marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop
Aus der Wörtersammlung: ohr
radiusköpfchen
echo : 10.18 — Nehmen wir einmal an, ich wäre nachts über eine dämmernde Katze gestolpert, wäre eine Treppe hinuntergestürzt, unsanft gelandet, ich hätte mir vielleicht den Arm gebrochen, und zwar den rechten in seiner Beuge, das Ellenbogengelenk, Radiusköpfchen zertrümmert, Bänder gerissen, Muskeln, im geschwollenen Gewebe suchende Strukturen. Bald Überlandfahrt ins Hospital, Minutenschlaf im grellen Licht einer chirurgischen Ambulanz, vier Stunden Zeit in Abwesenheit, das Untersuchen, Beugen, Drehen, Zerren, Sägen, Bohren, Feilen, Diskutieren, Nähen, ich hörte, ich spürte nichts. Wie ich, es ist Mittag geworden, mit meinem Namen von Ferne her gerufen werde, Geisterstimmen, Geisterhände. Das strenge Korsett von dunkelblauer Farbe, in dem der kranke Arm geborgen liegt in einer grüßenden Haltung. Sandaugenmüdigkeit der Morphine. Die Bewegung der Finger, die mich glücklich macht, einer nach dem anderen Finger spürbar, aber meine Nase, mein Mund unerreichbar plötzlich wie die Oberfläche des Mondes. — stop
PRÄPARIERSAAL : periskop
echo : 8.15 — Zur Winterzeit mit einer jungen Frau, einer Malerin, in einem botanischen Garten spaziert. Sie erzählte von ersten Beobachtungen im Präpariersaal. Ihre leise Stimme, tief, die helle Wölkchen in der eiskalten Luft erzeugte. Und ein Blick, wenn sie mich ansah, der wie durch ein Sehrohr zu kommen schien. Auf dem Dach eines Glasschauhauses balancierte ein Mann mit einer Schaufel. Schwäne klapperten Schnäbel durch kniehohen Schnee. Entdeckte eine Notiz, die sie mir wenige Wochen später übermittelt hatte, weil ihr Kopf nach unserem Spaziergang weiterhin anatomische Sätze erzeugte. Ein Ausschnitt. Sophie schreibt: > Was ich sah, war Chaos. Merkwürdigste, fremdartige Formen auf Tischen, die von Studierenden bewegt wurden. Es war abstoßend und ängstigend. Ich dachte daran, dass dies einmal Menschen gewesen waren. Dann aber wurden in meinen Gedanken aus jenen gewesenen Menschen Körper, und es wurde möglich, das, was ich sah, mit Begriffen zu versehen. Ganz mechanisch sagte ich Bezeichnungen für Körperteile, die ich identifizieren konnte, vor mich hin. Ich glaube, dass sich in diesem Moment meine Emotionalität von meinem Intellekt trennte und sich irgendwo – sicher vor weiteren Eindrücken – versteckte. Und ich war erleichtert, zu sehen, dass das Geheimnis des Todes ein Geheimnis geblieben war. Ich beobachtete mit Verstand. Trotzdem sah ich tief aus mir selbst heraus. Ich wanderte zwischen Leichen umher, die von weißen Kitteln umringt waren, wie in einer Blase, die mich schützte, und doch war ich sehr zerbrechlich. In der Mitte der Körper, dort wo normalerweise der Bauch ist, war jeweils ein Loch zu sehen. Neugierig geworden, musste ich näher an die toten Körper herantreten. Ich sah das viele Fleisch, gelbe fettige Farbe unter farbloser Haut. Ich war überhaupt überrascht von der Farblosigkeit der Körper und stellte fest, wie wenig Menschliches, wie wenig Persönliches noch an ihnen zu erkennen gewesen war. Obwohl ich diesen Ort besuchte, um zu zeichnen, hatte ich bei meinen ersten Besuchen weder Papier noch Bleistift dabei. Ich wollte zunächst nur sehen. — stop
amsterdam
ohrlamellenschirm
