olimambo : 2.15 — Als der junge Mann nach langer Zeit tiefen Schlafes erwachte, begann er zu erzählen, er hatte, während er von Maschinen im Leben festgehalten wurde, während er unerreichbar gewesen war für die Stimmen ihn pflegender und besuchender Menschen, viel erlebt. Nein, sagte er, dass wir mit ihm gesprochen haben, habe nicht gehört. Er sagte, er habe aber vom Winter geträumt, dass Winter geworden sei, Schnee auch in seinem Zimmer, Schnee, der von der Decke seines Zimmers rieselte, Schneemenschen würden ihn gefüttert haben und in seinem Bett herumgedreht. Maschinen von Eis versorgten ihn mit Luft, das habe er genauestens beobachtet, und er habe das Pfeifen von Eisorgeln gehört, zwitschern von Eisvögeln und das Tuten von Eislokomotiven, die immer wieder einmal aus ihren Schloten schmutzig qualmend durch sein Zimmer donnerten, sodass sein Bett hin und her schwankte, als befände er sich auf hoher See. Das alles erzählte der erwachende junge Mann unermüdlich, ohne eine Pause zu machen, er bewegte den Mund, er hörte sich sprechen, aber die Maschine, die noch immer mit ihm atmete, die ihre Schläuche zu seinem Hals hinbewegte, transparente, feuchte Rohre von feiner Haut, machte ihn stumm. Überhaupt war der junge Mann noch etwas verwirrt, sodass wir diese Geschichte ganz sicher bald noch einmal zu erzählen haben. — stop
Aus der Wörtersammlung: wachen
oqaatsut
himalaya : 2.03 — Gestern erreichte mich eine Nachricht Opalkas. Er meldete sich aus einem grönländischen Städtchen, welches an der Westküste der Insel liegt. Er notierte: Lieber Louis, bei dichtem Schneetreiben mit Propellerflugzeug in Oqaatsut eingetroffen. Fischer Roon, der mich vom Flugplatz abholte, erzählte, es sei glücklicherweise nicht wirklich Winter geworden, — 7 °C, heftige Winde vom Meer, viel Schnee, haushohe Wehen, fast dunkel. Gegen Abend zu, im Schein der Lampen einer Schneeraupe, besuchten wir einen Strand. Unter der dichten Haut von feinem Schnee waren noch Spuren eines gestrandeten Wals zu erkennen, Rudimente seines Schädelknochens, Teile der Wirbelsäule. Das Eis weit draußen, das sich heftig bewegte, donnerte zu uns herüber, es ist wunderbar, der Boden zitterte und mein Atem pulsierte unter dem Eindruck zarter Luftdruckwellen. Ich werde Dir in den kommenden Tagen eine Tonaufnahme der Eismeergeräusche anfertigen, auch Du wirst vermutlich begeistert sein. Lidvien, die im Magen des Wals jenen Rechner entdeckte, den ich für Dich untersuchen werde, wird bald eintreffen. Sie soll das Gerät bereits geöffnet und eine Indizierung der Dateien vorbereitet haben. Bald Nacht, lieber Louis, wünsch Dir eine gute Zeit, freu mich, dass J. bald wieder aufwachen wird. Dein Opalka. — stop
herbst
nordpol : 17.05 — Das Wort Heparin, welches einen Wirkstoff bezeichnet, der zur Hemmung der Blutgerinnung eingesetzt wird, ist ein altes Wort. Es ist in meinen Ohren ein altes Wort, weil ich mich erinnern kann, dieses Wort bereits als Kind gehört zu haben, wie mir scheint, solange Zeit kenne ich dieses Wort, es ist ein Wort, sagen wir, meiner Lebenszeit, ein auch unheimliches Wort. — Samstag. Spaziergang im Nymphenburger Schlosspark. Der Herbst springt mit seinen Farben in die Bäume. Schwäne segeln, gefächerte Flügel, über einen See ohne Wind. Das Geräusch der Schritte auf dem sandigen Boden, der wieder trägt. Eichhörnchen toben mit ihren rasenden Herzen durchs Laub. Schlafende Menschen, wenn sie aus dem Tiefschlaf erwachen, werden sie weinen. — stop
im nachtpark
