echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitszimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – Ein junger Mann erzählte im Radio, er habe in der Stadt Mariupol eine Wohnung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Katze in der Nähe zwei alter Menschen, die auf einem Sofa hockten tot wie die Katze. — stop
Aus der Wörtersammlung: sehen
winterspur
foxtrott : 16.11 UTC — Ich spazierte einmal im Gebirge durch den Schnee. Es war ein eiskalter Wintertag, der Himmel von einem wundervollen Polarblau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Manteltasche nach Hause getragen hätte. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewesen, dumpfe Geräusche wie aus einem Traum heraus. Ja, die Vögel schliefen, nichts anderes war möglich, hockten unter Schneeschirmen, die sich über Tannen und Fichtennadeln spannten, und warteten auf den Frühling. Ein Pfad führte durch den Wald, eine Spur, die Tiere bei Nacht und Menschen bei Tag gemeinsam in den Schnee eingetragen haben mochten. Wenn ich ganz still stand, konnte ich leise mein Herz in der Brust schlagen hören. Ein seltenes Ereignis, das eigene Herzgeräusch von unten herauf, oder war das doch nur eine Vorstellung gewesen. Und ich dachte an Eichhörnchen, ich dachte, gut, dass ich kein Eichhörnchen bin in diesem Winter. Eine Stunde ging ich so den Pfad entlang, dann kehrte ich um. — Das Radio erzählt, ein Mädchen habe die Stadt Mariupol allein über verschneite Felder gehend zu Fuß verlassen. Überall, sagt das Mädchen, würden gefrorene Schaufensterpuppen herumgelegen haben. — stop
nächtliche strasse
alpha : 2.25 UTC — Einmal überquerte ein Eichhörnchen hüpfend die feuchte Straße vor dem Haus, in dem ich wohne. Genau dieses Eichhörnchen, eine Fantasie, hatte ich schon Jahre zuvor zwei oder drei Male gesehen, die Straße war je tief verschneit gewesen. In diesem erinnerten Augenblick hielt das kleine Tier mitten auf der Straße inne und sah sich um und unsere Blicke begegneten sich: Ja, etwas ist anders geworden! — Das Radio erzählt, ein Mädchen habe in der Stadt Mariupol auf dem Boden liegend beobachtet, wie ein Schrapnell den Körper einer Nachbarin durchdrang, als wäre die Nachbarin von Butter gewesen. — stop
in den wolken spazieren
echo : 11.28 UTC — Das war schon seltsam, wie die alte Dame zum ersten Mal in ihrem Leben vorsichtig hinter einem Leichtgewichtrollator spazierte. Sie trug Lederhandschuhe, vermutlich weil sie zur Maschine, die helfen soll, ihren Gang zu stabilisieren, einen gewissen stofflichen Abstand einzuhalten wünschte. Sie schien sich zu fürchten, ernst schaute sie gegen den Boden. Möglicherweise fürchtete sie, mit den Rädchen und Gestängen aus Carbon in ihrer nächsten Nähe verwachsen zu müssen. Gern würde sie weiterhin auf ihren eigenen Beinen allein, die sie schon so lange Zeit kannte, Schritt für Schritt Wege bestreiten, die ihr vertraut waren, das Laub der Buchen, der Kastanien auf der Straße, wie schön, ein Teppich, Schnecken da und dort, die sich herbstlich langsam fortbewegten scheinbar ohne Ziel. Es war feucht an jenem Morgen, Wolken berührten den Boden, auf den die alte Dame wenige Tage zuvor noch gestürzt war, einfach so, ohne einen Grund und ohne wieder aufstehen zu können, unerhört, so ein Schlamassel. Hundert Meter weit war sie nun schon gelaufen, da entdeckte sie eine Klingel an ihrem Gefährt, das so leicht war, dass sie es mit einer Hand anheben und für eine Weile in der Luft festhalten konnte. Ja, Kraft in den Armen, aber die Beine, waren unsicher geworden, vielleicht deshalb, weil sie hinter dieser Maschine herlaufen musste. Für einen Moment blieb die alte Dame stehen. Es wurde ganz still. Sie beugte sich zur Klingel herab, und schon war ein helles Geräusch zu hören, ein angenehmes Geräusch, zweifach war das Geräusch zu hören gewesen. — Das Fernsehen erzählt, in der Stadt Mariupol war kein Radio zu vernehmen, gewesen in der Zeit der Blockade, nur das Radio der Propaganda von Osten her, und das Radio der menschlichen Stimmen in den Kellern und auf den Straßen. — stop
dunkelkammer
india : 0.45 UTC — Einmal vor langer Zeit stehe ich vor einer Tür. Ich bin groß genug geworden, um die Klinke der Tür mit einer Hand zu erreichen. Ich versuche die Tür zu öffnen, da ruft Mutter, nicht Louis, Papi arbeitet. Aber das war seltsam, weil das Zimmer hinter der Tür das Badezimmer gewesen war, nicht das Arbeitszimmer, das gab es auch. Mutter sagte: Dein Vater entwickelt Bilder, es muss dunkel, stockdunkel sein im Zimmer, Du musst etwas warten, mein Schatz, Papi wird bald herauskommen. Ich erinnere mich, dass ich mich auf den Boden legte und unter der Tür zum Badezimmer hindurch spähte. Ich konnte Vaters Radio hören, und ich beobachte rotes Licht, das im Badezimmer leuchtete, sodass ich dachte, das Radio würde vielleicht rot leuchten. Es ist nicht dunkel, sagte ich, Mutter antworte, doch, doch, das ist Vaters Dunkelkammer. Vermutlich weil ich erlebte, was ich gerade erzählte, bewirkte, dass ich mit Radioapparaten noch Jahre später rotes Licht in Verbindung brachte. Dann, bald, wurden Radios grün, wegen ihres leuchtenden Auges. Es waren Röhrengeräte. — Vor der Küste des Staates Senegal, so erzählt das Fernsehen, sollen 68 Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken sein. — stop
