Aus der Wörtersammlung: uhr

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kokons

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bamako : 0.08 — Ein­mal saß ich in einem Hos­pi­tal am Bett eines kran­ken Kin­des. Ich las die­sem klei­nen, blas­sen Wesen aus einem Buch vor, und wäh­rend ich mit ruhi­ger Stim­me las, oder vor­gab zu lesen, spür­te ich, wie ich von unge­wöhn­lich hel­len Augen betrach­tet wur­de. Viel­leicht weil das Kind um die Gefahr wuss­te, die ihm droh­te, hat­te das Kind der­art hel­le Augen. Und so flo­gen wir gemein­sam durch eine Geschich­te hel­ler Augen, durch eine Geschich­te, die von einem Mann erzähl­te, der auf dem Atlan­tik von wei­ßen Walen in einer See­not­ret­tungs­in­sel durch das Was­ser gezo­gen wur­de. Man könn­te sagen, die Wale sorg­ten sich um das Leben die­ses Man­nes, sie fin­gen ihm Fische und sie zogen ihn aus einer ein­sa­men Gegend des Mee­res an einen Ort, den Schiff­fahrts­li­ni­en kreuz­ten. Was das Kind viel­leicht nicht ein­mal ahn­te, das Buch, das auf mei­nen Knien ruh­te, erzähl­te tat­säch­lich davon, wie man Java­code pro­gram­miert. Und doch war dort im Buch eine Geschich­te, weil ich immer wie­der ein­mal umblät­ter­te, wäh­rend ich für das Kind Satz für Satz aus der Luft erfand. Von Zeit zu Zeit, ich erin­ne­re mich noch genau, lach­te das Kind, sodass ich heu­te sagen kann, dass es sich bei die­sem Buch um ein gelun­ge­nes Nacht­buch mit Licht gehan­delt haben muss­te. – Kurz nach Mit­ter­nacht. Habe einen Buch­sta­ben­kno­ten in mei­nem Kopf. — stop

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wasser

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echo : 2.15 — Seit Stun­den die Fens­ter weit geöff­net, und obwohl ich einen Pull­over tra­gen muss, um nicht zu frie­ren, hal­te ich die Nacht da drau­ßen für eine Som­mer­nacht. Es ist jetzt zwei Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Soeben habe ich Joseph Brod­skys fein­sin­ni­ges Vene­dig Buch Ufer der Ver­lo­re­nen auf den Tisch gelegt, um eine Pas­sa­ge dar­aus abzu­schrei­ben. Als ich die Tas­ta­tur in eine güns­ti­ge Posi­ti­on rück­te, sehe ich gera­de noch, wie mei­ne Spring­spin­ne zwi­schen zwei Tas­ten ver­schwin­det, wes­halb ich zunächst nicht wag­te, auch nur ein Zei­chen ein­zu­ge­ben, um sie nicht viel­leicht zu ver­let­zen oder gar zu töten. Habe das klei­ne wei­ße Kla­vier dann über dem Schreib­tisch her­um­ge­dreht und etwas geschüt­telt und wenn ich mich nicht täu­sche, ist mein Freund unter die­ser uner­war­te­ten Bewe­gung her­aus­ge­fal­len. Natür­lich bin ich mir nicht ganz sicher, die Spin­ne ist sehr schnell, und des­halb schrei­be ich die­se und die fol­gen­den Zei­len sehr behut­sam, in einer Wei­se, sagen wir, die Joseph Brod­skys genau­er Beob­ach­tung und sei­nem prä­zi­sen Aus­druck ange­mes­sen ist. Über den Geruch schreibt er das Fol­gen­de: Ein Geruch ist schließ­lich auch eine Ver­let­zung des Sau­er­stoff­gleich­ge­wichts, ein Ein­bruch ande­rer Ele­men­te – Methan? Koh­len­stoff? Schwe­fel? Stick­stoff? Je nach Inten­si­tät die­ser Bei­mi­schung erhältst Du einen Duft, einen Geruch, einen Gestank. Es ist eine Fra­ge von Mole­kü­len, und Glück, so neh­me ich an, ist der Augen­blick, wenn Du die Ele­men­te Dei­ner eige­nen Zusam­men­set­zung im frei­en Raum gewahrst. Davon gab es eine beträcht­li­che Anzahl da drau­ßen, im Zustand tota­ler Frei­heit, und ich spür­te, dass ich in der kal­ten Luft in mein eige­nes Selbst­por­trait hinaustrat.

