nordpol : 0.02 — Tiefseeelefanten wirklich zu begegnen, heißt, gegen den Grund zu reisen, dorthin, wo Herz und Gehirn, Ohren und Augen auf kräftigen Beinen über den Meeresboden wandern. Vielleicht ist man gerade in einem Boot auf dem Weg, ein paar Fische zu fangen. Man vernimmt ein Schnauben zunächst, eine Begrüßung, eine Frage, aber schon mit dem folgenden Gedanken, wird man sich, von einem Rüssel zärtlich in die Wiege genommen, im Wasser wieder finden. Dann geht’s abwärts. Eine Fahrt in die Tiefe, wie keine andere je zuvor. Einhundert Meter Blau, jetzt schließen sich die Augen. Man träumt von Rüsselwäldern, von Schwärmen glimmender Fische, von der Kühle, vom Eis, von feurigen Augen, für die man keine Worte finden kann, so seltsam ihr Ausdruck, so geduldig, so weise, und so sonderbar die Geräusche der eigenen Knochen, ein Malmen, in dem man kleiner wird und kleiner. — Woher ich das alles weiß? Nun, ich bin in der vergangenen Nacht gegen Zwei, Benny Goodman im Ohr, ins Wasser gefallen. — Ein Knistern, noch heute. — stop
Aus der Wörtersammlung: tiefe
elefanti
sierra : 0.01 — In der vorletzten Nacht, zwei Uhr wars geworden, hab ich in einem Bahnhof unter dem Frankfurter Flughafen Vögel entdeckt. Das Neonlicht flackerte und die Vögel, Tunnelvögel, zwitscherten. Kurz zuvor hatte ich noch in einem Café gesessen und einer Frau zugehört, die mir von Kalabrien erzählte, vom Haus ihrer Eltern, einem uralten Gebäude, dessen Steine seit zweihundert Jahren roten Sand der Sahara weinen. Das war ein schönes Bild gewesen, und so berichtete ich ihr von meinen Gedanken, die seit Tagen um das Wesen der Tiefseeelefanten kreisen. Sie wollte alles ganz genau wissen, lachte immerzu, und drehte ein rotes Eisschirmchen in ihren Händen, dass mir ganz schwindelig wurde. Nach einer Weile unterbrach sie mich und kam näher und behauptete ernstlich, dass sie als Mädchen beim Tauchen diesen Wesen, Elefanti, genau so begegnet sei, wie ich sie in Worten gezeichnet hatte, das heißt, jenen Rüsseln, die aus der dunklen Tiefe ragten. Sie sind warm, sagte sie, und weich, und wenn Du Dein Ohr an einen dieser Rüssel legen würdest, könntest Du was hören, sag ich Dir. Aber über die Mafia wollte sie nicht sprechen. Wir haben so schöne Landschaften dort, und Dörfer, und das Meer, ja, das Meer. Dann war sie todmüde zur Arbeit zurückgegangen und ich wartete auf einen Zug und hörte den Tunnelvögeln zu und dachte, wie sonderbar das alles doch ist, ein Wunder, das ganze Leben Tag und Nacht.
loop
sierra : 0.08 — Geschichten, die sich gut begründet wiederholen, vertraut gewordene Geschichten. Diese hier, zum Beispiel, im Februar 2008 aus der Luft gefischt: Da war mir doch in den Zeiten der Vogelgrippe, bei kleineren Turbulenzen, im Gang eines Flugzeuges eine uralte Lady entgegengekommen, deren Gesichtszüge mich sofort an Coco Chanel erinnerten. Von zierlicher Gestalt trug sie einen dunklen Mantel, leichte, flache Schuhe und machte Schritte wie ein Matrose auf hoher See. Vor allem ihr schlohweißes Haar und ihr äußerst willensstarker Blick sind nah geblieben, auch ihr hellrot geschminkter Mund, der mindestens achtzig Jahre alt gewesen sein musste, und doch beinahe wirkte wie der Mund einer jungen Frau. Eines Abends, während ich einer Nachrichtensendung folgte, erinnerte ich mich an diese seltsame Frau, und ich stellte mir vor, wie sie aus der dritten Etage eines Mietshauses in den Keller steigt, um ein Rollwägelchen zu suchen, das sie dort für immer abgestellt hatte, nachdem sie beim Einkaufen um ein Haar gestürzt war. Es ist also früher Morgen, es ist Winter und noch dunkel, als die alte Dame das Haus verlässt. Ich sehe sie mit vorsichtigen Schritten in ihrem Mantel und Pelzstiefelchen über die Straße gehen. An der ersten Ampel biegt sie nach links ab, überquert einen Platz, folgt einer weiteren schmalen Straße, jetzt ist sie vor einem Supermarkt angekommen. Sie stellt ihr Rollwägelchen in der Nähe der Kasse ab, geht in die Getränkeabteilung und nimmt eine Flasche Wasser aus dem Regal. Sie trägt die Flasche zu ihrem Wägelchen, kehrt zurück, nimmt sich die nächste Wasserflasche aus dem Regal und so geht das fort, bis das Wägelchen gut gefüllt ist und ein wenig pfeift, wie es auf dem Heimweg über die Straße gezogen wird. — Jetzt ist die alte Frau vor der Tür ihres Hauses angekommen. — Jetzt stellt sie das Wägelchen neben die Treppe, die zur Haustüre führt. — Jetzt ist sie mit einer der Flaschen im Haus verschwunden. — Zehn Minuten vergehen. Dann erscheint sie wieder auf der Straße. Sie hat ihren Mantel ausgezogen, trägt eine graue Jacke und Sportschuhe. Kurz, für zwei oder drei Sekunden, hält sie sich am Geländer der Treppe fest. — stop
