whiskey : 6.15 — Hatte gestern Abend gegen 10 Uhr zwei Wörter auf ein Blatt Papier geschrieben, um sie nicht zu vergessen: Lunar Caustic. Jetzt ist die Nacht vorüber und ich habe keine schreibbaren Gedanken, weil ich acht Stunden mit meinem Laptop auf dem warmen, hölzernen Boden meines Arbeitszimmers herumgelegen habe und nach Spuren Malcolm Lowrys in den Archiven der New York Times gesucht. — 6 Uhr. Leichter Regen. Taubengraublauer Himmel. — stop
Aus der Wörtersammlung: blau
mauritius
~ : louis
to : Mr. lichtenberg
subject : MAURITIUS
Mein lieber Lichtenberg, wie unermesslich meine Freude, seit ich weiß, dass Sie lesen, was ich notiere. Noch immer bin ich wie benommen, sitze herum und überlege, ob sich nun meine Schreibwelt möglicherweise wesentlich verändern wird. Nicht leicht, für einen kleinen Schriftsteller, wie ich einer bin, zu wissen, wer von oben her zusieht, ohne sofort alle Unbefangenheit zu verlieren. Nehme an, Sie haben einen vollständigen Blick auf mich, auf meine Person, nicht nur auf Zeichen und Bilder. Ganz sicher beobachteten Sie deshalb meinen Luftsprung gestern, kurz nachdem ich das Postfach geöffnet hatte. Ihr Brief, das wunderbar kräftige und raue Papier des Couverts, ein Stempel auf einer blauen Marke. Eine Mauritius, nicht wahr? Ich habe, nein, nein, ich habe sie nicht übersehen und wenn ich mich nicht irre, ausgesorgt, mit Ihrer Hilfe bis an mein Lebensende. Jetzt frage ich mich natürlich, schreiben Sie denn noch mit der Hand dort oben? Sitzen Sie auf Stühlen oder schweben sie herum und denken sich alles nur aus und sofort aufs Papier? Wird noch Nacht und Tag oder ist immerzu das richtige Licht, so wie Sie’s gerade brauchen? Ob sie mir wohl manchmal zuhören, verzeichnen, was ich spreche, wenn ich träume? — Ihr Louis, mit herzlicher Freude!
luftpost
alpha : 23.52 – Einmal lag ein buntes Stück Papier auf meinem Schreibtisch, ein Luftpostbrief. Als ich das Couvert des Briefes genauer betrachtete, das heißt, als ich den Brief so nahe an meine Augen heranführte, dass ich die Stempeleinträge seiner Anschriftenseite entziffern konnte, bemerkte ich, dass der Luftpostbrief bereits vor langer Zeit in Europa aufgegeben und über den Atlantik geflogen worden war. In Santiago de Chile dann angekommen, konnte der Brief nicht zugestellt werden, vermutlich weil die Zeichen, die den Brief beschrifteten, kaum zu entziffern gewesen waren. Nach einigen Wochen Wartezeit, reiste der Brief, nun markiert mit einem Schildchen in blauer, spanischer Farbe: Imposible de entregar! *, über den Atlantik zurück, um sich nur wenige Tage später erneut auf den Weg über das Meer nach Chile zu begeben. Ein weiterer Schriftzug war hinzugekommen, ein feiner, aber großzügiger Stempelaufdruck: -Diese Sendung wurde von einem Blinden geschrieben!- Zwei frische Wertmarken, nichts sonst verändert. Und so machte sich der Brief bald darauf ein viertes Mal auf den Weg über das Meer wieder nach Europa zurück und landete, weiß der Himmel, warum, in meiner Nähe, in der Nähe meiner Schreibmaschine. — stop
* Nicht zustellbar
nachtzeppelin
echo : 2.18 — Ein Zeppelinkäfer, seltsames Wesen, schwebte kurz nach 1 Uhr heute Nacht eine schnurgerade, eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Samstag. Leichter Regen vielleicht. — stop
eine frage der winde
echo : 2.26 — Eine jedem Propellerkäfer zutiefst verbundene Leidenschaft ist, auf Bäumen zu sitzen und nach Winden Ausschau zu halten. Sie sind in diesem Warten und Schauen außergewöhnlich geduldige Persönlichkeiten. Wochen, gar Monate sitzen sie kaum wahrnehmbar in Gestalt kleiner Zigarren auf knorrigen Ästen, Stämmen und Blättern herum, indessen sie ihre Augen stets geöffnet halten, blaue, sehr blaue Augen, auch wenn sie schlafen, was nicht ganz sinnvoll zu sein scheint, weil doch heranwehende Winde eher zu hören, als zu sehen sind. Wenn man nun einen Propellerkäfer bei seiner leidenschaftlichen Arbeit, insbesondere den Präludien seiner Arbeit beobachten möchte, sollte man geduldig sein und immerfort an seiner Seite, weil man nie vorhersagen kann, ob ein Wind, der sich näherte, unserem Propellerkäfer gefallen wird. Manche Winde, so seltsam das erscheinen mag, noch feinste Stürme, die vom Meer her kommen, lassen unseren Propellerkäfer vollkommen kalt, während bereits die leiseste Ahnung ganz anderer Winde, heftigste Erregung erzeugen kann. Dann, von einer Sekunde zur anderen, ändert der Propellerkäfer seine Farbe, ob er will oder nicht, er sieht jetzt ein wenig