nordpol : 2.15 UTC — Die ukrainische Schriftstellerin Nadiya Sukhorukova, die aus der bombardierten Stadt Mariupol im März des Jahres 2022 flüchten konnte, erzählt von einer berührenden Situation: Wie Menschen ihr Leben riskierten, um ein Lebenszeichen an die Welt und ihre Angehörigen und Freunde außerhalb der Stadt in der Ukraine zu senden. Sie schreibt auf der digitalen Position „Monologs of War“ Folgendes: Ein kleines Wunder geschah. Es gab eine Verbindung direkt am Eingang. Meine Kellernachbarn erzählten einander, dass Kyivstar bombardiert worden war, aber einer der Angestellten schaltete regelmäßig den Generator ein und versorgte ihn mit Strom, sodass man sich kurz unterhalten und die Nachrichten erfahren konnte. Auch wenn es unmöglich war, in Mariupol anzurufen, konnten wir doch Verwandte in anderen Städten informieren. Dank eines Fremden, der es Mariupol ermöglichte, den vom Unbekannten verrückt gewordenen Menschen jeden Tag ein Wort zu sagen: „am Leben“. Und ihre Schatten: A live. живим . i levende live . gyvas . en vie . vivo — 活著 . على قيد الحياة . elus . ζωντανός . hidup. War Monologs sind leider zurzeit oder für immer nicht erreichbar. Spuren sind in den Internetarchiven zu finden. — stop
Aus der Wörtersammlung: strom
murmansk
delta : 0.28 UTC — Regen fällt. Nach Mitternacht sind Sirenen zu hören im Zimmer 305 eines Hotels an der Rue de Javel im 15. Arrondissement der Stadt Paris. Eine Frau, sie vielleicht 60 Jahre alt, sitzt auf dem Sofa, Blick zum Fenster. Sie hört diesem gnädigen Regen zu und jenem Sirenenton, den ihr Telefon spielt, ein Ton, den sie so gut kennt. Sie schließt das Fenster, geht ein oder zwei Schritte vor dem Bett auf und ab. Der hölzerne Boden knarzt. Sie nimmt ihr Handtelefon vom Tisch, wählt und spricht sofort los: Hier ist Mama! Seid ihr schon im Flur? Sind alle da, habt ihr Strom? Wasser? Und die Katzen? — Die Frau spricht mit ruhiger, fester Stimme, als würde sie eine Liste verlesen. Auf jede der Fragen antwortet ihre Tochter mit ebenso ruhiger Stimme: Ja, alle sind da. Anna ist da. Artem ist da. Viktorija ist da. Alle sind im Flur, ja, die Türen sind geschlossen, ja, wir haben zwei Powerbanks, Wasser, Licht. Liebe Mutter, sagt die Tochter, wenn das Telefon ausfällt, reg Dich nicht auf, ich ruf Dich wieder an. — Am Nachmittag bereits waren strategische Bomber in der Ferne gestartet, tief im russischen Hinterland, von Murmansk aus, um die Menschen der Stadt Kyjiw zu bombardieren. In dieser Stunde, es regnet in Paris, sind ihre Geschosse angekommen, schrittweise in Wellen. Eine lange, sorgenvolle Nacht. Die Mutter, die in Paris auf ihrem Bett sitzt, wird ihr Telefon nicht aus der Hand legen. Vielleicht wird sie gegen den Morgen zu eingeschlafen sein von der Müdigkeit der Jahre. Es regnet, die Vögel werden nass. Noch immer ist kurz nach Mitternacht. — stop
nachtkäfer
lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop
nahe enerhodar
eiszimmer
nordpol : 18.32 UTC — Vor bald zehn Jahren habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plante im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. — Das Radio erzählte von Menschen, die sich in der Stadt Mariupol über Pfützen beugten, um Wasser von der Straße zu trinken. — stop
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen. — stop
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripjat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 in der 508. Etage bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete, sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück, mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Straße tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran, so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind außerdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachtrassen zur Zeit der Ausgangssperre: 150 €. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
luftschreiben
charlie : 6.55 UTC — Beim Nachbarn im Keller ruht auf einem kleinen runden Tisch, der von Wachsflecken bedenkt ist, eine mechanische Schreibmaschine. Immer wieder einmal denke ich an diese Schreibmaschine, wenn ich in den Keller absteige, um nach dem Stromzähler zu sehen. Gestern war sie noch immer dort in gelblichen Licht auf dem Tisch zu sehen, bedeckt von etwas feuchtem Staub und Mörtel, der von der Decke fällt, sobald die Erde bebt unter der Stadt. Ich dachte, ich sollte mir eine mechanische Schreibmaschine in die Wohnung holen, das Schreiben wiederholen wie früher noch ohne Möglichkeit einer Korrektur, auch mit der Kraft der Hände arbeiten. Da sind Geräusche der Kinderzeit, sofort kann ich sie aus dem Gedächtnis holen, wie ich mit jeder Taste einen Ton anschlage, manchmal so sanft, so vorsichtig, dass ich das Papier, das über einer Walze spannt, mit dem Druckzeichen nicht erreiche, dass ich, sagen wir, Zeichen in die Luft setze, weich. — stop