olimambo : 5.15 — Regelmäßiges, stundenlanges Geräusch des Regens vergangene Nacht. Auch dann noch, während ich Duke Ellington hörte für eine Stunde, weil ich den Regen sehen konnte im Licht der Straßenlaternen und die Spur der Geräusche weiterdachte. Man sollte einmal ein Nachtbuch notieren, das nur vom Regen handelt, ein Buch der Regenschirme, ein Buch triefender Menschen, ein Buch der Schlauchboote, ein Buch, mit dem in der Hand man übers Wasser laufen könnte. Wenn es gelungen sein wird, würde man vielleicht bisweilen den Blick von beleuchteten Zeilen heben und sich wundern, weswegen man in einem Zimmer lesend unter einem Regenschirm Platz genommen hat. – stop
Aus der Wörtersammlung: stunde
kairobildschirm
echo : 5.38 — Ich erinnere mich, dass ich im Schlaf zu mir sagte: Das will ich nicht weiter träumen. Unverzüglich wurde ich wach. – Schnee ist gefallen, ein weißes Tuch liegt auf den Bürgersteigen. Das Kairofenster flimmert seit bald vierzehn Stunden auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Kamelreiter prügeln auf Demonstrierende ein, Steine fliegen durch die Luft, Kühlschränke von Hausdächern, um Menschen zu töten. Mit der Dämmerung kommen Barrikaden, Ölfeuerflaschen, taumeln hin und her, brennende Autos, der hellgraue Rauch der Panzermotoren, die Stimmen der Kommentatoren, die Zahlen verletzter und getöteter Menschen melden. Auf dem Platz der Befreiung wird nach Steinen gegraben. Millimeter hohe Menschenfiguren schleifen liegende Millimeter hohe Menschenfiguren über den Boden. Reine Mordlust scheint ausgebrochen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minuten. Seit drei Stunden wird scharf geschossen. Niemand weiß, woher die Schüsse kommen. Eine junge Frau, 24, die sich auf dem Platz befindet, erzählt weinend von Menschen, die soeben getötet wurden. Wie das möglich sein könne, dass die Welt nicht eingreife, dass keine Hilfe komme. We will not leaving this place. Sie nennt ihren Namen. — stop
kurzwelle
olimambo : 2.02 — Mitteleuropa. stop. Kurz nach Mitternacht. stop. Nachrichten aus Kairo. stop. Frauen und Männer stehen um ein Transistorradio versammelt. Man lauscht Kurzwellenfunksignalen, die im Raum zur Ionosphäre hin pendelnd um den Globus wandern. Ein Mann mittleren Alters befindet sich unter den Radiohörern. Viel kann ich über diesen Mann nicht sagen. Ich weiß, dass er deutscher Staatsbürger ist, Moslem, in einer peripheren Gegend Kairos geboren. Sein Name ist Belem und seine Stimme hell. Mit dieser seltsam hellen Stimme äußerte Belem unlängst während einer unserer zufälligen Begegnungen, wie wichtig es sei, dass Menschen sich respektvoll verständigen. Belem war mit einer deutschen Frau verheiratet gewesen, ihre gemeinsame Geschichte endete, weil seine Frau ihm nicht dienen wollte. Aber das ist schon lange Zeit her, Belem lebt jetzt allein. Er hinkt, wenn er geht, kaum merklich, weshalb ich mich einmal erkundigte, ob er vielleicht Schmerzen habe. Wie dieser freundliche Mann zögerte, daran erinnere ich mich gut, und wie er dann sein Hemd nach oben zog, um die Narbe einer Schusswunde zu zeigen, eine helle Stelle in der dunklen Haut nahe seines Nabels, eine Wirbelspirale nach innen gerichtet, mit einem sehnigen Knoten in der Tiefe zum Abschluss. Belem war von einer Polizeikugel getroffen worden, seither ist das eine Bein etwas langsamer als das andere Bein. Und das ist schon alles, viel oder wenig, was ich von Belem zu erzählen weiß in dieser Stunde kurz nach Mitternacht, vor einem Radiowellengerät stehend. Der kleine Kasten kracht und pfeift und knarzt und scheppert. — stop
kairobildschirm