so aus, als würde Feuer in ihm brennen. Seine Füße indessen haben kleine Zehen ausgefahren, Fantasien der Natur, rein nur zur Verankerung ausgedacht, weil der Propellerkäfer sich sofort wild entschlossen mit jedem seiner Propeller gegen den Wind stemmen wird. Stürme, gerade Stürme will er fangen. So sitzt er mit geschlossenen Augen hinter pfeifenden Rotoren bebend und knistert und wartet, wartet, bis all das wilde Wetter vorübergezogen sein wird. Der Ordnung halber sei Folgendes noch rasch gemeldet: Propellerkäfer sind friedvolle, aber doch gefährliche Wesen, sobald sie aufgeladen sind. Mal haben sie sechs, mal acht, mal zehn Propeller, die sie je in ihrem Leib verbergen, um für Wochen, für Monate wieder zur Baumzigarre zu werden. Jetzt hören wir sie leise und zufrieden knallen. — stop
geraldine wünscht
~ : geraldine
to : louis
subject : GERALDINE WÜNSCHT
Seit zwei Tagen fahren wir sehr langsam im Kreis auf dem Atlantik herum. Ich kann das noch immer nicht glauben. Als ob mein sehnlicher Wunsch, Southampton niemals zu erreichen, in Erfüllung gehen würde. Vielleicht träume ich das alles nur. Oder ich bin in meinem Hoffen so weit gekommen, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen. Irgendjemand sagte, wir würden Schiffbrüchige suchen. Ein Gerücht nehme ich an. Wir Menschen brauchen immer Gerüchte, wenn etwas geschieht, das ungewöhnlich ist. Wir könnten noch Jahre so herumfahren, ich hätte nichts dagegen. Würde an der Reling sitzen und die Farben des Wassers beobachten. Heute ist das Meer von einem hellen Blau, silbern glänzt es, weil uns Fische begleiten, deren Rücken weiß und grün im Licht der Sonne glitzern. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von diesem Wasserlicht, für das ich keine Worte finde. Gestern, Mr. Louis, habe ich meine seidenen Handschuhe getragen hier oben an Deck in der kalten Luft, meine feinen Handschuhe zum Tanzen, Handschuhe, die nur ein Hauch sind, meine Haut schimmerte durchs Gewebe. Natürlich hatte ich noch Fäustlinge darüber gezogen. Als der Stewart kam, – Sie wissen, der junge Mann, von dem ich schon erzählte, – habe ich sie ausgezogen und ihm heimlich meine kleinen Hände dargeboten. Lange habe ich so gestanden und zugesehen, wie er sie betrachtete, ohne sie zu berühren. Meine Knie, Mr. Louis, haben gezittert, weil ich unendlich schwach geworden bin, aber dieser Blick auf meine Hände, dieser Blick, der meine Hände liebte, hatte mir Kraft gegeben und auch das Wünschen und dass wir Southampton niemals erreichen werden. – Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 20.12.2008
22.12 MEZ
yanuk : zeitherz
~ : yanuk le
to : louis
subject : ZEITHERZ
date : nov 24 08 6.32 p.m.
Höhe 310. Beobachte Pflanzen seit drei Tagen. Auch in den Nächten, wenn ich unterm Pfeifen der Moskitos nicht einschlafen kann, warte ich am Rande der Plattform, lasse die Beine baumeln, hoffe, dass der Schwarm schwebender Zwergseerosen sich wieder in Bewegung setzten wird. Lange Stunden der Ruhe, des Stillstandes, stolz zeigen sie ihre weißen, ihre blauen Blüten, schwimmen oder schweben fast reglos auf dem Nebel. Ist dieser Nebel vielleicht schon eine Wolke, bin ich so weit gekommen, dass ich die Wolkendecke durchstoßen habe? Ja, Stunden der Bewegungslosigkeit, nur von einem leichten Windzug gestreichelt, aber dann, sehr plötzlich, schließen sie zur selben Sekunde ihre lockenden Kelche, eine Welle süßen Duftes wandert gegen den Himmel, und es wird so still, als wären all die pfeifenden, singenden, kreischenden Geschöpfe des Waldes betäubt von der schweren Substanz der Pflanzenluft. Habe die Zeit gemessen, habe versucht, einen Rhythmus des Schließens und Öffnens zu finden, vergeblich, vielleicht, weil ich sie Jahre beobachten müsste, um ihre Frequenz zu verstehen. Einmal bin ich zurück in den Nebel getaucht, habe das Wurzelhaar untersucht, filigrane Gefäße, rosafarben, aber keine Verbindung von Pflanze zu Pflanze. Ein Wunder, wie sie das machen, synchron, simultan, als verfügten sie über ein gemeinsames, ein geheimes Herz, das die Zeit zählen kann. – Wieder letzte Minuten vor Dämmerung. Das Rudel der Affen liegt um meine Schreibmaschine herum. Du kannst Dir nicht vorstellen, Mr. Louis, von welch weicher, geschmeidiger Gestalt glückliche Affen sind. Selbst die Knochen ihrer kleinen Köpfe scheinen der Schwerkraft nachzugeben. — Cucurrucu! Yanuk
eingefangen
22.18 UTC
1686 Zeichen
yanuk : medusenfliegen
~ : yanuk le
to : louis
subject : MEDUSEN
date : oct 4 08 8.55 a.m.