appalachian trial
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : NACHTBÄREN
Lieber Mr. Kekkola, haben Sie sich also auf den Weg gemacht! Wie sehr ich mich für Sie freue! Den Appalachian-Trail einmal anstatt von Süden kommend, von Norden her zu bewandern: feine Idee. Ich bin begeistert! Aber Sie sind spät, sehr spät sind Sie, viele Tage werden Sie unter Regenwolken wandern. Ich hoffe, man hat Sie gut vorbereitet, hoffe, dass Sie über ein wasserfestes Telefon und eine gleichwohl wasserfeste Schreibmaschine verfügen. Ihre erste Nachricht ist heute Morgen jedenfalls bei mir eingetroffen. Eine E‑Mail, der nicht anzusehen ist, dass sie in der Wildnis geschrieben wurde. Wir leben doch in seltsamen Zeiten. Ich habe mir sofort eine kleine Karte ihrer Route besorgt. Was machen die Bären? Und die Bienen? Und die Ameisen? Natürlich werde ich unverzüglich an Sie schreiben, sobald ich einen ersten tieferen Eindruck vom Rüsselprinzip der Tiefseeelefanten gewonnen habe. Ich denke Tag und Nacht über das Atmen in großer Tiefe nach. Ganz vorsichtig teile ich Ihnen mit, dass ich vielleicht bereits eine Ahnung habe. Bis bald, mein lieber Kekkola. Passen Sie gut auf sich auf! – Ihr Louis
gesendet am
27.07.2009
18.58 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
sandaugen blau
sierra : 10.15 — Ein Spaziergang durch den Präpariersaal bei sommerlichen Temperaturen. Wollte Augen betrachten, fixierte Augen, und so ging ich von Tisch zu Tisch und suchte nach sandigen, bläulich schimmernden Bällen. Mein scheuer, mein ruhiger, mein fast kühler Blick. In der vergangenen Nacht aber, weiß der Himmel, warum, ein starker Eindruck von Unheimlichkeit, indem ich Ansichten weckte und buchstabierte gegen 2. Ich stand vor dem Schreibtisch auf, öffnete die Fenster, ließ wartende Fliegen und Falter herein, hörte Charlie Parker bis in die Morgendämmerung und dachte weiter nach über das Rüsselprinzip der Tiefseeelefanten. Die Frage stellt sich seit Tagen dringend, wie sie Luft von der Meeresoberfläche zu sich in die Tiefe holen. — Können Tiefseeelefanten sehen? — stop
zoé valdés
lima : 0.03 — Die sanfte, singende Stimme Zoé Valdés. Wie sie erzählt, sie habe in Havanna mit Freunden nachts Romane kopiert, um sicher sein zu können, kostbare, verbotene Texte niemals zu verlieren. Besondere Bücher, stelle ich mir vor, die zu jeder Zeit nur dann in ihre Tiefen lesbar, also hörbar, also denkbar sind, indem sie von Hand auf weitere Papiere übertragen werden. Abends über den Tischen des Hofgartens das feine Orkanlicht der Propellerkäfer. — stop
elephantisland
~ : rob salter
to : louis
subject : ELEPHANTISLAND
date : june 2 09 8.58 p.m.
Kurz nach acht Uhr. Kalte, trockene Luft, ich notiere mit klammen Händen. Um 7 Uhr heute Morgen haben wir bei stürmischer See Elephantisland erreicht. Suche nach Miller unverzüglich aufgenommen. Südwestliche Bewegung die Küste entlang. Gegen 9 Uhr erste größere Seeelefantengruppen gesichtet. Heftiger Schneefall. Mittags dann auf menschliche Spuren gestoßen. Eine Mulde von zwei Fuß Tiefe im groben Untergrund, hüfthoher Steinwall nordwärts. Im Windschatten: drei gebleichte Walknochen, ein halbes Duzend fingerdicker Hautstücke, ein Kamm, zwei rostige Kugelschreiber, eine Blechtasse, zwölf Pinguinschnäbel, fünf Batterien, drei Klumpen ranzigen Fettes, Bruchstücke eines Sonnenkollektors und einer Schreibmaschine. Das Werkzeug war in einer Weise sorgfältig demoliert, als sei eine Dampfwalze darüber hin und her gefahren. Dann weitere zehn Minuten die Küste entlang, dann auf Miller gestoßen. Der Dichter stand mit dem Rücken zu einem Felsen hin und richtete ein Messer gegen einen Seeelefanten. Das Tier, das sehr gewaltig vor unserem Mann in den Himmel ragte, war nur noch zwei Armeslängen entfernt und scheuerte mit dem Rücken über den Felsen. Eigenartige Geräusche. Geräusche wohl der Lust. Geräusche, als habe das Tier eine verbeulte Trompete verschluckt. Geräusche auch von Miller. Helle Geräusche, kreischende, irre Töne. Wir haben zu diesem Zeitpunkt das Folgende über Miller zu sagen: Unser Mann ist entkräftet und stark verschmutzt. Zwei Finger der linken Hand sind erfroren. Kopfwärts wandernde Spuren von Dehydration. Miller spricht nur einen Satz: All for nothing. Wir haben den Rückweg angetreten, indessen, bei genauerer Betrachtung unserer Umgebung, auf Felsformationen entlang der Küste Fragmente von Zeichenketten entdeckt. Eindeutig Millers Handschrift. Bringen Dichter Miller jetzt nach Hause.