alpha : 4.52 — Gestern, am frühen Morgen, spazierte ich im Adorno Park. Die Vögel schliefen noch, beinahe Lichtlosigkeit. Wie ich so ging und überlegte, entdeckte ich eine Gestalt, die auf einer Bank unter einer Kastanie saß. Sie bewegte sich nicht im mindesten und schien, obwohl doch kaum Licht existierte, in einer Zeitung zu lesen. Auch die Zeitung bewegte sich nicht, vielleicht weil kein Wind. Ein merkwürdiger Anblick. Ich stand ganz still und wartete. Ich warte ein oder zwei Minuten lang, dass sich die Gestalt auf der Bank für einen Moment bewegen möge, ein Lebenszeichen von sich geben, ein Geräusch vielleicht. Ich dachte noch, das könnte ein seltsamer Anblick sein für einen hinzukommenden Beobachter, ein Mann, der reglos auf einer Bank sitzt, während er von einem weiteren reglos stehenden Mann betrachtet wird. Nun wird vielleicht auch dieser Beobachter staunend oder furchtsam innehalten, was für eine seltsame Sache. Zum Glück wird es bald hell werden, die Vögel werden erwachen und das Licht begrüßen, oder sie werden ganz still sein vor Verwunderung, welch unerhörte Dinge sich in ihrem Park ereignen. — Fünf Uhr zweiundfünfzig in Palmyra, Syria. — stop
schatten
echo : 0.22 — Vor einigen Jahren stellte ich mir vor, wie ich eines Tages erwache und jedes Wort erinnern könne, das ich von diesem Moment des Erwachens an denken würde, erinnern jedes meiner Selbstgespräche, auch jene Gedanken, die ich nie wirklich bemerke, weil sie so schnell vorüberziehen, dass ich sie vordem bereits vergessen habe, in dem ich mich schon in dem nächsten Gedankenzimmer befinde. Nichts, überlegte ich, würde von diesem Moment an noch verloren gehen. Auch alle Sätze nicht, die ich hören oder lesen werde, sobald ich das Haus verlasse, Notizzettel, Einkaufslisten, Fragmente von Zeile zu Zeile fallender Anzeigetafeln an Flughäfen oder Bahnhöfen, Zeitungsartikel, Filmdialoge, alles das würde gespeichert sein und könnte zu jeder Zeit in genau der Reihenfolge wiederholt werden, in der es von leisen Wörterstimmen aufgezeichnet wurde. Ich fragte, was würde mit mir geschehen? Wie lange Zeit könnte ich mit diesem Vermögen ausgestattet überleben? In welcher Art und Weise würde ich mich erinnernd durch meine Verzeichnisse bewegen? Würde ich nicht vielleicht in einem dieser Magazine auf der Suche nach einem Wort, einem Satz, einer Erinnerung, für immer verschwinden? — stop
manitoba
delta : 2.15 — Vor wenigen Minuten erreicht mich eine E‑Mail. Ein Freund notiert, er habe von der kanadischen Firma Metromelt Inc. vor langer Zeit bereits einen Auftrag erhalten, der sehr anspruchsvoll sei. Es ginge darum, eine Vorrichtung zu konstruieren, die in der Lage sei, Information der Wetterdienste so zu bearbeiten, dass sie mittels eines speziellen Funkgerätes in die Gehirne schlafender Mitarbeiter gesendet werden könnten. Diese Mitarbeiter seien zuständig für die Alarmierung zahlreicher Schneeräumkolonnen in den Provinzen British Columbia sowie Manitoba. Insbesondere sei es notwendig, Messfühler, die der Konzern in den betroffenen Gebieten installiert habe, auszulesen und zu analysieren, um zu einem definierten Zeitpunkt, Träume von Schnee in den Schlafkammern der Angestellten des Unternehmens zu erzeugen, sodass sie, einem Reflex folgend, inmitten der Nacht unverzüglich erwachen und zu ihren Telefonen greifen würden. Mein Freund berichtete, er habe seinen Auftraggebern angeboten, ein System zu formulieren, das geeignet sei, im Falle von Schnee, Glockenwerke in Betrieb zu setzen, die jeden, der Schnee räumenden Angestellten unmittelbar und rechtzeitig wecken würden. Diesen seinen Vorschlag habe man abgelehnt. Nun wüsste er nicht weiter, er trage seit Wochen ein ungutes Gefühl mit sich herum. – Zwei Stunden nach Mitternacht. 3° Celsius Außentemperatur. Erste Gedanken. — stop