Gegen den Abend zu Höhe 286 erreicht. Wollte noch weiter steigen, heftiges Fieber zwang mich zur Ruhe. Zunächst lange Zeit geschlafen, nachdem ich mein Zelt errichtet hatte und vertäut mit dem Stamm des Baumes, der noch immer so kräftig ist, dass zwei oder drei Menschen ihn gemeinsam nicht umarmen könnten. Heute ist mir wohler, obwohl ich noch erhitzt bin. Auf Knien bewege ich mich über die Plattform, weil meine Schritte unsicher sind, habe das Gefühl zu schlingern. Ja, Mr. Louis, so schlafe ich und beobachte dann wieder das Steigen und Sinken der Medusenfliegen, es sind hunderte, vielleicht tausende Handteller große Wesen, deren Schirme langsam um sich kreisen. Und weil sie leuchten, ein zartes, blaues Licht, das pulsiert, das auf die Bewegung meiner Finger reagiert, als würden sie zu mir und mit mir sprechen, wird es nachts an dieser Stelle meiner Reise niemals dunkel. Habe nach langer Beobachtung festgestellt, dass sie miteinander verbunden sind, Fäden, sehr feines Werk, vielleicht freiliegende Neuronen, sodass ich den Schwarm der Medusenfliegen, als ein schwebendes Gehirn beschreiben könnte. Muss das weiter untersuchen. Hast Du schon einmal versucht, einen Fischschwarm zu zählen? Oder eine Vogelwolke? stop. Yanuk
eingefangen
15.58 UTC
1288 Zeichen
mollusken
marimba : 5.12 — Ich zählte Wolken, ein, zwei, drei. Ich lag auf dem Rücken in einem Kinderwagen, der rollte, und ordnete Kissen und Rasseln und einen Himmel, der nah war, sehr nah, zum Greifen nah war er gewesen, weil ich noch nicht stehen und laufen konnte, so wie ich wollte. Kaum konnte ich laufen, zählte ich Schnecken. Ich zählte die Schnecken im Wald, in dem ich spazierte, ich zählte die roten, die nackten, die gelben, die blauen Schneckenmollusken, ich zählte bis zehn, dann lernte ich hundert und zählte so lange ich ging ohne Summe, vorsichtig, weil ich noch klein war und die Schnecken so groß wie meine Schuhe. Dann lag ich wach, ich war verliebt und konnte nicht schlafen und hörte den Regen gegen die Fenster prasseln. Jetzt zählte ich Regen, das Wasser. Ich lernte, wohl weil ich verliebt gewesen war, dass es einen Regen gibt, der gezählt werden kann, und einen anderen Regen, den ich als Rauschen hörte, einen Regen, der zu schnell ist, um je von einem Menschen berechnet zu werden. – Es ist jetzt kurz vor halb sechs. Habe die Knochen der Hand studiert. Noch immer keine Dämmerung. Bald Winter. — stop
vögel
echo : 6.05 — Eine Frau, sehr alt, sitzt in einem verwüsteten Zimmer auf dem Boden. Ihr Gesicht ist verletzt, das linke Auge erblindet, eine tiefblaue, geschwollene Wunde. Dann ist eine Straße zu sehen. Automobile fahren im Schritttempo schwer bepackt nach Norden oder Süden. Ein Hubschrauber der russischen Armee jagt über diese Straße hin, als würde ein Kinofilm gedreht. Ich schalte das Fernsehgerät aus, schließe die Wohnungstür und trete vor das Haus. Vögel pfeifen, immer pfeifen im Sommer Vögel, wenn ich auf die Straße trete, auch gestern, als wollten sie mir etwas sagen. Vielleicht wollten sie sagen, dreh Dich um, setz Dich an Deine Schreibmaschine, denk nach, versuche herauszufinden im Sucher Deines Seamonkeybrowsers, was dort geschieht vor den kaukasischen Bergen. Gestern, nachmittags, habe ich mich also doch auf den Weg gemacht, um in einem Warenhaus ein weißes Hemd zu kaufen. Zwei Stunden später saß ich im Café vor einer Tasse Schokolade und notierte, warum ich wegen ausgedehnter Beobachtungstätigkeit in dem Versuch scheiterte, ein weißes Herrenhemd zu kaufen. — stop