ameisengespräch
tango : 15.18 UTC — Eine deutsch sprechende, hochbetagte russische Dame erzählte am Telefon, sie habe gehört, Ameisen, Millionen vergifteter Ameisen würden die ukrainische Grenze in Richtung der Russischen Föderation überquert haben im vergangenen Jahr bereits. Sie seien erschaffen worden, um ganz Russland zu zerstören, Menschen, Tiere, Pflanzen. Diese Ameisen seien ungewöhnlich groß und von blauer Farbe. Ich fragte zunächst, ob sie denn eine der Ameisen, von deren Existenz sie hörte, mit eigenen Augen gesehen habe. Nein, mein Gott, dann könnte ich Dir von dieser Gefahr doch nicht erzählen! Ob denn Fotografien oder Filmaufnahmen das Vorkommen jener gefährlichen Wesen dokumentieren würden, wollte ich wissen? Ja, aber natürlich, diese Fotografien müssen existieren, aber ja, natürlich! — Ihr helles Stimmchen. stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakes, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich, als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte, wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits hinter der Kasse verschwunden, sodass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, indem man Menschen neben Straßen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag seiner Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop
ansichten
echo : 15.07 UTC — Ein Schlachtschiff war am 14. April des Jahres 2022 im Schwarzen Meer gesunken. Man erzählte, dem Schiff wurde Gewalt zugefügt. Da ein identisches Schiff nicht ausreichend schnell hergestellt werden konnte, musste das Verschwinden des Schiffes nach etwas Bedenkzeit offiziell bestätigt werden. In dieser Zeit des Nachdenkens wurde ein Sturmtief erfunden, heftige Winde, die so lange Zeit mit dem Schiff verhandelt haben sollen, bis es ihren Anweisungen folgte. An demselben Tag wurde eine ukrainische Scharfschützin von hohem Ansehen erschossen. Ein toter Körper lag zum Beweis in einem Graben in der Landschaft. Millionen Augenpaare betrachteten das ungeschützte Gesicht der Frau. Ein solcher Tag im April, ein solcher Tag. — stop
am tiber
nordpol : 10.15 UTC — An einem späten Abend beobachtete ich von einer Brücke aus einen Mann, der am Ufer des Tiber kauerte. Der Mann fütterte größere und kleinere Tiere mit seiner linken Hand, in der rechten Hand hielt er eine Angel fest. Das war nicht sofort zu erkennen gewesen, weil sich im Fluss und auch in der Luft über dem Fluss nichts bewegte, nicht einmal das Wasser zeigte Strömung. Die Flussoberfläche schimmerte im Mondlicht wie ein See, und das Schilf des Ufers schien von Winden, nicht von wildem Wasser gebeugt. Da waren Schatten im Gras der kleinen Insel, hunderte vorwärts oder rückwärts springende Schemen. Noch nie zuvor habe ich so viele Ratten auf einen Blick gesehen. Wie Eisenspäne einer physikalischen Anordnung zur Untersuchung magnetischer Felder waren sie zu dem Mann hin ausgerichtet, wirbelten durcheinander, sobald der Mann Futterware unter die Tiere schleuderte. Dann wieder stilles Warten. Eine Bisamratte, scheuer Herrscher, enterte das Land. — Am folgenden Tag kehrte ich morgens zur Nachtbrücke zurück. Der Mann kauerte noch immer nah der kleinen Insel und angelte im Fluss. Möwen hatten sich genähert. Ratten waren nur wenige zu sehen, aber Tauben. Wenn der Mann einen Fisch erbeutete, warf er ihn seinen Freunden vor die Füße. An den steilen Wänden der künstlichen Tiberfassung da und dort blühende Büsche. Eidechsen züngelten gegen die Sonne. — Das Radio erzählte von einer Frau, die nachts um 3 Uhr im 5. Stock eines Hauses der Stadt Mariupol in ihrer Küche stand und kochte, als die Stadt von Truppen der russischen Streitkräfte überfallen wurde. — stop
kapriole
tango : 6.15 UTC — Einmal erwachte ich, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüßte kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: „Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl Einer, der an der Decke zu gehen vermag.“ — Das Radio erzählt, ein kleiner Junge in der Stadt Mariupol habe mit eigenen Augen gesehen, wie eine ihm bekannte alte Dame in einem Hinterhof von einem Schrapnell in den Bauch getroffen wurde. Er habe, erzählt der kleine Junge, seine Hände vor seine Augen gehalten, es war aber zu spät gewesen. — stop