­flie­gen sind. Schau­en Sie selbst, Sie müs­sen nur lan­ge genug Beob­ach­ter oder Beob­ach­te­rin sein, dann wer­den Sie schon sehen: Heut Nacht sit­ze ich im Dun­keln, weil ich her­aus­zu­fin­den wün­sche, ob Libel­len auch in licht­lee­ren Räu­men flie­gen, schwe­ben, jagen. Als ich ges­tern, das soll­ten Sie wis­sen, gegen den Mit­tag zu erwach­te, balan­cier­te eine Libel­le, mari­ne­blau, auf dem Rand einer Karaf­fe Tee, die ich neben mei­nem Bett abge­stellt hat­te, schau­te mir beim Auf­wa­chen zu und nasch­te, solan­ge ich nur ein Auge beweg­te, indem sie rhyth­misch mit einer sehr lan­gen Zun­ge bis auf den Grund des zimt­far­be­nen Gewäs­sers tauch­te. Viel­leicht jag­te sie nach Fischen oder Lar­ven oder klei­nen Flie­gen, nach Tee­flie­gen, kochend heiß, die küh­ler gewor­den sein moch­ten, wäh­rend ich schlief. Oder aber sie hat­te end­lich Geschmack gefun­den auch an süßen Din­gen des Lebens, wes­halb ich kurz vor Mit­ter­nacht einen Löf­fel Honig erhitz­te und auf die Fens­ter­bank trop­fen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so war­te ich nun bereits seit drei Stun­den und höre selt­sa­me Geräu­sche, von Men­schen viel­leicht oder ande­ren wil­den Tie­ren. — stop – Zwei Uhr und fünf­und­zwan­zig Minu­ten. Wahr­schein­lich ist auch heu­te, wäh­rend ich schlief, wie­der alles in Bewe­gung gewe­sen. — stop

polaroidvoegel

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daniel pearl

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nord­pol : 6.22 — In weni­gen Tagen wer­de ich die Woh­nung, in der ich lan­ge Zeit leb­te, ver­las­sen, um in eine ande­re, grö­ße­re Woh­nung zu zie­hen. Es wird eine Woh­nung unter dem Dach sein, ver­mut­lich wer­de ich Tau­ben hören, wie sie über mir plau­dernd spa­zie­ren. Ich habe erfah­ren, dass Tau­ben­paa­re auch nachts mit­ein­an­der spre­chen, wäh­rend ande­re Vögel still oder stumm zu sein schei­nen. Aber viel­leicht zwit­schern die­se Vögel, die nicht Tau­ben sind, doch, wenn sie träu­men. Es ist selt­sam, wie ein Frem­der füh­le ich mich nach und nach, wenn ich mich in mei­ner eige­nen Woh­nung bewe­ge. Ich über­leg­te, wer in weni­gen Wochen hier von einem Zim­mer in ein ande­res Zim­mer lau­fen wird. Die­ser Mensch oder die­se Men­schen wer­den zunächst kei­ne Ahnung haben, kei­ne Vor­stel­lung, sagen wir, wer vor ihnen in die­sen Räu­men wohn­te. Es ist denk­bar, dass sie viel­leicht mei­ne Nach­barn fra­gen wer­den. Ich könn­te eine Foto­gra­fie mit mei­nem Namen und einer Bot­schaft hin­ter­las­sen: Hal­lo, hier wohn­te Lou­is, hier an die­ser Stel­le stand mein Schreib­tisch, hier habe ich Tex­te notiert. In einem Win­ter vor lan­ger Zeit, ich ahn­te nicht, dass ich die­se mei­ne Woh­nung ein­mal auf­ge­ben wür­de, hat­te ich die Zeit ver­ges­sen. Ich schrieb Fol­gen­des: Was haben wir heu­te eigent­lich für einen Tag, Sonn­tag viel­leicht, oder Mon­tag? Abend jeden­falls, einen schwie­ri­gen Abend. Wür­de ich aus mei­ner Haut fah­ren, sagen wir, oder mit einem Auge mei­nen Kör­per ver­las­sen und etwas in der Zeit zurück­rei­sen, dann könn­te ich mich selbst beob­ach­ten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, wäh­rend er Tee zube­rei­tet, er sagt: Heu­te machen wir das, heu­te ist es rich­tig. Ein Bün­del von Melis­se zieht durchs hei­ße, sam­tig flim­mern­de Was­ser. Jetzt trägt er sei­ne damp­fen­de Tas­se durch den Flur ins Arbeits­zim­mer, schal­tet den Bild­schirm an, sitzt auf einem Gar­ten­stuhl vor dem Schreib­tisch und arbei­tet sich durch elek­tri­sche Ord­ner in die Tie­fe. Dann steht der Mann, er steht zwei Meter vom Bild­schirm ent­fernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürch­tet. Da ist eine Stim­me. Eine schril­le Stim­me spricht schep­pernd Sät­ze in ara­bi­scher Spra­che, uner­träg­lich die­se Töne, sodass der Mann vor dem Schreib­tisch einen Schritt zurück­tritt. Er scheint sich zur Betrach­tung zu zwin­gen. Zwei Fin­ger der rech­ten Hand bil­den einen Ring. Er hält ihn vor sein lin­kes Auge, das ande­re Auge geschlos­sen, und sieht hin­durch. So ver­harrt er, leicht vor­ge­beugt, bewe­gungs­los, zwei Minu­ten, drei Minu­ten. Ein­mal ist sein Atmen hef­tig zu hören. Kurz dar­auf steht er wie­der in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühl­schrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unru­he, die lan­ge Zeit in die­ser Hef­tig­keit nicht wahr­zu­neh­men gewe­sen war. Ein Mensch, Dani­el Pearl, wur­de zur Ansicht getö­tet. – Was machen wir jetzt? - stop