flamingo
alpha : 2.25 — Seit einigen Wochen der Verdacht, dass sich Wörter meiner Particles-Sphäre genau so verhalten, als wären sie ungebändigte Lebewesen, sie tun nämlich in heimlicher Weise was sie wollen, fügen sich zum Beispiel selbst Buchstaben hinzu oder lassen Buchstaben, die für ihre spezielle Existenz unverzichtbar sind, verschwinden. Andere Wörter lassen Buchstaben kreisen, einen Buchstaben um einen anderen Buchstaben. Kaum habe ich nach langer Arbeit in der Nacht die Augen zugemacht, geht das alles los. Und wenn ich dann wach geworden bin und betrachte, was ich nachts notierte, mein Gott, denke ich, aus Wetter ist Watte geworden, aus Miete Mut, aus Regenschirmen Schirme von Schnee. Gerade eben habe ich das Wort Möwe in einem Text beobachtet, den ich vor Monaten notierte. Ich hatte dieses Wort schon lange im Auge. Eine Stunde betrachtete ich das Wort, ohne dass es sich veränderte. Kaum aber war ich für eine Minute aus dem Raum getreten, um in die Küche zu gehen, wurde aus der Möwe eine Mive, das kann ich so genau sagen, weil ich, als ich an den Schreibtisch zurückkehrte, gerade noch sehen konnte, wie aus dem Wort Mive wieder das Wort Möwe wurde. Eine seltsame Sache. Auch ganze Wörter scheinen durch den Textraum wie durch Zeit zu reisen. Im Juli 2008 fabrizierte ich eine kleine Geschichte, die davon erzählt, warum ich nachts manchmal im Dunklen sitze. Genau diesen Text scheint das Wort Flamingo besonders angenehm zu finden, weswegen es immer wieder erscheinen will im Text anstelle der Fliegen, die Teefliegen sind. Schauen Sie selbst, Sie müssen nur lange genug Beobachter oder Beobachterin sein, dann werden Sie schon sehen: Heut Nacht sitze ich im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern, das sollten Sie wissen, gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich kurz vor Mitternacht einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit drei Stunden und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop – Zwei Uhr und fünfundzwanzig Minuten. Wahrscheinlich ist auch heute, während ich schlief, wieder alles in Bewegung gewesen. — stop
fingergeschichte
india : 6.14 — Nehmen wir einmal an, irgendwann in den kommenden Jahrzehnten würde es möglich sein, einen Laden zu betreten wie man heute eine Apotheke betritt, um sich einen sechsten Finger für die rechte Hand zu bestellen. Oder ein drittes Ohr, oder ein fünftes Auge, eines, mit dem man schlafen könnte, während alle weiteren Augen das Geschehen in der nächsten Umgebung überwachen. Was darf es denn bitte sein, wird man gefragt. Man antwortet unverzüglich: Guten Abend, ich hätte gerne einen Finger, sagen Sie, wann könnte der Finger einer rechten Hand frühestens fertig ausgewachsen sein? Und schon ist man wieder auf die Straße getreten. Man ist zufrieden, ja glücklich, weil man sich schon lange Zeit einen sechsten Finger wünschte, sie sind nicht ganz billig zu haben, man muss sich einen sechsten Finger sehr wohl überlegen. Aber wenn man den Finger dann verbindlich bestellt haben wird, ist alles ganz einfach geworden. Ein oder zwei Wochen, nicht länger wird man warten, bis man den Finger in sich wachsen fühlt. Es ist ein schmerzloser Vorgang, eine lang erprobte Sache, man hat schon viel vom Wachsen der Finger gehört. Der ein oder andere Freund verfügt bereits über Füße, auf welchen man sehr viel besser stehen kann, als noch zuvor. Auch sind Menschen, die über Ohren gebieten, mit welchen man von