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hibiscilli

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marim­ba : 3.02 — An einem stür­mi­schen Abend den wun­der­ba­ren Film Augen­lied beob­ach­tet. Ein Mann, der blind gewor­den ist, sitzt in einem bei­na­he dunk­len Zim­mer. Das spär­li­che Licht, ein Licht nur für uns. Das Zim­mer war das dun­kels­te Zim­mer mit Licht, das ich je gese­hen habe. Etwas spä­ter erzählt ein wei­te­rer Mann, sei­ne Frau habe zu ihm gesagt, das Schlimms­te sei, dass sie, nach­dem er blind gewor­den war, unsicht­bar gewor­den sei für alle Zeit. — 3 Uhr und eine Minu­te. — stop

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flugstunde

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lima : 3.02 – Ges­tern, Sonn­tag, um 10 Uhr und 42 Minu­ten MESZ, bin ich zu einem Vogel­we­sen gewor­den, weil mir eine Nord­län­de­rin schrieb, ich sei genau das, ein Vogel, ein Nacht­vo­gel, prä­zi­se. — Wie nun sind die Bedin­gun­gen, zunächst in mei­nen Zim­mern her­um oder auf der Stra­ße vor dem Haus auf- und abflie­gen zu kön­nen? — stop

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lebenszeichen

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alpha : 5.56 – Ich habe heu­te Nacht eine Ton­band­ma­schi­ne, einen Notiz­block, Blei­stif­te, einen Radier­gum­mi und einen gezeich­ne­ten Grund­riss jenes Ortes, von dem ich erzäh­le, auf den Tisch vor mir abge­legt, auch einen höl­zer­nen Kas­ten, in dem ich Kar­tei­kar­ten ver­wah­re, die ich im Prä­pa­rier­saal rasch beschrie­ben habe, Sekun­den­wa­re, ein Ver­zeich­nis der Geräu­sche, der Bewe­gun­gen, der Fra­gen, Atmo­sphä­ren, Gedan­ken, die ich mit unru­hi­gen Hän­den in mei­ne geöff­ne­te Hand­flä­che notier­te. Ich mei­ne, einen fei­nen Geruch von For­ma­lin zu ver­neh­men, der noch immer von den Kärt­chen auf­zu­stei­gen scheint. Jetzt schrei­be ich das Wort Meer und sofort danach das Wort Atlan­tik. Eine jun­ge Frau sitzt vor die­sem atlan­ti­schen Meer an Deck eines sehr gro­ßen Schif­fes. Sie unter­hält sich mit einem Matro­sen, der ihr eine Zei­tung brach­te. Wenn ich sie so heim­lich beob­ach­te, mei­ne ich zu erken­nen, dass sie ver­liebt ist. Sie errö­tet, wenn der jun­ge Mann zu ihr spricht, schlägt die Augen nie­der, dann wirft sie Brot in die Luft zu den Möwen hin. — 5 Uhr 18. Seit Mon­tag 25.8. wie­der Funk­zei­chen aus Peking > Zeng Jin­yan ( chi­ne­se : eng­lish by babelfish )

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schuhwerk

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echo : 5.22 — Ein­mal war­te­te ich im Regen ste­hend auf eine Stra­ßen­bahn. Das war ein sehr ange­neh­mer, war­mer, nach Stei­nen duf­ten­der Regen, eine Art Regen, bei der ich an das Wort Mon­sun den­ke, wenn ich sei­ne Geräu­sche höre. Ich stand also im Regen und dach­te an das Wort Mon­sun, als genau um 22 Uhr und 18 Minu­ten die Stra­ßen­bahn, die ich erwar­te­te, vor mir hielt. Die Türen öff­ne­ten sich und ein Herr stieg aus der Stra­ßen­bahn, der eine Zigar­re rauch­te. Er trug einen grau­en Anzug, ein wei­ßes Hemd, eine hell­grü­ne Kra­wat­te, kei­ne Schu­he, aber Strümp­fe. Für einen kur­zen Moment, ich hat­te einen Fuß bereits in den Wag­gon der Stra­ßen­bahn gestellt, stand der Mann direkt neben mir. Ich sag­te: Sie haben kei­ne Schu­he an, mein Herr. So, erwi­der­te der Mann, blick­te dann erstaunt an sich her­ab, sah mir in die Augen und frag­te mit einer sehr hel­len Stim­me: War­um? — stop

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langustenfliege

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india : 6.20 — Früh­mor­gens im Pal­men­gar­ten spa­ziert. Ich ging ein­hun­dert Schrit­te nord­wärts, dann zwei­hun­dert Schrit­te süd­wärts, lag bald in einer Wie­se her­um und dach­te, hier schla­fe ich zwei Tage, hier genau an die­ser Stel­le schla­fe ich zwei Tage unterm Zirp­gril­len­schirm. Wenn man so in einer Wie­se liegt, kommt man aus dem Stau­nen nicht her­aus, man kann nicht schla­fen, weil man Natur beob­ach­ten und sich wun­dern muss, wie das alles mög­lich gewor­den ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreif­ten Blu­me ein Lie­bes­paar beob­ach­tet, ein merk­wür­di­ges Gebil­de, ein oder zwei Mil­li­me­ter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr beson­de­re Vari­an­te war das gewe­sen, zwei Hai­fi­sche [Kopf], zwei Lan­gus­ten [Schwanz] und zwei Flie­gen [Flü­gel und Bei­ne], deli­kat inein­an­der gesetzt, volu­mi­nö­se Augen­paa­re auf beweg­li­che Stäb­chen mon­tiert, die sich im Spiel zärt­lich betas­te­ten, als ob sich vier sehen­de Mund­wer­ke küss­ten. Das alles war sehr schön, auch in der Far­be gestal­tet, je ein leuch­tend gel­ber Kopf, zwei feu­er­ro­te Brüs­te und Hin­ter­tei­le von einem Umbr­ab­lau, wie ich es so präch­tig noch nie zuvor gese­hen habe. Genau dort hat­te hef­ti­ges Pum­pen ein­ge­setzt, wäh­rend das Flü­gel­werk schil­ler­te im feins­ten Pris­men­licht. Selt­sam, auch bei die­sen sehr klei­nen, wil­den Wesen war nichts zu hören, nicht das min­des­te Geräusch, da war Bewe­gung, nur Bewe­gung. Und ich dach­te noch, sehr ele­gant, wie das dort an einem frü­hen Frei­tag­mor­gen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Rie­sen stö­ren zu las­sen. Es ist jetzt 5 Uhr und drei­ßig Minu­ten. Es sind Spin­nen, die mor­gens das Nacht­was­ser von den Wie­sen sau­fen. — stop