sierra : 7.12 — Acht Uhr, Freitagabend. stop. Am Schreibtisch. stop. Von Livebildern des Nachrichtensenders Al Jazeera her sind Gewehrschüsse zu hören. Seit Stunden bereits bewegen sich diese Bilder von der Größe einer Postkarte auf dem Schirm meiner Computermaschine. Jugendliche Menschen flüchten vor Wolken von Pfeffergas. Betende Männer knien vor einer Polizeikette, schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Helme. Gebäude glühen in der aufkommenden Dunkelheit. Ein Mannschaftswagen der Polizei schlingert brennend durch eine Menschenmenge, überrollt Personen, die sich in den Weg stellen. Schlägertrupps in ziviler Kleidung verprügeln Frauen, verprügeln Männer. Kolonnen gepanzerter Militärfahrzeuge rücken in das Zentrum Kairos vor, sie werden von jubelnden Bürgern der Stadt begrüßt. Man spricht davon, das National Museum werde von einem Schild menschlicher Körper geschützt. Gasgranaten segeln über einen Platz, schreiben Spuren hellgrauen Rauchs in die Luft. Auf den Straßen der Stadt Suez sollen fünf Menschen ihr Leben verloren haben. In Washington erklärt ein Sprecher der US-Regierung, die Situation sei fluid. In Kairo überreichen junge Menschen einer Reporterin den Körper einer Polizeitränengasgranate, auf dem sie den Schriftzug Made in USA entdeckten. stop. stop. Was ist das für eine Wirklichkeit, die mich in Bildern von Postkartengröße erreicht? Wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Was geschieht mit mir, was mit der Wirklichkeit der Bilder, sobald ich meinen Computerbildschirm ausschalte? — stop
stehschläfer
sierra : 2.24 — Stehschläfer, wie man vielleicht meinen möchte, sind keine Vögel, Flamingos, sagen wir, nein, Stehschläfer sind Menschen, Menschen nämlich, die sich genau so verhalten, wie das Wort, das sie bezeichnet, sie schlafen im Stehen. Das ganz Besondere, das Seltsame ist, dass diese Art der Stehschläfer in meinem Leben bisher nicht vorgekommen ist, noch vor einer halben Stunde hatte ich nicht die leiseste Ahnung ihrer Existenz, aber dann war da plötzlich dieses Wort Stehschläfer in meinem Kopf, in dem ich nach Mitternacht durch die Hallen des Flughafens wanderte, müde vom Lesen, müde auch vom Denken. Dieser Frieden, der hier zu finden ist, die Ruhe der Liegenden, der Sitzenden, bald werden sie davonfliegen nach Übersee vielleicht, oder nach Moskau, wo man sterben kann in den Spuren eines versteckten Krieges, der bisweilen Menschenleben zerstörende Funken nordwärts schleudert. Dort, in diesem Frieden einer Flughafenhalle bei Nacht, muss jemand im Stehen geschlafen haben. Ich habe ihn vielleicht aus den Augenwinkeln heraus wahrgenommen, eine nicht bewusste Sekundenbetrachtung, die genügte, das Wort Stehschläfer hervorzurufen. Oder ich habe das Wort Stehschläfer gedacht, und kurz darauf einen Mann gesehen, der niemals existierte. — stop
sekundenromane : nachts
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : SEKUNDENROMANE : NACHTS
Für Stunden versucht, zwei Buchstaben zur selben Zeit auf elektrischer Schreibmaschine zu notieren, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen auf dem Bildschirm sichtbar geworden, niemals liegen sie übereinander. — Guten Abend, Ihr Zwei! Wenn Euch diese Nachricht erreichen wird, habe ich drei oder vier Tage bereits weitergelebt, das hoffe ich jedenfalls, bin glücklich mit sehr wesentlichen Fragen beschäftigt, die meine Wahrnehmung der Zeit betreffen oder die Wahrnehmung einer menschlichen Stimme im Schlaf, genauer, die Stimme eines schlafenden Menschen, in dem sie hörbar wird in den Ohren eines wachenden Menschen für Sekunden, Wortgeräusche, welche sehr viel mehr als nur ein Wort in sich bergen, eine ganze Geschichte vielleicht in jedem dieser Laute, wie sie zärtlich aus nächster Nähe zu mir durch den dunklen Raum geflogen kommen, unvergesslich und doch nicht wiederholbar, das Zirpen schnellster Erzählung, Romane in Sekundenzeit, dann wieder Atemzüge, Meldungen des Lebens. >
Ich hatte eine seltsame Idee, liebe Daisy, liebe Violet, ich überlegte, in dem ich nachtwärts mit meiner Stirn an einem sanftwarmen, an einem träumenden Rücken lehnend lauschte, ob ich nicht einen dieser besonderen Laute aufzeichnen und an Euch übermitteln könnte, dorthin wo man vielleicht zu spielen vermag mit der Geschwindigkeit der Zeit, wie sie sich bewegt, so dass Ihr mir bald einmal erzählen könntet, wovon gesprochen wurde in dieser einen oder anderen Sekunde, an die sich die Schlafende, nachdem sie erwachte, nicht erinnern konnte. Und so habe ich eine kleine Sammlung der Wortgeräuschromane für Euch aufgezeichnet. Ich bitte Euch herzlich, sie langsamer, sie lesbar zu machen für mich. Anbei, wie versprochen, eine Minute gefilmter Zeit vom Laufen über den East River von Brooklyn aus nach Manhattan. Euer Louis, cucurrucu, wünscht eine gute Nacht!