den Schultern aus die Welt belauschen kann, längst keine Seltenheit. Irgendwo im Norden soll eine Frau existieren, die fliegen kann, ein Wunsch vielleicht, Legende, aber nehmen wir doch einmal an, es würden bald Läden existieren für fliegende Menschen, oder Läden für moderne Kiemenwesen, wenn doch das Wasser weltweit gegen die Küsten steigt. — Früher Morgen. Dieser kleine Text wurde in einer Straßenbahn notiert. Die Straßen dampfen. Ich bin sehr schön wach geworden, weil ich durchgeschüttelt worden bin. Um mich herum schlafen noch ein paar sehr müde Menschen. Es ist eine sehr alte Straßenbahn. Über uns leuchtet Glühbirnenlicht. — stop
kamele
alpha : 8.02 — Wartete in der Metrostation Charles Michels auf einer hölzernen Bank, hatte meine Füße in warmen Sand gesteckt. Dünen, kniehoch, eilten von Süden nach Norden durch die Untergrundstation, ohne dass eine Windbewegung zu spüren gewesen wäre. Da waren Kamele in der Größe menschlicher Hände. Sie bewegten sich mit den Dünen und sie waren blau, von einem vornehmen Blau, ultramarin oder etwas dunkler. Bald ließen sie sich vor mir nieder und ruhten, wie Kamele ruhen, den Kopf hocherhoben, kauend, mal das eine Auge geschlossen, dann das andere. Wie ich sie so träumend betrachtete, erinnerte ich mich, dass ich diesen Traum schon einmal träumte. Ich ahnte, dass bald ein Zug aus dem Tunnel kommen würde, ein Zug gefüllt mit Sand, und dass ich mich erheben und in den Zug steigen und erwachen würde. Genau so ist es gekommen. Und jetzt sitze ich hier am Schreibtisch und notiere diesen Traum, obwohl ich doch von der Entdeckung der Eisbücher berichten wollte. – Guten Morgen!
lopes
delta : 0.36 — Ich stelle mir vor, wie ich bald einmal von einer längeren Reise nach Hause zurückkommen werde. Ich öffne die Wohnungstüre, mache Licht, ein paar Nachtfalter kommen mir durch den Flur zur Begrüßung entgegen. In der Küche blühen Kakteen. Im Wohnzimmer auf dem Sofa ruht eine norwegische Waldkatze, sie schläft. Es herrscht, obwohl Winterzeit, eine angenehme Temperatur in allen Räumen, eine Wärme, die von der Hitze umliegender Wohnungen verursacht ist. Ich höre Duke Ellington leise vom Radio her, das ich vergaß vor meiner Reise auszuschalten. Ja, und da ist nun also Lopes, auf dem Rücken liegend, bewegungslos. Ich sage, Lopes, hallo Lopes, guten Abend, bin wieder da, werd dich gleich wecken. Schritte an der Zimmerdecke, das pfeifende Geräusch einer Straßenbahn, die eine Kreuzung überquert, der Staub der Monate knistert auf den Lampenbirnen. Auch die Kakteen hinter dem Schreibtisch blühen wie versprochen. Es ist ein wirklich angenehmer Abend. Lopes ist schmal geworden und kühl, wie ich mit einer Hand über ihren Körper fahre, fühle ich ihre Rippenbögen unter dem Fell. Nichts kann man falsch machen in diesen sanften Momenten einer Rückkehr aus der Ferne, man macht das so, man setzt sich neben das schlummernde Katzentier, man zieht ganz sanft an einem ihrer Ohren, mal ist es das linke, mal ist es das rechte Ohr, und schon öffnen sich ihre Augen, es ist überall dasselbe Prinzip. Ich hörte von Arten, die 5 Jahre lang schlafen und warten, ohne je einmal aufzuwachen, oder trinken oder essen zu müssen. Das sind Katzen, die sehr kostbar sind, Lopes dagegen ist eine eher preiswerte Variante, eine Katze, die sechs Monate bei bester Gesundheit zu schlafen vermag. Ich sitze jetzt in der Küche, ich höre, wie meine Katze schnurrt. Gleich wird sie um die Ecke kommen, etwas wackelig auf den Beinen noch und ahnungslos wie viel Zeit doch vergangen ist, seit ich sie in den Schlaf geschaltet habe. — stop