eingefangen
22.57 UTC
1817 Zeichen
transistoren
himalaya : 0.02 — Wie würde Hannah Arendt über das Wagnis der Öffentlichkeit formulieren in unserer Zeit, in einer Zeit, da Menschen ohne jede Scheu und in gut begründeter Voraussicht, zutiefst verletzt zu werden, mit Worten, Bildern, Filmen öffentlich in intimste Winkel ihrer Seelen leuchten? Einmal, als Computer noch mittels Transistorröhren rechneten, bemerkt sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme, das Wagnis der Öffentlichkeit sei für eine Person nur möglich im Vertrauen auf die Menschlichkeit der Menschen selbst. — stop
abendsegler
romeo : 2.15 — Eines Tages im Zwielicht in großer Höhe über einer blühenden Gartenstadt auf einem Fensterbrett sitzen und mit einer Angel Fledermäuse fischen. — Sind Abendsegler genießbar? — Die kräftigen Muskeln ihrer Brust vielleicht? — Oder ihre Flügel? — Während ich vorhin so saß und überlegte, welche Haltung ich einnehmen sollte, um noch stiller zu werden, um noch tiefer in die Dinge hinein hören zu können, die Einsicht, dass ich niemals einen anderen Menschen tatsächlich erfinden werde, als mich selbst. — Womit könnte ich beginnen? — Vielleicht mit meinen Händen? — Die Sterne sind rund. — Zarte Finger von Licht. — stop. – Kurz nach 2 Uhr. — stop. – Ich beobachtete meine Hände, wie sie eine Melone schälten. Indem ich eine Melone mit dem Vorsatz öffnete, meine Hände zu beobachten, wurden meine Hände unsicher. Der Eindruck, als wäre diese Melone die erste Melone, die ich je geöffnet habe. — Erstaunlich. — stop
siatista
ulysses : 15.02 — Nördliches Griechenland. Karge Landschaft. Man erzählte mir von Siatista, dort sollen Wölfe leben in den Bergen, aus welchen die Steine der Häuser der kleinen Stadt geschlagen sind. Im Winter fällt Schnee und bleibt liegen. Dann kommen die Wölfe näher heran, sind zu hören in den Nächten, ihr heulendes Gespräch. Alt sind sie, uralt wie die Menschen in dieser Gegend, die sich widersetzen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist, leben sie einfach weiter. Sobald ein Winter endet und die Berge blühen für eine kurze Zeit in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann, liegt eine junge Frau auf einer Wiese herum. Diese Wiese ist weiß von den Körben der Kamille, eine Wiese, die die Gestalt der jungen Frau erinnert, wie sie auf dem Rücken liegt, immer an derselben Stelle in den Himmel schaut und glaubt über ein Eismeer zu fliegen. Wenn man sie besuchen, wenn man sich neben sie legen würde, könnte man Geschichten hören, die sie mit tiefer Stimme sogleich erzählen wird. Dass sie blau war zum Beispiel, ein blau häutiges Kind, dass sie nicht atmen konnte in der ersten Stunde ihres Lebens, dass man sie mit Luft, anstatt mit Wasser taufte, weil man glaubte, sie werde ihre zweite Lebensstunde nicht betreten. Dass sie sich im Alter von vier Jahren im Schnee verirrte, dass zwei Wölfinnen sie wärmten für eine Nacht, bis man sie fand. Dass sie eine Partisanentochter sei, dass sie mit den Schildkröten sprechen könne und den Schlangen, den Faltern, den Fliegen. Dann wird sie ein wenig schweigen und eine Handvoll Akazienblüten reichen, sie schmeckten vorzüglich, man müsse sie sich auf die Zunge legen und warten, bis sie schmelzen. Jetzt liegt die junge Frau wieder auf dem Rücken zum Eismeer hin, erzählt weiter, erzählt von den langen Wegen im Winter zur Schule und dass sie ein Jahr zurück das erste Mal das Meer gesehen habe. Ein großer Frieden. Ihre Stimme, die so seltsam tief ist. Das Brummen dreihundert Jahre alter Insekten. Auch Wölfe fressen weiße Blüten. — stop