zoulou : 6.10 — Eine Stechmücke setzte sich in der Dämmerung nach einer langen Arbeitsnacht auf meinen Arm. Ich beobachtete, wie sie ihren Rüssel an mich legte, aber sie stach nicht zu, als ob sie sich meiner Reife nicht sicher geworden sei. Kurz darauf wartete ich vor einer Kasse in einer Menschenschlange. Irgendwo in der Ferne lachte eine Kassiererin. Plötzlich bemerkte ich, dass ich in meinem Leben noch nie eine Ohrfeige bekommen habe, oder alle Ohrfeigen, die ich bekommen habe, vergessen konnte. So endete meine Nacht mit zwei spannenden Geschichten, ich war zufrieden. — stop
Aus der Wörtersammlung: ohr
rose
sierra : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
lilimambo
echo : 15.01 — Die Stille von Gedanke zu Gedanke, wohltuend. Schlafende Ohren. — stop
im orbit
india : 18.16 — Die zärtlichste Art und Weise, einen Menschen zu berühren, ist vielleicht die Berührung durch Vorstellungskraft. stop. Mut. stop. Mut zur Erinnerung. stop. Das schweigende, vertraute Gehen in den Bergen. stop. Zitronenfalter. stop. Ein fröhliches Lachen, das Dohlenvögel lockte. stop. Wolken. stop. Gemeinsame Wolken. stop. Der Geschmack von Apfelscheiben. stop. Zeitlos sein. stop. Leicht und von Sorgen frei. stop. Geborgen. stop. Und Namen, Namen wie erfunden: Müllnerhorn. stop. Kolibrispitze. stop. Auf den Pfaden der Blick über die Schulter zurück: Bist du noch da? stop. Das Geräusch einer Glocke seit ungezählten Jahren in einer Pumpenradstation. stop. Das rieselnde Geräusch des Salzwassers. stop. Ein gebrochener Arm, der Zeit für Nähe spendet. stop. Eine Tasse Kaffee am Morgen im Aufbruch, ein warmer Kuss, ein Lächeln. stop. Das Schnurren einer Katze am Telefon. stop. Der süße Duft eines Ohres. stop. Ein roter Koffer, und im Winter Geistermasken, und wie man Feuer in einem Kachelofen entfacht. stop. Ja, wo bist Du, bist Du noch da? stop. Immer wieder das Wort Seelenortfeder in diesen Tagen, das ich am 20. Oktober 2010 entdeckte und sofort verschenkte. — stop
helsinki turku
zoulou : 0.05 — Einmal folge ich einem Mann namens Nuuri durch einen Zug, der sich sehr langsam von Helsinki nach Turku bewegt, es schneit. Der Mann, der stets eine helle wollene Mütze trägt, ist den Pendlern, die ihre Samstage und Sonntage in Turku verbringen, gut bekannt, sie scheinen nur darauf zu warten, seine heisere Stimme bald hören zu können: Wolken! Wolken! Das Stück Wolke zu 50 Cent zu verkaufen. Wer Nuuri nicht bereits einmal erlebte, wird vermutlich meinen, ein sehr seltsamer Mensch wandere durch die Abteile des scheppernden Zuges. Aber das würde ein Irrtum sein, Nuuri verkauft tatsächlich sehr kleine, wirkliche Wolken von Wasserdampf. Sie schweben über Baumminiaturen, welche dicht an dicht aus Fächern wachsen, die Nuuri mittels eines Bauchladens vor sich herträgt. Ein feines Netz gläserner Fäden ist wie eine Kuppel über der wilden Landschaft aufgespannt. Sobald man sich mit Augen, Ohren, Nase nähert, wird man wispernde Affenstimmen vernehmen, Vögel sind zu erkennen, die über Baumwipfel kreisen, und ein Panther so groß wie eine Ameise, der sich auf einer Lichtung wälzt. Und eben Wolken, Wolken, die man kaufen kann, sie blitzen und knallen von Zeit zu Zeit, es duftet sofort nach Schwefel, nach einem Löffel voll glimmenden Schwefels. Sobald man nun eine Wolke zu kaufen wünscht, eine Wolke zu 50 Cent, gebe man ein Handzeichen. Nuuri wird dann unverzüglich Platz nehmen, ein freundlicher Mensch. Er wird sich erkundigen, welche Wolke es denn sein soll. Und während man nun unter den Wolken, es sind viele, eine geeignete Wolke suchen wird, wird Nuuri von Turku und vom winterlichen Eis auf dem Meer und der Stille im Ohr erzählen, und wie es überhaupt möglich sein kann, einen Ameisenpanther zu füttern. — Ende der Wolkengeschichte. — stop
von ameisenuhren
nordpol : 5.06 — Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Nach einer Verfolgungsjagd über Bahnsteige des Zentralbahnhofs, gewährt mir ein Junge von vielleicht acht Jahren einen Blick in eine seiner Manteltaschen. Er will jetzt nicht mehr weglaufen, er will nur ganz still neben mir auf der Treppe sitzen und zusehen, wie ich Uhren betrachte, die sich in eben seiner Manteltasche befinden. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele größere und kleinere Armbanduhren auf einem sehr engen Raum beobachtet. Wie ich mich der Uhrentasche nähere, und zwar mit einem Ohr, sieht mir der kleine Junge, der nicht mehr weglaufen will, zu. Vermutlich wird er bemerken, dass ich meine Augen schließe, um das Geräusch der Uhrwerke in seiner aufregenden Schönheit wahrnehmen zu können, ein sehr leises Brausen, sagen wir, wie von Tieren gemacht, als würde ein Volk der Wanderameisen näherkommen. Wie ich mich aufrichte, habe ich die Uhr meines Vaters wiedergefunden, und der Junge beobachtet, wie ich sie nun um mein Handgelenk lege und sehr fest ziehe, was der Junge seinerseits mit einem Lächeln quittiert. Diese Uhr, sagt er, gehöre jetzt wieder mir, er macht sehr große Augen. — stop