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eine unerhörte geschichte

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alpha : 6.20 — Eine uner­hör­te Geschich­te soll am ver­gan­ge­nen Sams­tag­abend auf der Sta­ten Island Fäh­re MS John F. Ken­ne­dy ihren Aus­gang genom­men haben. Das Schiff war auf dem Weg zurück nach Man­hat­tan gewe­sen, als drei jun­ge Män­ner eine jun­ge Möwe lock­ten, und zwar mit hand­war­men Rosi­nen, die sie dem Tier, das auf einer Reling saß, vor die Füße war­fen, so dass es sich auf den Boden begab, wo es gefan­gen wer­den konn­te. Bei den jun­gen Män­nern han­del­te es sich um Timo­thy Waken, Bill L. Ander­son, sowie Max Aurel Ste­ven­son, alle drei leben in Brook­lyn von Kind­heit an. Sie waren wohl stolz auf ihr Han­deln gewe­sen, weil sie sich film­ten, wäh­rend sie das erschro­cke­ne Tier mit selt­sa­men Bäl­len zwangs­wei­se füt­ter­ten, Bäl­len, die prall mit Heli­um oder einem ande­ren leich­ten Gas gefüllt wor­den waren, wes­halb das Tier, als man es wie­der in die Frei­heit ent­ließ, wild zu schrei­en begann, ver­mut­lich des­halb, weil es bald bemerk­te, dass sich das Ver­hal­ten sei­nes Kör­pers in der Luft stark ver­än­dert hat­te. Die Möwe konn­te nicht mehr lan­den, immer wie­der fass­ten ihre Füße ins Lee­re, wenn sie nach der Reling der John F. Ken­ne­dy grei­fen woll­te. Einen Ver­such nach dem ande­ren unter­nahm die trau­ri­ge Krea­tur, bis sie im letz­ten Moment vor töd­li­cher Erschöp­fung doch noch erfolg­reich war. Nun aber muss­te sich die Möwe fest mit dem Schiff ver­bin­den, um nicht sofort wie­der auf­zu­stei­gen, ihr Bauch war rund, sie schien star­ke Schmer­zen zu haben und sich zu fürch­ten vor den jun­gen Män­nern, die sie film­ten, die ihr mit einem Schein­wer­fer ins Ant­litz leuch­te­ten. Die Möwe hat­te eine rosa Zun­ge, sie war zu die­sem Zeit­punkt die ein­zi­ge Möwe noch an Bord, alle ande­ren Tie­re waren west­wärts nach New Jer­sey geflüch­tet. Gegen 10 Uhr und drei­ßig Minu­ten, kurz bevor das Fähr­schiff Man­hat­tan erreich­te, ver­lie­ßen die Möwe ihre Kräf­te. Mit einem lei­sen, ver­zwei­fel­ten Ton lös­te sie sich vom Schiff. Sie war so schwach, dass sie die Flü­gel hän­gen ließ und lang­sam, wie ein Zep­pe­lin den Bat­tery Park in 25 Fuß Höhe durch­quer­te. Ein leich­ter Wind trieb das Tier die Sixth Ave­nue nord­wärts, wo es mehr­fach von Zeu­gen gesich­tet wur­de, ent­we­der von den Fens­tern der Wohn­häu­ser aus oder vom Boden her. Kurz vor Mit­ter­nacht wur­de die Feu­er­wa­che nahe Washing­ton Squa­re Park alar­miert. Dort genau, in die­sem Park, wur­de die Möwe schließ­lich vom Him­mel geholt. Behut­sam wur­de das Tier in den Arm genom­men. Es hat­te die Augen geschlos­sen und war voll­stän­dig stumm. — stop