pupille : 5.08 — 28 Lamellen, eine kreisförmige Versammlung feinster Häute, die unbemerkt eng an meinen Gehörgangwänden zu liegen gekommen sind, famoses Werk. Und doch kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, dass ganz und gar geglückt ist, was man erdachte, um den Lärm der Welt auszuschließen, eine Schirmverschlusskonstruktion, Adaption, durchblutet, einer Blende, erster Versuch, erste Verhandlung. Da war ein angenehmes Ziehen heute Nacht gegen zwei, als sich die Schirme in meinen Ohren schlossen. Es ist still jetzt, unvergleichbar stiller als sonst, nichts als meine Knochenräume pochen. Nein, nein, ich kann zu dieser Stunde nicht wirklich sagen, dass ganz und gar geglückt ist, was man erdachte. Noch wird das Alles mittels meiner Augen gesteuert. Dieser kleine Text zum Morgen wurde von einem zeitweise Blinden geschrieben. — stop
tonwellenschrauben
echo : 22.18 – Lungerte im Wald unter Louisiana-Moosen. Sturmgeräusche, auch Zikaden waren zu hören gewesen, ihre Flügelstimmen, hell, schrill, gläsern, Tonwellenschrauben. Auf Knien kroch ich bald jagend durchs Unterholz, wollte eines der lockenden Tiere fangen. Anstatt Insekten entdeckte ich Spieldosen, hunderte, ja tausende, kreisende Lärmmaschinen. Sie leuchteten, feuerrot und blau, je nach Höhe oder Tiefe ihres Gesangs. Sobald ich mich näherte, um eines der Wesen zu ergreifen, schossen sie senkrecht in die Luft, ganz so als würden sie über prall gefüllte Druckluftbäuche fürs flüchtende Reisen gebieten. Dann wurde ich wach. Es war Abend geworden. Samstag. Ein Orkan näherte sich von Westen, knisternde Fenster, Frösche schwebten summend vor den Fenstern. Zwei Stunden lang dachte ich über die Erfindung dienstbarer Käfer nach, Gattung, die Stille zu erzeugen vermag, wann immer gewünscht. Ich stellte mir vor, wie sie sich rückwärts über meine Wangen hin zu meinen Ohren bewegen, wie sie ihre kühlen Leiber in meine Gehörgänge versenken, wie sie sich dehnen und strecken, sanft, sanft, bis sie nahezu verschwunden sein werden. Zwei Fühler noch, ein Paar kleinster Augen links, ein Paar kleinster Augen rechts, Dochte, nein, Diodenlichter. Ich hörte nichts. — stop
von elefanten und ohren
tango : 20.18 — Ich besuchte im Traum ein Elefantenhaus. Kein gewöhnliches Elefantenhaus, vielmehr einen Ort, den eigenartige Elefanten bewohnten. Das waren nämlich Elefanten ohne jede Falte, sie waren so vornehm gestaltet, als wären sie von Glas geblasen, helle Augen, die sich flink bewegten, peitschende kleine, faltenlose Schwänze, lautlos schwingende, faltenlose Rüssel, riesige haarlose Körper, grau, braun, rosa. Ich saß auf einer Bank in ihrer Nähe. Vögel stürmten unter dem Kuppeldach hin und her. Sobald sie versuchten sich auf dem Rücken eines der Elefantentiere niederzulassen, rutschten sie ab und landeten auf dem Boden. Ein weiterer Vogel saß auf meiner Schulter. Der Vogel war mit einem meiner Ohren beschäftigt, hackte kleinere Portionen aus der Muschel, knurrte zufrieden vor sich hin. Sobald das Ohr, um das sich der kleine Vogel bemühte, verschwunden war, holte ich aus meiner Hosentasche ein neues Ohr, befestigte das Ohr an meinem Kopf, und schon fraß der kleine Vogel weiter vor sich hin. Einmal kostete ich heimlich von einem der Ohren, die sich in meiner Hosentasche befanden. Schmerzen hatte ich keine. — stop
PRÄPARIERSAAL : skalpell
