Aus der Wörtersammlung: zufall

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rom : bälle

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vic­tor : 17.16 — Nah der Iso­la Tibe­ri­na befin­det sich eine von Men­schen­hand gefer­tig­te Schwel­le im Tiber­bett, die den lang­sam dahin rei­sen­den Fluss zu einem rei­ßen­den Strom wer­den lässt. Das braun­grü­ne Was­ser ist hell gewor­den, blau und frisch von der ein­ge­fan­ge­nen Luft. Fla­schen, Bäl­le, Höl­zer wer­den zu Spiel­zeu­gen der stru­deln­den Wal­ze, die sie fängt, die sie mit sich in die Tie­fe nimmt, um sie kurz dar­auf wie­der frei­zu­las­sen für Sekun­den. Wenn man dort sitzt und war­tet, kann man sich kaum satt sehen an jener lebens­lus­ti­gen Ord­nung des Zufalls. Jun­ge Men­schen kau­ern am Ufer, schau­en zu, zäh­len Bäl­le, Far­ben, For­men, spä­hen fluss­auf­wärts, ob wei­te­re Gegen­stän­de sich nähern, um vom Was­ser bear­bei­tet zu wer­den, bis sie sich irgend­wann ein­mal auf­ge­löst haben wer­den oder so leicht gewor­den sind, dass ein Wind­stoss sie der Umar­mung des Flus­ses ent­zie­hen kann. Die Wän­de der Tiber­fas­sung ragen hoch hin­ter uns auf, zehn oder zwan­zig Meter, kaum Geräu­sche mensch­li­chen Lebens drin­gen bis hier­her, Stadt und Fluss schei­nen getrennt. Schwe­re, dun­kel gefie­der­te See­mö­wen haben vom Meer hier­her gefun­den. Ruhig ste­hen sie am Was­ser, blin­ken mit den Augen als wären sie Foto­ap­pa­ra­te. Irgend­wo in nächs­ter Nähe sol­len sich Fun­da­men­te Jahr­tau­sen­de alter Brü­cken unter der Was­ser­ober­flä­che befin­den. Wenn man sie ein­mal zu Gesicht bekom­men soll­te, müss­te der Fluss bald ver­schwun­den sein, ver­dampft wie die Spat­zen, deren Spe­zi­es ich bald ver­ges­sen haben wer­de, dass sie je exis­tier­te. — stop
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PRÄPARIERSAAL : verwandlung

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alpha : 1.55 — Mein Ton­band­ge­rät wird viel­leicht bald auf­hö­ren zu exis­tie­ren. Ein Knis­tern ist zu ver­neh­men, sobald sich die Moto­ren der Maschi­ne in Bewe­gung set­zen. Wenn ich sie schüt­te­le, scheint etwas in ihr her­um­zu­fal­len, wes­halb ich sie in die­ser Nacht öff­nen wer­de, um nach­zu­se­hen, ob ich etwas tun kann, um ihren Ver­fall auf­zu­hal­ten. Es ist jetzt 1 Uhr 32 Minu­ten. Noch dre­hen sich die Räder der Maschi­ne. Gera­de eben erzähl­te Yolan­de aus Kame­run von ihrer Erfah­rung der Ver­wand­lung in der Umge­bung ana­to­mi­scher Arbeit : > Ich habe schon am ers­ten Abend gespürt, dass sich in mei­nem Leben etwas ver­än­dern wür­de. Ich kann mich, wie ich schon sag­te, nicht sehr gut an mei­nen ers­ten Tag im Prä­pa­rier­saal erin­nern. Als ich nachts vor dem Spie­gel stand, waren mei­ne Augen gerö­tet. Das mach­te mir Sor­gen. Ich konn­te nicht ein­schla­fen und dar­um bin ich im Zim­mer auf und abge­lau­fen. Und plötz­lich hat­te ich ein ganz star­kes Gefühl von Leben­dig­sein in mir. Ich hat­te das Gefühl, dass die­se all­täg­li­chen, klei­nen Schwie­rig­kei­ten unter Men­schen, unbe­deu­tend sind. Alles völ­lig unwich­tig. Ich habe dann sehr gut geschla­fen. — Wenn ich von mei­ner Erfah­rung des Prä­pa­rier­kur­ses erzäh­le, reagie­ren die Men­schen mit respekt­vol­lem Stau­nen. Ihre Augen wer­den groß und immer grö­ßer, je mehr sie erfah­ren. Sie mei­nen sehr häu­fig, dass sie das selbst nie­mals aus­hal­ten wür­den. Dann erzäh­le ich gern von mei­nen Freun­den am Tisch. Ich habe als sehr wert­voll emp­fun­den, in einem Team arbei­ten zu kön­nen. Wir mach­ten die­sel­ben Erfah­run­gen und hat­ten ein gemein­sa­mes Ziel: das Erler­nen der Struk­tu­ren des mensch­li­chen Kör­pers. Außer­dem fand ich sehr ange­nehm mit den Hän­den arbei­ten zu kön­nen, ich konn­te die Mate­rie anfas­sen, Mus­keln und Ner­ven und Blut­ge­fä­ße. Wir waren alle weiß geklei­det, viel­leicht fühl­ten wir uns des­halb wie in einer ande­ren Haut. In dem Moment, da ich mei­nen wei­ßen Kit­tel anzog und mei­ne Hand­schu­he, hat­te ich das Gefühl mich zu ver­wan­deln. Auch dann, wenn ich mir nur aus­mal­te, wie ich mei­ne Hand­schu­he über­streif­te, ver­wan­del­te ich mich auf der Stel­le. — stop