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eleonore

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del­ta : 2.42 — Von Eleo­no­re weiß ich nichts, außer, dass sie über win­zi­ge Hän­de ver­fügt. Das ist nicht viel, nein, nicht viel, viel­leicht soll­te ich erwäh­nen, dass sie die Luft sehr lan­ge Zeit anzu­hal­ten ver­mag. Ich habe vor Kur­zem noch mit ihr das Luft­an­hal­ten geübt, wie saßen vor­ein­an­der und lach­ten, dann sag­te sie: Jetzt, und schloss ihren Mund. Auch ich schloss mei­nen Mund, ich mach­te einen Strich aus ihm in mei­nem Gesicht. Es war natür­lich Ehren­sa­che, dass in der Zeit unse­res Wett­kamp­fes weder von ihr noch von mir durch die Nase geat­met wur­de. Zunächst übten wir eine Minu­te, dann zwei, bis dahin hat­ten wir uns nur gewärmt oder ent­spannt, um sehr bald 2 Minu­ten und drei­ßig Sekun­den lang die Luft anzu­hal­ten, was mir bereits Schmer­zen berei­te­te, ich muss­te mich kon­zen­trie­ren, wäh­rend Eleo­no­re mich völ­lig ent­spannt betrach­te­te. In der Dis­zi­plin eines Atem­still­stan­des von drei Minu­ten und drei­ßig Sekun­den senk­te sie ihre Augen, nicht weil sie kämp­fen muss­te, son­dern weil sie mei­ne Hän­de beob­ach­te­te, die ein wenig zit­ter­ten, ich hat­te sie zu Fäus­ten geballt, ein Zei­chen, dass ich bald auf­ge­ben wür­de, wie man mir spä­ter erzähl­te. Das war nach mei­ner zwei­ten Ohn­macht gewe­sen, ich wur­de näm­lich schläf­rig nach 3 Minu­ten und 45 Sekun­den, sowie nach einer Übung von über 4 Minu­ten. Hier ende­te unser gemein­sa­mes Trai­ning, weil Eleo­no­re nicht wei­ter­ma­chen woll­te, da ich kein ernst­zu­neh­men­der Geg­ner für sie war. Statt­des­sen durf­te ich ihr zuse­hen, wie sie ver­such­te, in ihrer Lieb­lings­dis­zi­plin, der Lang­zeit­stre­cke von über sechs Minu­ten, eine schwie­ri­ge Rechen­auf­ga­be zu lösen. Sie notier­te ein Ergeb­nis, eine grö­ße­re Zahl, auf ein Blatt Papier in der ach­ten Minu­te, und sank dann laut­los in ihrem Stuhl in sich zusam­men, wo sie in die­ser Minu­te noch immer sitzt und fest zu schla­fen scheint. Mehr­fach habe ich ver­sucht, sie zu wecken, indem ich ihren Namen rief. Mit jedem mei­ner Rufe wuchs die Furcht, sie zu berüh­ren. Es ist jetzt eine hal­be Stun­de ver­gan­gen, drau­ßen vor dem Fens­ter summt eine kal­te Nacht. Nein, nein, ich bin nicht wirk­lich beun­ru­higt, denn ich mei­ne zu erken­nen, dass sich Eleo­no­res Brüs­te heben und sen­ken. Auch ihre Hän­de schei­nen sich leicht zu bewe­gen. Sie sind tat­säch­lich außer­or­dent­lich klein, es sind die Hän­de eines Mäd­chens an den Armen einer erwach­se­nen Frau, und sie sind weiß, ich erin­ne­re mich, sie waren schon immer sehr weiß gewe­sen. — stop

