sierra : 5.15 — Für einen Moment, für 20 oder 30 Sekunden, war heute Nacht der Strom ausgefallen. Überfallartig die schwarze Farbe der feuchtwarmen Luft und in dieser Farbe, die sanft mein Gesicht berührte, das schnurrende Geräusch der Propeller meiner Süßwasserfiltermaschine, Fische, die schlaftrunken durchs Wasser schossen, Fische, die die Grenzen ihrer gläsernen Welt berührten, auch das ein Geräusch, ein etwas dunkleres p i n g, knöchern, schmerzhaft. Da war noch das Seufzen der Kühlschranktür von der Küche her, das Geräusch meiner Finger, die auf dem Schreibtisch nach einem Feuerzeug suchten, Schritte von oben, vom Dach, mein Atem. In diesem Moment der Finsternis, ich weiß nicht warum, erinnerte ich mich an Noe, meinen Taucher, und sofort, nachdem das Licht zurückgekehrt war und mit diesem Licht, die Möglichkeit, das Internet zu erreichen, besuchte ich Noe, lauschte eine Weile, las was er zu sagen hatte, was er in der Tiefe des Atlantiks vor Neufundland in die Schreibmaschine tippte, war glücklich, dass Noe noch existierte: r e d f i s h r i g h t w a r d s. s t o p also schreibe ich. s t o p ich schreibe was ich sehe. s t o p feine stäube treiben durchs wasser. s t o p schattenlose wesen. s t o p lichtzeichen. s t o p pulse. s t o p habe versucht die gestalt eines kühlschranks zu erinnern? s m a l l b l u e f i s h r i g h t h a n d . s t o p lange zeiten der beobachtung. s m a l l g r e e n f i s h t o p l e f t. s t o p meine schreibenden hände. s t o p die bewegung der handschuhe auf der tastatur der maschine. s t o p als ob ein anderer arbeitete so fern scheinen mir ihre gesten zu sein. s t o p fremd. s t o p wie lange zeit habe ich meine unbekleideten hände nicht gesehen? s t o p
Aus der Wörtersammlung: arbeit
ein kind
marimba : 6.16 — In der Schnellbahn vom Flughafen wieder ein merkwürdiges Kind beobachtet. Das Kind saß auf dem Schoß der Mutter, hatte einen Schnuller im Mund und betrachtete Fahrgäste, die dort in seiner nächsten Nähe saßen oder standen. Alle waren sie müde, ein Langstreckenflug von New York her über den Atlantik lag hinter ihnen, das Kind aber schien gut geschlafen zu haben. Es hatte blitzblanke Augen von dunkelbrauner Farbe, und mit diesen Augen nun arbeitete es sich von einem Erwachsenengesicht zum nächsten. Wenn die Augen des Kindes ein Gesicht erreichten, verweilten sie eine gewisse Zeit lang, als ob sie sich das Gesicht für immer einprägen, oder aber als ob sie in dem Gesicht etwas finden wollten, nach dem gesucht werden musste. Wenn das Kind mit der Beobachtung eines Gesichts fertig geworden war, hüpften seine Augen auf das nächste Gesicht, und so weiter und so fort. Nie, ich meine, nie, solange ich das Kind und seine Augen beobachtete, kehrte sein Blick zu einem Gesicht zurück, das es bereits einmal besucht hatte, sodass ich behaupten möchte, dass seine Augen, das heißt, das Gehirn des Kindes, den Raum des Zuges systematisch untersuchte. Für eine Sekunde hatte ich den Gedanken, dass das Kind vielleicht ein uralter Mensch gewesen war, der rückwärts lebte, für den sich die Zeit umgekehrt hatte, der bald den Anfang seiner Existenz wieder erreichen würde, der noch einmal alles ansah, mit Kinderaugen, aber vielleicht einem uralten Gehirn. Wer aber, wenn ich dieses Gefüge weiterdenke, war diese müde Frau gewesen, auf dessen Schoss das Kind ruhte und schaute? – Weit nach Mitternacht. Habe den Verdacht, diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben. Ein Déjà-vu. Werde mir sofort zur Beruhigung eine kleine Ente braten. — stop
innenohraugen
echo : 15.00 — Ich habe in einer E‑Mail folgende Notiz entdeckt: Wenn ich in mich hineinschaue, schaue ich nicht wirklich, sondern höre in mich hinein. Ich habe das aufgeschrieben, ohne geprüft zu haben, ob stimmt, was ich behauptete. In der vergangenen Nacht, während der Arbeit an einer kleinen Geschichte, die von den Simmons erzählt, einem Ehepaar, das in diesen Tagen 216 Jahre alt geworden sein soll, habe ich mich eingehend beobachtet. Und tatsächlich glaube ich, voller Überzeugung sagen zu können, dass ich über keine Augen verfüge, die nach innen gerichtet sind, sondern über Ohren, vornehmlich in meinem Kopf. Wenn ich das Wort Leporello lese, sehe ich das Wort, wenn ich aber das Wort Leporello in meinem Kopf suche und wieder finde, dann höre ich das Wort. Auch Geschichten, die sich in meinem Kopf befinden, sind zunächst Geräusche. — Siebzehn Uhr und eine Minute MESZ in Shangil Tobay, Darfur. — stop