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lucie

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sier­ra : 6.02 — Das sind lus­ti­ge Tage, Tage wie die­ser hier nach durch­ar­bei­te­ter Nacht. Noch immer, drin­nen wie drau­ßen, sehr war­me und feuch­te Hit­ze. In der Däm­me­rung schloss ich die Fens­ter. Auf das Bett waren leich­te Tücher gelegt, das luf­tigs­te Mate­ri­al, das zu fin­den gewe­sen ist, die Fens­ter ver­dun­kelt, alles bereit, den begin­nen­den Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde mach­t. Ich dach­te, dass ich nichts den­ken soll­te, schau­te nach Lich­tern, die unter den Lidern in Schlaf­au­gen wan­dern. Fast war ich weg­ge­kom­men, als eine Flie­ge auf mei­ner Schul­ter lan­de­te und sofort mit dem Munds­tem­pel nach Salz und ande­ren Din­gen zu for­schen begann. Ich sag­te, bit­te, bit­te nicht, Lucie, heu­te bit­te nicht, ich muss schla­fen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hör­te, wie sie eine lang­sa­me, trau­rig sum­men­de Run­de links­her­um durch mein Zim­mer flog. Dann schlief ich ein und träum­te zwei blaue Schne­cken. Sie waren von küh­ler Tem­pe­ra­tur und hat­ten sich wie Polar­füch­se in einer Schnee­höh­le, in mei­ne Augen­höh­len gelegt. Als ich wach wur­de, als ich zunächst wach gewor­den war, wie immer mit geschlos­se­nen Augen, hör­te ich Gewit­ter­don­ner, dann ent­deck­te ich Lucie in nächs­ter Nähe. Sie hat­te sich, wäh­rend ich träum­te, vor­sich­tig auf den Rücken mei­ner lin­ken Hand gesetzt und ihre Bei­ne ange­zo­gen, sodass sie nicht saß, viel­mehr auf mir lag. Ja, ist es denn Flie­gentieren mög­lich, die Augen zu schlie­ßen? — stop

 

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flugglas

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nord­pol : 22.05 — Lag nach­mit­tags unter Son­ne vor Amei­sen­stadt. Beob­ach­te­te, wie Bewoh­ner, nein, Kon­struk­teu­re der knis­tern­den Metro­po­le, Käfer, Spin­nen, Flie­gen, Rau­pen, Rosen­blät­ter, auch mensch­li­che Papie­re ins Wohn­ge­häu­se trans­por­tier­ten. Was, frag­te ich mich, wird mit einer getö­te­ten oder einer gelähm­ten Flie­ge, mit schla­fen­den Käfern und schla­fen­den Spin­nen gesche­hen hin­ter der Fich­ten­na­del­haut? Viel­leicht ein­mal mit einer sehr klei­nen Kame­ra ein­tau­chen und schau­en. Ich wür­de wohl auf eine Hal­le tref­fen, auf einen Ort der Zer­le­gung, des Tran­chie­rens am lau­fen­den Band. Hier also wer­den Pracht­flie­gen zer­teilt und dort noch leben­de Spin­nen fein sor­tiert. In tie­fer gele­ge­nen Arse­na­len dann die Kam­mer der Flug­ge­rä­te, die Kam­mer der Fliegen‑, der Libel­len­flü­gel, bit­ter duf­ten­de Luft, leich­tes Flug­glas bis unter die Decke geschich­tet. In einer wei­te­ren Höh­lung sind je nach Län­ge und Stär­ke Spin­nen­bei­ne sor­tiert und auf­ein­an­der­ge­legt, Baum­stäm­me, haa­rig, noch immer in zit­tern­der Bewe­gung. Stun­den wer­de ich in Maga­zi­nen schil­lern­der Augen ver­wei­len, ein begeis­ter­ter Zeu­ge in Fabri­ken gefan­ge­ner Spin­nen. Man hat ihnen die Bei­ne abge­nom­men, aber sie leben und sin­gen feins­te Sei­de. Wer­den sie müde, wer­den sie an Sol­da­ten ver­füt­tert. — Kurz nach elf Uhr. Abend. Gera­de eben hör­te ich vom Tod des rus­si­schen Schrift­stel­lers Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn. — stop

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