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sandbox

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echo : 22.05 — Durch einen Zufall bekom­me ich einen Brief in die Hän­de, der mit einer bemer­kens­wer­ten Bot­schaft ver­se­hen wur­de. Die­se Bot­schaft ist, ob vor­ge­se­hen oder nicht, in Anschrift und Absen­der­an­ga­be auf Vor­der- und Rück­sei­te des Brie­fes ent­hal­ten. Leicht oszil­lie­ren­de Schrift­zei­chen wei­sen auf eine älte­re Per­son hin, die mit Tin­te notier­te in leuch­tend blau­er Far­be. ANSCHRIFT: An den bri­tisch israe­li­ti­schen Ver­tre­ter des USA – Geheim­diens­tes Ysol­de de Kreis / Als­ter Col­lege / 99 Char­letstreet / Lon­don W11CH / Gre­at Bri­tain. ABSENDER: Chos­mo Lager 260754-L-10618 / Nato secret Trup­pen-Nach­rich­ten­dienst Olden­burg P3 / Neu­in­s­ter­bur­ger­weg 14 / Kiel. – Man könn­te nun mei­nen, dass es sich bei die­sem Brief um den Brief eines Ver­rück­ten han­deln könn­te, vor allem des­halb, weil der Brief in authen­ti­schem Auf­trag gesen­det zu sein scheint, ein Brief, der zu einem Irr­läu­fer wer­den könn­te, nicht zustell­bar, aber auch ohne die Mög­lich­keit, sei­nen Absen­der wie­der­zu­fin­den, wes­halb jene Per­son, die notier­te, davon aus­ge­hen kann, dass der Brief sei­nen Emp­fän­ger erreich­te und dass die­ser nun, in der Art der Geheim­diens­te, unfreund­li­cher Wei­se nicht ant­wor­te­te. Eine wun­der­vol­le, sehr wir­kungs­vol­le Sand­box, die sich belie­big oft wie­der­ho­len lässt und immer wie­der zu dem sel­ben, sich selbst bestä­ti­gen­dem Ergeb­nis füh­ren wird. — Ja, so könn­te das sein. Es ist Sonn­tag, es ist Abend. Ich soll­te ein­mal einen oder zwei Tage in dem fes­ten Vor­satz ver­brin­gen, mich selbst für eine Erfin­dung zu hal­ten. — stop
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karawane