romeo : 3.05 — Ich habe das Fauchen eines Schwans gehört. Zunächst war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich mich nicht vielleicht geirrt haben könnte, ein Nachgeräusch, dachte ich, ein Schatten in den Ohren, wie in den Augen Nachbilder entstehen, weil ich am Abend wirklichen, fauchenden Schwänen im Palmengarten begegnet war. Also spulte ich das Band zurück und hörte noch einmal genauer hin, und da war das luftige Geräusch tatsächlich wieder zu hören gewesen, in einer Atempause Emilys, deren Stimme ich im Nymphenburger Schlosspark aufgezeichnet hatte. Sie wollte Spazierengehen. Sie hatte gesagt, sie könne sich besser konzentrieren in Bewegung, vor allem besser schweigen, nachdenken im Gehen. Winterzeit, Schnee lag hoch bis zu den Knien und die Schwäne fauchten hungrig. Emily nun, so wie sie gesprochen hatte, ohne Pausen an dieser Stelle, weil ich ihr Schweigen in den Zeichen entfernte: > Bevor ich erzähle, wie ich die Öffnung des Körpers erlebt habe, möchte ich erwähnen, dass dieser erste Tag und auch der zweite Tag für mich nur schwer zu ertragen gewesen sind. Ich war beeindruckt von der großen Zahl der Tische, die in den Apsiden standen. Ganz ehrlich, ich war eingeschüchtert. Ich fühlte mich unsicher und unbedeutend und ich glaube, viele andere haben sich selbst auch so wahrgenommen. Man will das natürlich nicht zeigen. Man wünscht sich, souverän zu sein. Aber ich musste mich überwinden, den Körper überhaupt nur zu berühren. Da war ein Widerstand in mir, dem ich bis heute noch nachspüren kann Ich habe mehrere Versuche unternommen und hatte plötzlich große Angst, dass ich das überhaupt niemals könnte. Aber meine Freunde am Tisch waren sehr verständnisvoll. Sie haben mich nicht gedrängt und auch unser Tischassistent nicht. Er sagte, dass das ganz normal sei und dass ich mich beruhigen solle und ganz ruhig atmen. Ich hatte eine irgendwie verzerrte Wahrnehmung, alles war so laut um mich herum und ich bekam schlecht Luft. Ich bin dann erst einmal aus dem Saal geflüchtet. Eine Freundin hat mich begleitet und wir sind auf dem Flur hin- und hergelaufen. Und dann wollte sie zurück und ich folgte. Ich erinnere mich an den grünen Kittel unseres Assistenten. Er beugte sich gerade über den Körper des Toten und zog das Skalpell vom Kinn in Richtung des Nabels. Ich wunderte mich, dass man gar nichts hören konnte. Verstehen Sie, ich kann mir heute noch nicht erklären, warum ich ein Geräusch erwartet habe. Man konnte auch keine Spuren eines Schnittes erkennen. Dann ist etwas Merkwürdiges mit mir geschehen. Ich habe meine Position am Tisch wieder eingenommen, das heißt, ich habe mich wieder zu meiner Gruppe gestellt. Ich habe meine Handschuhe angezogen, mein Skalpell ausgepackt und meine Pinzette und dann habe ich angefangen zu arbeiten. Ich will das so sagen, ich habe den Körper auf dem Tisch zunächst mit dem Skalpell berührt und dann mit meinen Händen. Ich war sehr glücklich gewesen, dass ich mich überwinden konnte. Immer wieder ist aber das Gefühl einer gewissen Unwirklichkeit zurückgekehrt, der Eindruck an diesem Ort deplatziert zu sein, fremd oder so etwas. Sobald ich dann etwas getan habe, wenn ich gearbeitet habe, wenn ich also präpariert habe, ging das gut mit mir. Ich glaube, ich war eine von jenen, die stets tief über das Präparat gebeugt waren, ich bin sehr schnell in den Saal zum Tisch gelaufen, und wenn ich fertig war, habe ich den Saal so rasch wie möglich wieder verlassen.