gesendet am
14.01.2011
22.08 MEZ
1785 zeichen
sekundenjahre
sierra : 6.55 — Verlorene Namen aus heiterem Himmel. Stunden beunruhigender Nachrichtentelefone. Weiche, kühle Pulse, als sei Schnee auf Seele gefallen. — stop
hydra
nordpol : 17.58 — Hörte im Radio vor wenigen Minuten eine merkwürdige Geschichte. Man erzählte, durch New Jersey sollen seit Wochen Vorortzüge mit Abteilen von Stille in Richtung Manhattan fahren: Telefone und Spieldosen jeder Art verboten. Das könnte Gerücht, Erfindung, von Wünschen geträumt gewesen sein. Mit eigenen Augen dagegen habe ich beobachtet, wie im Supermarkt gleich um die Ecke, Zwergkakteen Mützen von rotem Stoff aufgesetzt worden sind. Bärte rauschen, weiße Bärte, mittels Nadeln sind sie an den Leib der Pflanzen genagelt. Auch dass es regnet, hier in meiner nächsten Nähe, das ist ganz sicher der Fall, so sicher der Fall wie das Wachstum einer weiteren elektrischen Hydra im Prozess der Selbstbehauptung. Gestern Abend, mitteleuropäische Zeit, verfügte sie über 208, kurz nach Mitternacht über 355 und weitere 12 Stunden später über 507 einander gleichende Köpfe. — Da war noch dieser alte Mann auf einem Basar zu Marrakesch. Wie er vor einer 40 Jahre alten Schreibmaschine sitzt und Liebesbriefe notiert gegen eine kleine Gebühr für Menschen, die nie gelernt haben, zu schreiben, zu lesen. — stop
panther
lima : 1.42 – Etwas Merkwürdiges muss geschehen sein, während ich schlief. Als ich erwachte, konnte ich nicht sagen, ob ich eine Frau bin oder ein Mann. Ich öffnete die Augen und bemerkte einen Panther, der vor meinem Bett auf und ab spazierte. Das war ein merkwürdiger Panther gewesen, der vor meinem Bett spazierte. Der Panther war schwarz wie alle Panther, wenn sie wirkliche Panther sind. Dieser wirkliche Panther nun aber trug Menschenhaut und hatte grüne, anstatt gelbe Augen. Wenn ich mich bewegte, fauchte der Panther und machte einen Satz auf mich zu, sodass ich mich entschloss abzuwarten, vielleicht weil ich hoffte, er würde bald schlafen oder ganz aus meinen Zimmern verschwinden. — Es ist jetzt wieder Nacht geworden. Noch immer habe ich mein Bett nicht verlassen. Der Panther ruht vor mir auf dem Boden. Weiterhin genieße ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Nicholas Bakers Buch der Streichhölzer, das ich in der Nähe auf dem Boden gefunden hatte und gerade noch unter meiner Decke verstecken konnte, ist kreuz und quer zu Ende gelesen. Ich spüre ein leises Hungergefühl in mir aufsteigen, der quälende Durst der Wüstenwanderer klebt schon seit Stunden an meinem Gaumen. Sollte, sobald in fünf Stunden die Dämmerung einsetzen wird, zum Angriff übergehen. Ich muss, kein Ausweg, die Küche, das heißt, die nächste Wasserstelle erreichen. Vielleicht sind diese Zeilen, die ich in wenigen Minuten über mein Funknetz absetzen werde, die letzten Zeilen, die ich als lebender Mensch notierte. — stop
white
alpha : 0.10 — Das sehr Besondere an Salzkäfern ist, dass sie weiß sind, nicht nur von Außen her betrachtet, sondern auch dann, wenn man sie öffnet, wenn man ihre Augen, ihr Gehirn, ihr Herz im Innern beobachtet, alles weiß im Käfer, Faser für Faser. Seit Tagen bereits, da ich ihre Gattung entdeckte, denke ich darüber nach, wie sie das machen, das Weißsein, ob das überhaupt möglich ist und woher sie kommen und wovon sie sich ernähren. Stunde um Stunde, das ist gesichert, Tag und Nacht, salzen sie genau ein Korn in die Welt, aber nur dann, wenn ich bewundernd mit ihnen spreche, wenn ich sie mit meinen Gedanken berühre. — Samstag schon wieder. Sechs Uhr siebzehn in Port-au-Prince, Haiti. — stop