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del­ta : 0.02 — Auf dem Broad­way wan­der­te eine Kara­wa­ne mensch­li­cher Trä­ger süd­wärts. Ich folg­te die­ser merk­wür­di­gen Erschei­nung von der 30. bis zur 8. Stra­ße an einem win­di­gen Tag. Die Son­ne leuch­te­te tief vom Hud­son her, Staub war in der Luft, die Män­ner, die sich sehr lang­sam beweg­ten, hus­te­ten und nies­ten. Sie waren alle sehr ordent­lich geklei­det, Anzü­ge von dun­kel­grau­er Far­be und Kra­wat­ten in unter­schied­li­cher Mus­te­rung. Außer­dem tru­gen sie fin­ger­brei­te Schil­der über ihren Her­zen von japa­ni­schen Schrift­zei­chen besetzt. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich wun­der­te, weil die Män­ner nicht mit­ein­an­der spra­chen. Sie bil­de­ten eine lini­en­för­mi­ge Ein­heit, einer der Trä­ger führ­te die­se Linie an, er war sozu­sa­gen ihr Kopf. Sobald die­ser Mann nun eine Kreu­zung erreich­te, blieb er ste­hen und war­te­te, bis die Ampel der Kreu­zung zunächst rot wur­de und dann wie­der grün. Ein Mann stand jetzt exakt hin­ter dem ande­ren, in dem sie sehr geschickt ihren Bal­last auf ihren Köp­fen balan­cier­ten, jeder Trä­ger einen Kar­ton. Indes­sen schien die Kara­wa­ne der grau­en Män­ner jenen Men­schen, die mit oder gegen ihre Lauf­rich­tung über die Stra­ßen eil­ten, nicht beson­ders auf­zu­fal­len. Für einen Moment hat­te ich die Idee, sie wären viel­leicht unsicht­bar, genau­er, sie wären nur für mich sicht­bar gewe­sen, rei­ner Unsinn natür­lich, weil der Raum, den die Kara­wa­ne auf Geh­we­gen und Stra­ße ein­ge­nom­men hat­te, respek­tiert wur­de. Etwa drei Kilo­me­ter lie­fen sie so ruck­wei­se süd­wärts dahin, um dann in der 8. Stra­ße in einem Back­stein­haus zu ver­schwin­den. Ende der Geschich­te einer Beob­ach­tung. Es ist Mon­tag. In den Kas­ta­ni­en vor dem Fens­ter das Sum­men der Nacht­bie­nen. – stop
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greenwich village : verschwinden

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echo : 0.12 — New York ist ein aus­ge­zeich­ne­ter Ort, um unter­zu­tau­chen, zu ver­schwin­den, sagen wir, ohne auf­zu­hö­ren. Ich stell­te mir vor, wie ich in die­ser Stadt Jah­re spa­zie­ren wür­de und schau­en, mit der Sub­way fah­ren, auf Schif­fen, im Cen­tral Park lie­gen, in Cafés sit­zen, durch Brook­lyn wan­dern, ins Thea­ter gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwe­send sein, gegen­wär­tig, ohne auf­zu­fal­len. Ich könn­te exis­tie­ren, ohne je ein Wort zu spre­chen, oder viel­leicht nur den ein oder ande­ren höf­li­chen Satz. Ich könn­te Nacht,- oder Tag­mensch sein, nie wür­de mich ein wei­te­rer Mensch für eine län­ge­re Zeit als für eine Sekun­de bemer­ken. Sehen und ver­ges­sen. Wenn ich also ein­mal ver­schwin­den woll­te, dann wür­de ich in New York ver­schwin­den, vor­sich­tig über Trep­pen stei­gen, jeden Rumor mei­den, den sen­si­blen New Yor­ker Blick erler­nen, eine klei­ne Woh­nung suchen in einer Gegend, die nicht all­zu anstren­gend ist. In Green­wich Vil­la­ge viel­leicht in einer höhe­ren Eta­ge soll­te sie lie­gen, damit es schön hell wer­den kann über  Schreib­tisch und Schreib­ma­schi­ne. Ich könn­te dann von Zeit zu Zeit ein Ton­band­ge­rät in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cken und einen oder zwei mei­ner Tage ver­zeich­nen, nur so zur Vor­sicht, um nach­zu­hö­ren, ob ich nicht viel­leicht schon zu einer selbst­spre­chen­den Maschi­ne gewor­den bin. — stop
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time

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hibis­kus : 22.25 — Wenn ich mich sehr lang­sam bewe­ge, so lang­sam, sagen wir, wie mög­lich bewe­ge, ohne umzu­fal­len oder ein­zu­schla­fen, mei­ne ich, einer Per­son nach­spü­ren zu kön­nen, deren Leben auf 2800 Jah­re Zeit aus­ge­dehnt wor­den ist. Drei Pul­se pro Minu­te an einem Tag von 840 Stun­den Dau­er. Ich hör­te die Wet­ter­fra­ge ( Regen? ) eines Freun­des, der sich in jener ande­ren, in jener für Men­schen übli­chen Lebens­ge­schwin­dig­keit befin­det. Ich ant­wor­te­te 5 wei­te­re Minu­ten spä­ter in einem kaum noch wahr­nehm­ba­ren Geräusch. Wie nur unbe­scha­det eine Stra­ße über­que­ren? — stop