PRÄPARIERSAAL : zeppelin
echo : 2.16 — Wallstreet gestern Abend auf Fernsehbildschirm. Hinter einem Reporter, der vom abwärts strebenden Verhalten der Kurse erzählte, warteten japanische Menschen. Sie winkten fröhlich in die Kamera, grüßten, fächelten sich Luft zu mit fleischfarbenen Zeitungspapieren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dachte ich, würde ich südwärts laufen zur nahegelegenen Hafenstation, würde mich auf das obere Deck eines der alten Fährschiffe begeben, würde bald im kühlenden Fahrtwind sitzen, eine Coke in der linken, eine Teigtasche mit Hummerfleisch in der rechten Hand, das Tonbandgerät in der Tasche und Mels Stimme im Kopfhörerohr, wie sie erzählt von anatomischer Zeit. — 2 Uhr und zwanzig Minuten. Regen. Blitze. Donner. Gerade eben hörte ich mich selbst, meine eigene Stimme. Ich formulierte vorsichtig eine Frage, wollte wissen, ob Mel sich im anatomischen Saal gefürchtet habe? Nein, antwortete Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekunde lang vor den Toten gefürchtet. > Ich hatte in diesen 6 Wochen keine Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich habe mich vor Testaten ein wenig gefürchtet, und ganz am Anfang vielleicht davor einmal rasch umzufallen. Nur deshalb hatte ich wirklich Angst, umzufallen, das heißt nicht arbeiten zu können, aber davon erzählte ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau überlege, dann kann ich mich nicht erinnern, dass im Präpariersaal überhaupt irgendjemand umgefallen ist. Vielleicht musste man mal aus dem Saal gehen und sich setzen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschlafen hatte und deshalb müde war und weil die Augen brannten vom Formaldehyd in der Luft. Aber umgefallen, ich meine, ohnmächtig geworden, davon habe ich nichts mitbekommen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch präparierte, hatte ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Saal nicht wirklich war. Ich konnte meine Eindrücke nicht mit der Straße, über die ich nach Hause spazierte oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Verbindung bringen. Ich hatte den Eindruck, dass der Saal, dass die ganze Situation irgendwie frei schwebte, also ganz für sich war, isoliert. Und so reiste ich also hin und her, von da nach dort und wieder zurück, aber das war nicht schwer gewesen, so hin und her zu springen. Ich habe von dem ein oder anderen meiner Freunde gehört, dass sie Albträume gehabt hätten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich war in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, vielleicht war es die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt waren. Ich hatte keine Zeit, lange über diese merkwürdige Situation nachzudenken. Ich meine, ich habe nicht lange darüber nachgedacht, dass ich, Mel, hier den Körper einer alten Frau so lange zerlege und betrachte, dass er fast verschwunden sein wird, wenn ich fertig sein werde. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leichter gemacht.
syrischer traum
tango : 6.15 — Ich hatte einen beunruhigenden Traum. In diesem Traum wurde mit Panzern auf protestierende Menschen geschossen. Projektile, groß wie Koffer, flogen durch die Luft. Wenn sie einen Menschen trafen, rotierten Körperteile gegen den Himmel. Überhaupt bewegte sich die Welt in diesem Traum sehr langsam, die Blätter der Bäume, Kinder, die unter Platanen Himmel und Hölle spielten, auch jene fliegenden Eisenkoffer und das Feuer, das aus den Geschützrohren der Panzer trat, alles zur Zeitlupe verzögert. Einmal saß ich auf einer Bank. Ich hielt den Kopf eines Jungen in Händen. Durch ein furchterregendes Loch in der linken Wange des Kindes spähte ich in das tobende Gesicht eines Offiziers. Das alles war mir, noch im Traum befindlich, sehr merkwürdig vorgekommen, weil die singende Stimme eines Kindes in nächster Nähe zu vernehmen gewesen war. — stop