yanuk : frogs
~ : yanuk le
to : louis
subject : LIGHT
date : july 12 08 6.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, ich schreib Dir noch rasch, bevor die Dunkelheit wie ein nasses Tuch vom Himmel fallen wird. Ist Dir bekannt, dass ich seit bald zweihundert Tagen auf Baum No 728XZ sitze, ohne einmal den Erdboden berührt zu haben? Viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen damit verbracht, mein Zelt gegen das Licht der Sonne abzudichten. Werde fortan versuchen, am Tag zu schlafen und nachts meinen Forschungsarbeiten nachzugehen. Bin zufrieden, habe viele neue Wesen entdeckt, aber die Hitze setzt mir zu, und das Licht scheint doch eine Flüssigkeit zu sein, die durch den kleinsten Spalt fließen und mein Zelt auszufüllen vermag. Vielleicht ist das Licht deshalb nicht auszuschalten, weil ich weiß, dass es dort draußen, vor meinem Zelt unter dem Mantel von Blättern, hell ist, oder weil Licht in meinem Kopf brennt, das ich nicht zu Ende denken kann. Und doch, mein lieber Louis, bin ich glücklich. Dank Dir herzlich für den feinen Simmons Text. Das erste Buch, das ich per E‑Mail erhalten habe. Ich bin natürlich bislang nicht sehr geübt im Lesen vor Bildschirmen und die Falter setzen mir zu. Sie haben die Größe meiner Hände, sind staubig und zu schwer für die Zungen der Frösche, die in meiner Nähe sitzen und warten, dass ich mit meinen Selbstgesprächen beginnen werde. Manchmal habe ich das Gefühl, bereits seltsam geworden zu sein. Vielleicht bin ich ein erfundenes Geschöpf? Wirst Du schreiben, sobald Du etwas Verrücktheit bei mir findest? – 6.12 p.m. 32 °C. 97 Prozent Luftfeuchte. Position 1°38’S 61°42’W — Yanuk
eingefangen
22.05 UTC
1538 Zeichen
simbabwe
delta : 0.02 — Gestern, am frühen Nachmittag, legte ich mich auf mein Sofa, weil ich von der Nachtarbeit sehr müde war. Ich stellte mein Fernsehgerät an, dort lief ein kleiner Charlie Chaplin Film, sofort schlief ich ein. Als ich wieder wach wurde nach zwei Stunden, war der kleine Film zu Ende und ich sah in einem anderen Film eine Frau in einer grünen Landschaft auf dem Erdboden liegen. Die Frau, die ich sah, war eine afrikanische Frau, eine Bürgerin des Staates Simbabwe. Sie lag dort in Simbabwe auf dem Boden, weil sie so schwach zu sein schien, dass sie nicht sitzen konnte. Sie war ungefähr so alt wie ich oder sehr viel jünger, der tägliche Hunger hatte sie vielleicht älter gezeichnet, und sie schaute in die Kamera, eine europäische Kamera, und sagte, dass sie so gerne eine Apfelsine haben würde. — stop
nachtzeppelin
whiskey : 5.25 — Seltsame Lufterscheinung heute Nacht. Warm war’s bis 1 Uhr, dann plötzlich kühl bis 2, dann wieder warm. Arbeitete bei geöffneten Fenstern, hörte Duke Ellington, überlegte einen Brief an Daisy Hilton. Vielleicht ist ein kühles Objekt lautlos über die Stadt geflogen, ein Nachtzeppelin, oder ein Schwarm sehr kalter Faltertiere, vollkommen unbekannte Wesen, oder aber alle Eisspinnen der Stadt, so wie sie im Geheimen in jedem Kühlschrank existieren, haben ihre Boxen verlassen und sich zum Plaudern draußen vor den Fenstern getroffen. Wer könnte schon sagen, was genau geschehen ist in dieser Stunde mit ihrer seltsamen Luft? Haben doch fast alle Menschen geschlafen. — Es ist 7 Uhr morgens. Ich leg mich jetzt nieder. Gute Nacht. — stop
tonbandstimmen
echo : 5.15 — Vier Abendstunden mit Tonbandmaschine im Palmengarten gearbeitet. Folgte Stimmen junger Menschen, die von einer Zeit erzählen, die sie im anatomischen Präpariersaal verbrachten. Manchmal spule ich das Tonband zurück, notiere mit der Schreibmaschine Wort für Wort, um sie in einen größeren Textkörper zu transportieren. Da ist Mel, zum Beispiel, ihre hellsichtigen Gedanken zur Lunge. Als ich an den Tisch komme, um ihr meine Fragen zu überreichen, legt sie gerade Bronchien frei. Sie sagt, ich solle doch rasch fühlen, wie weich das Gewebe der Lunge sei und wie erstaunlich leicht. Während sie eine halbe Stunde zu mir spricht, verknüpft sie kunstvoll einen Handschuh mit einem weiteren Handschuh, ohne den Blick auch nur einmal von meinem Mikrofon zu heben. Etwas später wird sie sagen, dass ihr mein Mikrofon wie ein kleines fliegendes Ohr vorgekommen sei. – Libellen. — In der Dämmerung noch Unschärfen der Luft. — stop