in der rue de javel 151
ginkgo : 0.02 — Ich fahre in einem Zug. Vor dem Fenster schlendert karge Landschaft, Büsche, kein Schnee, kein Gras, aber Moose und Steine. Dämmerung. Stundenlang nicht Tag und nicht Nacht. Die Waggons des Zuges scheinen von Holz zu sein, aus ihren Wänden wachsen winzige, wilde Bäume in den Raum. Diese Bäume sind nicht höher als ein Finger, winzige Affen turnen herum, auch Vögel kreisen, wenn ich mich nähere mit einem Ohr, vermag ich Pfiffe zu hören. Auf einer Bank vor dem Fenster sitzt ein älterer Herr mit einem Telefon. Er notiert große, ungelenke Buchstaben in ein Heft. Sturzprotokoll No 75: Im Nachthemd ist Mademoiselle Livin, 92, über eine Treppe vom fünften Stock des Hauses 151 in der Rue de Javel in den vierten Stock gestürzt. Paris, 10. Dezember 2014, 3 Uhr 5 Minuten. — stop
vom anemonentext
alpha : 6.55 — Nehmen wir einmal an, dem ursprünglichen Code einer Seeanemone würde ein weiterer Code hinzugefügt, eine sehr kurze Strecke nur, sagen wir Jack Kerouacs Roman The Town and The City mittels Nukleobasenpaaren notiert. Was würde geschehen? Inwiefern würde Jack Kerouacs Text Wesen oder Gestalt einer Seeanemone berühren? Würde der Text von Seeanemone zu Seeanemone weitergereicht, würde der Jack Kerouacs Text sich nach und nach verändern, würde er vielleicht entlang der Küstenlinien wandern? Seit gestern, ich habe geträumt, sind menschliche Personen denkbar, die nur zu dem einem Zweck existieren, nämlich Ohren, ein gutes Dutzend wahlweise auf ihren Armen oder Schultern zu tragen, um sie gut durchblutet, solange zu konservieren, bis man sie von ihnen abnehmen wird, um sie auf eine weitere Person zu verpflanzen, die eine gewisse Zeit oder schon immer ohne Ohren gewesen ist. Unheimliche Sache. — stop
milanomaki
echo : 0.18 — Während eines Spaziergangs im botanischen Garten hörte ich, man habe zuletzt im Jahr 2000 eine bisher nicht bekannte Struktur der menschlichen Hand entdeckt, das ligamentum metacarpale pollicis, ein Band, welches die Stabilität der Daumenbewegung erhöhe. Bisher hatte ich angenommen, die Anatomie des menschlichen Körpers sei bereits seit Jahrzehnten restlos aufgeklärt. – stop. Es ist jetzt kurz nach Mitternacht, Count Basie: At the Aquarium. Vor wenigen Minuten erreichte mich eine E‑Mail. Milanomaki notiert > : Ich sollte ein Ohrenmensch sein. Ich sitze mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und höre zu, einem Menschen vielleicht oder einer Fliege, die über mir im Luftraum turnt. Oder ich stehe in einem Zimmer ganz still, um so präzise wie möglich denken zu können. Kurz darauf setze ich mich an einen Schreibtisch und mache viele Wörter, dann mache ich eine Pause, dann lese ich alles das Notierte noch einmal durch, dann streiche ich so viele Wörter mit dem Kopf, wie möglich ist, um bald wieder nur einen Strich vor mir auf dem Papier vorzufinden. Ich habe viel erlebt. — stop
camilla
himalaya : 5.32 — Ob Camilla wirklich existierte, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber der kleine Mann, Felipe, der von Camilla erzählte, existiert tatsächlich, er hat mir während einer morgendlichen Busfahrt die Hand gegeben, eine kleine, raue Hand, die Hand eines Mannes, der ein Leben lang hart gearbeitet haben muss. Ein Finger seiner Hand fehlte, glaube ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich meine gespürt zu haben, dass etwas fehlte, sein fester Händedruck, und als ich nachsehen wollte, hatte Felipe seine Hand eilig hinter dem Rücken versteckt. Ich fragte ihn, wo er geboren wurde, er antwortete mit einem Namen, der wunderschön in meinen Ohren klang, einen spanischen Namen. Er wohnte in dieser Stadt sein Leben lang. Fünfzig Jahre arbeitete er in einer Fabrik, in welcher Papiere erzeugt wurden, die in der Lage waren, Strom zu leiten. Man machte aus diesen merkwürdigen Papieren zum Beispiel Bücher, die sich in kühler Luft erwärmten. Beim Schneiden der Papierbögen könnte die Geschichte mit dem Finger passiert sein vor langer Zeit, als Camilla noch nicht in seinem Leben gewesen war. Wie Felipe von Camilla erzählte, leuchteten seine Augen, er ist doch ein großartiger Erzähler. Dass sie ihn trotz seines fehlenden Fingers liebte, erzählte er nicht, aber dass sie ein wenig größer war als er selbst, und dass sie über wunderbare Ohren verfügte, die wackelten, wenn sie lachte. Mit dem Alter wurde Camilla kleiner. Weil auch Felipe kleiner wurde, änderte sich nichts daran, dass sie größer war. Wie ich ihn so sah, neben seinem Koffer sitzend im schaukelnden Bus, dachte ich daran, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Menschen sich damit abfinden müssen, dass Finger für immer verschwinden, oder Camilla mit ihren bebenden Ohren. — stop