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PRÄPARIERSAAL : zeppelin

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echo : 2.16 — Wall­street ges­tern Abend auf Fern­seh­bild­schirm. Hin­ter einem Repor­ter, der vom abwärts stre­ben­den Ver­hal­ten der Kur­se erzähl­te, war­te­ten japa­ni­sche Men­schen. Sie wink­ten fröh­lich in die Kame­ra, grüß­ten, fächel­ten sich Luft zu mit fleisch­far­be­nen Zei­tungs­pa­pie­ren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dach­te ich, wür­de ich süd­wärts lau­fen zur nahe­ge­le­ge­nen Hafen­sta­ti­on, wür­de mich auf das obe­re Deck eines der alten Fähr­schif­fe bege­ben, wür­de bald im küh­len­den Fahrt­wind sit­zen, ein Coke in der lin­ken, eine Teig­ta­sche mit Hum­mer­fleisch in der rech­ten Hand, das Ton­band­ge­rät in der Tasche und Mels Stim­me im Kopf­hö­re­rohr, wie sie erzählt von ana­to­mi­scher Zeit. — 2 Uhr und zwan­zig Minu­ten. Regen. Blit­ze. Don­ner. Gera­de eben hör­te ich mich selbst, mei­ne eige­ne Stim­me. Ich for­mu­lier­te vor­sich­tig eine Fra­ge, woll­te wis­sen, ob Mel sich im ana­to­mi­schen Saal gefürch­tet habe? Nein, ant­wor­te­te Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekun­de lang vor den Toten gefürch­tet. > Ich hat­te in die­sen 6 Wochen kei­ne Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf mei­ne Auf­ga­be kon­zen­triert. Ich habe mich vor Testa­ten ein wenig gefürch­tet, und ganz am Anfang viel­leicht davor ein­mal rasch umzu­fal­len. Nur des­halb hat­te ich wirk­lich Angst, umzu­fal­len, das heißt nicht arbei­ten zu kön­nen, aber davon erzähl­te ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau über­le­ge, dann kann ich mich nicht erin­nern, dass im Prä­pa­rier­saal über­haupt irgend jemand umge­fal­len ist. Viel­leicht muss­te man mal aus dem Saal gehen und sich set­zen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschla­fen hat­te und des­halb müde war und weil die Augen brann­ten vom Form­alde­hyd in der Luft. Aber umge­fal­len, ich mei­ne, ohn­mäch­tig gewor­den, davon habe ich per­sön­lich nichts mit­be­kom­men. Ich habe manch­mal den Ein­druck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch prä­pa­rier­te, hat­te ich hin und wie­der den Ein­druck, dass die­ser Saal nicht wirk­lich war. Ich konn­te mei­ne Ein­drü­cke nicht mit der Stra­ße, über die ich nach Hau­se spa­zier­te oder mit den Gesprä­chen der Men­schen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Ver­bin­dung brin­gen. Ich hat­te den Ein­druck, dass der Saal, dass die gan­ze Situa­ti­on irgend­wie frei schweb­te, also ganz für sich war, iso­liert. Und so reis­te ich also hin und her, von da nach dort und wie­der zurück, aber das war nicht schwer gewe­sen, so hin und her zu sprin­gen. Ich habe von dem ein oder ande­ren mei­ner Freun­de gehört, dass sie Alp­träu­me gehabt hät­ten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jeden­falls nicht dar­an erin­nern, geträumt zu haben. Ich glau­be, ich war in irgend­ei­ner Wei­se geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, viel­leicht war es die Dich­te der Auf­ga­ben, die mir gestellt waren. Ich hat­te kei­ne Zeit, lan­ge über die­se merk­wür­di­ge Situa­ti­on nach­zu­den­ken. Ich mei­ne, ich habe nicht lan­ge dar­über nach­ge­dacht, dass ich, Mel, hier den Kör­per einer alten Frau so lan­ge zer­le­ge und betrach­te, dass er fast ver­schwun­den sein wird, wenn ich fer­tig sein wer­de. Ja, — es war sehr viel zu tun. Das hat es leich­ter gemacht.
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motel chronicles