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chile

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echo : 6.05 — Der Spatz, der ges­tern Nach­mit­tag auf dem Brett vor dem Fens­ter saß, war ein küh­ler Vogel gewe­sen. Von der Käl­te der Luft so lang­sam gewor­den, konn­te ich ihn ohne Gegen­wehr in mei­ne Hän­de neh­men. Drau­ßen ist es jetzt schon lan­ge dun­kel gewor­den. Der klei­ne Vogel kau­ert in der Nähe der Hei­zung in einem Körb­chen auf einem Tuch und scheint zu schla­fen. Ich fra­ge mich, wie er den Novem­ber, den Dezem­ber, den Janu­ar über­le­ben konn­te. Es ist über­haupt seit län­ge­rer Zeit der ers­te Spatz, der mir begeg­net. Wenn ich dar­über nach­den­ke, weiß ich nicht ein­mal mehr, über wel­che Stim­me Spat­zen oder Sper­lin­ge gebie­ten. Ich höre hier in der Stadt im Som­mer noch das sir­ren­de Gespräch der Schwal­ben und im Win­ter das Gur­ren der Tau­ben vom Dach her und mor­gens ein­sa­me Amseln sin­gen. Die Stim­men der Sper­lin­ge aber sind ver­lo­ren gegan­gen. Gera­de noch habe ich in den Brief­mar­ken­samm­lun­gen mei­nes Vaters geblät­tert, die zu einer Zeit ange­legt wor­den waren, als in Mit­tel­eu­ro­pa noch Wol­ken von Spat­zen durch die Gär­ten wir­bel­ten. Es ist ein eigen­tüm­li­cher Geruch, der von den Alben aus­geht, lan­ge wur­den sie nicht geöff­net. Auch Brie­fe sind dort archi­viert, kost­ba­re Schrift­stü­cke einer Zeit, da mein Vater noch lan­ge nicht exis­tier­te. In die­ser Minu­te erin­ne­re ich mich an einen beson­de­ren Brief, den ich vor Jah­ren ein­mal auf mei­nem Schreib­tisch gefun­den hat­te, ich berich­te­te bereits, es war ein Luft­post­brief. Als ich das Cou­vert des Brie­fes genau­er betrach­te­te, das heißt, als ich den Brief so nahe an mei­ne Augen her­an­führ­te, dass ich die Stem­pel­ein­trä­ge sei­ner Anschrif­ten­sei­te ent­zif­fern konn­te, bemerk­te ich, dass der Luft­post­brief bereits vor lan­ger Zeit in Euro­pa auf­ge­ge­ben und über den Atlan­tik geflo­gen wor­den war. In Sant­ia­go de Chi­le dann ange­kom­men, konn­te der Brief nicht zuge­stellt wer­den, ver­mut­lich weil die Zei­chen, die den Brief beschrif­te­ten, kaum zu ent­zif­fern gewe­sen waren. Nach eini­gen Wochen War­te­zeit, reis­te der Brief, nun mar­kiert mit einem Schild­chen in blau­er, spa­ni­scher Far­be: Impo­si­ble de ent­re­gar! *, über den Atlan­tik zurück, um sich nur weni­ge Tage spä­ter erneut auf den Weg über das Meer nach Chi­le zu bege­ben. Ein wei­te­rer Schrift­zug war hin­zu­ge­kom­men, ein fei­ner, aber groß­zü­gi­ger Stem­pel­auf­druck: -Die­se Sen­dung wur­de von einem Blin­den geschrie­ben!- Zwei fri­sche Wert­mar­ken, nichts sonst ver­än­dert. Und so mach­te sich der Brief bald dar­auf ein vier­tes Mal auf den Weg über das Meer wie­der nach Euro­pa zurück und lan­de­te, weiß der Him­mel, war­um, in mei­ner Nähe, in der Nähe mei­ner Schreib­ma­schi­ne.- stop

* Nicht zustellbar

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