chatraupe
olimambo : 0.10 – Auf dem Fensterbrett. Schau auf die Straße hinunter und höre seltsamen Schwalben zu, wie sie pfeifend und fressend durch die Nachtluft flitzen. Angenehme Stunde, obwohl mir gerade nichts einfällt, weil befangen von Fernsehbildern, die ich vor einer Stunde noch beobachtet habe. Froh, dass ich das Fernsehgerät endlich ausschalten konnte. Und wenn ich nun vom Fenster aus ins Zimmer schaue, sehe ich einen weiteren Text, als meinen schweigenden Text, zeilenweise auf dem Bildschirm meiner großen Schreibmaschine entstehen, ohne dass ich zur Entstehung dieses Textes etwas beitragen müsste. Der Text schreibt sich langsam, schwingend wie eine Raupe vorwärts. Natürlich ist dieser Text auf dem Bildschirm kein Lebewesen, wie eine Raupe ein Lebewesen ist, das sterben, also aufhören könnte. Dieser Text ist das Ergebnis einer Schreibarbeit, die fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Menschen in diesem Moment in ihren Chatprogrammmasken verrichten. Der Verdacht, der Text schreibt sich auch dann, wenn ich nicht anwesend bin. — Acht Uhr zwölf in Rangen, Burma. — stop
flaubert
~ : louis
to : Mr. gustave flaubert
subject : MEMPHIS
Verehrter Mr. Flaubert, gestern, am späten Nachmittag, knisterte ein feiner Regen ans Dachfenster meines Zimmers und ich habe mich auf den Rücken gelegt und ihr ägyptisches Reisetagebuch geöffnet, eine sehr feine Arbeit, detailliert, das Abschiednehmen, ihre voraus reisenden Koffer. Während Sie gerade an Bord der Canja Memphis passierten, bin ich eingeschlafen, vielleicht weil ich müde war von einer viel zu kurzen Nacht. Als ich wieder wach wurde, knisterte der Regen noch immer gegen das Fenster, und ich erinnerte mich, ihnen erzählen zu wollen, dass ich seit vorgestern, 15 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, Augenpaare sammle, die meine elektrische Seite besuchen. Vermutlich werden Sie mich für einen seltsamen Vogel halten, weil ich Augen paarweise zähle, ihre Existenz und woher sie kommen und welche Brillen sie tragen und die Zeit messe, die sie mit meinen Wörtern verbrachten. Gestern Abend um 22 Uhr 17 Minuten und 11 Sekunden hatte ich Besuch aus Shanghai. In großer Entfernung lurten also ein paar Augen, verweilten, kaum zu glauben, sechs Sekunden auf meinen Zeilen, dann waren sie wieder weg. Ich habe mir gedacht, dass diese hastigen Augen vielleicht meine Schriftzeichen nicht entziffern konnten, dass sie deshalb nur zwei oder drei Atemzüge lang bei mir verweilten. Ja, lieber Flaubert, das könnte sein, nein, ich hoffe, dass es so gewesen ist. Später Abend schon wieder. Werde jetzt weiter lesen in Ihrer ägyptischen Reise, während die Augenzählmaschine arbeitet, ohne dass ich mich auch nur einmal für sie bewegen müsste. Ihr Louis, mit allerbesten Grüßen.
doppelhelix
echo : 0.01 — Eine Fotografie, die James Watson und Francis Crick vor ihrem Modell einer DNA-Doppelhelix zeigt. Der Eindruck, Watson würde einen an der Zimmerdecke lungernden Trompetenkäfer betrachten, dessen Gattung zum Zeitpunkt der Aufnahme sich bereits abzuzeichnen beginnt.
Vielleicht sollte ich sagen, dass Trompetenkäfer rein pneumatische Arbeiter sind, während Posaunenkäfer sowohl pneumatische als auch mechanische Verfahren der Tonerzeugung in sich vereinigen. Drummer knallen elektrisch. Bassisten verfügen über einen Körper von ungewöhnlicher Länge, über ein Gehäuse, welches von feinsten Lamellenknochen ausgebildet sein wird. Gerade diese wohlklingenden Wesen werden eines Tages mit Zigarren leicht zu verwechseln sein. Das Erstaunliche an musizierenden Käferwesen ist, dass sie den Musiker sowohl als auch ein Instrument, das von Menschen erfunden wurde, mit sich führen, dass sie also symbiotische Wesen sind. — stop