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echo

~ : louis
to : Mr. Shepard
sub­ject : MOTEL CHRONICLES

Eine Depe­sche, ver­ehr­ter Mr. She­pard, an die­sem frü­hen Mor­gen in Euro­pa. Bei Ihnen da drü­ben in Ame­ri­ka wirds gera­de dun­kel wer­den. Notie­re begeis­tert, dass ich Ihre Motel Chro­nic­les geöff­net habe. Obwohl äußerst müde gewe­sen, las ich eine Halb­stun­de vor­an, ohne eine Pau­se ein­zu­le­gen. Ihre prä­zi­se Spra­che, die leicht ist wie Bims­ge­stein, vul­ka­nisch, von Zeit­höh­len durch­wach­sen. Ob es viel­leicht mög­lich ist, ihre Geschich­ten zu neh­men, um sie in eines der Bücher zu über­tra­gen, die ich erfin­de für Nacht­per­so­nen, oder eine Zei­le nur wie die­se, da das Glück fällt auf die lin­ke Sei­te des Zufalls? Viel­leicht wer­den Sie fra­gen, wel­che Eigen­schaf­ten ein Nacht­buch von Tag­bü­chern unter­schei­den. Nun, ein Nacht­buch gebie­tet über wan­dern­des Licht in sei­nen Zei­chen, wel­ches müde Leser kaum merk­lich wei­ter­lockt. Sobald sich näm­lich stu­die­ren­de Augen schlie­ßen, leuch­tet das Licht im nächs­ten Zei­chen, im nächs­ten Wort vor­aus, so dass man nicht auf­hö­ren möch­te, die­sem Licht durch die Zei­len zu fol­gen. Eine Ver­füh­rung, das könn­te sein, ein Appell des Buches, das in den Buch­sta­ben­sen­so­ren, das Augen­licht der Lesen­den zu spü­ren ver­mag. Eines die­ser Nacht­bü­cher könn­te Ihres wer­den, lie­ber Mr. She­pard, Motel Chro­nic­les, unsicht­ba­re Zei­chen des Tages, Licht in der Nacht. Erwar­te Ihre Ant­wort oder Fra­gen mit Freu­de, wie auch immer sie sich für mich dar­stel­len wer­den. Mit herz­li­chen Grü­ßen — Ihr Louis

gesen­det am
17.02.2011
4.08 MEZ
1407 zeichen

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standardminute

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del­ta : 6.05 — Wie ich abends im Waren­haus eine moder­ne Stan­dard­mi­nu­te erleb­te, das will ich rasch noch berich­ten, eh mir die Augen zufal­len, müde vom Wun­dern. Eine gan­ze Minu­te also. In die­ser Minu­te, an ihrem Anfang genau­er, befin­det sich eine Kas­sie­re­rin mitt­le­ren Alters, unru­hig sind Augen und Mund, und ihre flat­tern­den Hän­de, Werk­zeu­ge, die Waren über Licht­tas­ter ziehn. Eine alte Dame ist da noch, eine Dame mit Hut, die sich sehr lang­sam bewegt, ein wah­res Rep­til, wür­de­voll, bedäch­tig. Ein wenig zer­streut scheint sie zu sein, hebt immer wie­der den Blick, beob­ach­tet scheu die Bewe­gung des Ban­des, die Rei­se ihrer per­sön­li­chen Ware: eine Schach­tel Pra­li­nen, ein Fläsch­chen Jäger­meis­ter, Salz­stan­gen, drei Dosen Kat­zen­fut­ter, ein duzend Scho­ko­la­den­os­ter­ei­er in grün, in gelb, in rot, und ein wei­te­res Fläsch­chen noch hin­ter­her. Das alles muss jetzt in die Tasche, sofort, und doch ists schon zu spät. Zwei Apri­ko­sen­saft­tü­ten schie­ben sich, einem Eis­bre­cher ähn­lich, in den war­ten­den Bezirk der alten Frau hin­ein, fal­ten Eier, Salz­stan­gen und ande­re Waren­tei­le steil zur Sei­te. Man kann jetzt hören, wie das klingt, wenn eine Dame höf­lich um Geduld bit­tet, um Nach­sicht, eine freund­li­che, eine herz­er­wär­men­de Stim­me, und das Geräusch einer Fla­sche, die zu Boden fällt. Wie sich die alte Dame nun auf­rich­tet, wie ihre hel­len Augen mei­ne Hän­de beob­ach­ten, die ver­su­chen wei­te­res Unglück abzu­wen­den. Ungläu­big schaut sie mich an, dann das För­der­band ent­lang, das wei­te­re Waren vor­an­trans­por­tiert. Ja, bald ste­hen wir und stau­nen zu zweit, und auch die Ver­käu­fe­rin ist zur mit­füh­len­den Beob­ach­te­rin gewor­den. Sie lurt zum Waren­strom hin, der über die Kan­te der Roll­band­the­ke in die Tie­fe stürzt. Ihre Hän­de, die­se selt­sa­men Hän­de, sie arbei­ten wei­ter und wei­ter, schie­ben und schie­ben, als führ­ten sie ein eige­nes Leben oder gehör­ten schon der Maschi­ne mit ihrem Rot­licht­au­gen­ge­hirn. stop. Minu­te zu Ende. stop. Guten Morgen.