olimambo : 23.52 UTC – Gestern habe ich etwas Seltsames mit mir selbst erlebt. Ich saß am Tisch vor meiner Schreibmaschine, als es plötzlich dunkel wurde in der Wohnung, nur etwas Licht vom Himmel war noch zu erkennen gewesen. Auch war es ganz still geworden, John Coltrane in dem Augenblick verstummt, als sich das Radio ausschaltete, ein Klicken, kaum wahrnehmbar. Nach ein oder zwei Minuten bemerkte ich, dass der Bildschirm meiner Schreibmaschine noch hell ins Zimmer strahlte, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es stockfinster geworden war, eine seltsame Beobachtung, dass ich das Licht der Schreibmaschine nicht als eigentliches Licht wahrgenommen habe. Was, fragte ich mich, würde ich unternehmen, wenn nun nach zwei oder drei Stunden meine Schreibmaschine sich erschöpft ausschalten würde, wie mein Radio sich ausgeschaltet hatte. Nehmen wir einmal an, dachte ich, es wird dunkel bleiben und still für Monate oder Jahre, wäre ich in der Lage, mich an meine Gedanken, an meine Geschichten, die sich in der Schreibmaschine noch immer aufhalten werden, aber nicht lesbar sein würden, erinnern? Tatsächlich überlegte ich bald, ob es möglich wäre, mit Gegenständen, die sich in meinem Besitz befinden, Strom zu erzeugen. Wie lange Zeit müsste ich eine Handkurbel drehen, um kurz darauf für eine Stunde Zeit, Texte auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine lesen zu können. — Kurz vor Mitternacht. Agenturen melden, dass Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern im Transferbereiches des New Yorker John F. Kennedy Airport gestrandet, das heißt, festgehalten sind. — stop
Aus der Wörtersammlung: eiche
eine schreibmaschine
sierra : 6.14 UTC — Ich hörte von der Existenz einer mechanischen Schreibmaschine, die nicht größer sein soll als ein Stück Würfelzucker. Würde man diese kleine Schreibmaschine mit bloßem Auge betrachten, würde man vermutlich sagen, das könnte der Form nach eine Schreibmaschine sein. Sie verfügt über Tasten, wie bei einer gewöhnlichen Schreibmaschine sowie eine Walze, die Papiere zu transportieren vermag, auch über ein Farbband von Haaresbreite, und über Hämmerchen, an deren Enden Plättchen befestigt sind, auf welchen sich Zeichen befinden, die wir kennen. Wie, fragte ich mich, soll diese Schreibmaschine nur zu bedienen sein, wenn sie doch so klein ist, dass sie von einem menschlichen Finger ganz und gar zerdrückt werden könnte, oder verbogen, sodass sie nie wieder schreiben würde. Und überhaupt, wer hat diese Apparatur aus welchem Grunde in jener seltsamen Größe montiert? Man könnte mit ihrer Hilfe vielleicht in der Art und Weise Jack Kerouacs einen Text verfassen, könnte demzufolge einen sehr langen Text auf eine Luftschlange notieren, wenn man nur in der Lage wäre, die Tasten der Schreibmaschine in äußerst zärtlicher Art und Weise anzuschlagen. Eine Lupe scheint unverzichtbar. — stop
marin
ginkgo : 15.05 UTC – Ein Botschafter soll kurz vor der Erstürmung seiner Dependance Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen haben, Dokumente, insbesondere papierene Dokumente, zu verbrennen oder mittels moderner Zerkleinerungsgeräte aus ihren natürlichen Zusammenhängen zu reißen. Nun ist gleichwohl denkbar, dass Menschen, deren Arbeiten ausschließlich als digitale Substanz gespeichert wurden, kurz vor einem drohenden dauerhaften Ausfall öffentlicher Stromversorgung, den starken Wunsch verspüren, ihre digitalen Dokumente auf Papier zu drucken, um sie in schweren Koffern mit sich auf eine Fluchtreise in die Wildnis nehmen zu können. Ich überlege ernsthaft, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, eine Mappe anzulegen, in welcher sich wirkliche Papiere befinden, Aufsätze, Briefe, Notizen, die in der Gegenwart nur lesbar sind, solange ich über elektrische Grundversorgung verfüge. — Das wundervolle marineblaue Licht des Schnees in der Dämmerung. — stop
drei brillen
delta : 3.32 — Leichter Schneefall, ohne Wind, schaukelnde Lichtpelzfetzen. Eichhörnchen jagen über die Straße hin und her, als freuten sie sich. Gegen zwei Uhr notiere ich eine E‑Mail an Moses Fernandez, von dem ich hörte, dass er in einem Haus nahe Pinamar bei Buenos Aires leben soll. Lieber Moses, Lilli, die sie persönlich kennenlernten in diesem Sommer, erzählte, dass sie eine Maschine entwickelt haben, die in der Lage sein soll, winzige, für menschliche Augen nicht entzifferbare Schriftzeichen zu notieren. Ich würde sehr gerne eine Schriftprobe in Auftrag geben. Würden Sie mir bitte einen kurzen Text, den ich im Anschluss an Sie senden werde, in nicht lesbare Größe transferieren. Ich verfüge über ein Mikroskop, um die Qualität ihrer Arbeit prüfen zu können. Wenn möglich, senden Sie das Schriftstück bitte auf dem Luftpostwege an folgende Adresse: Louis 8711 Kvarøy Sjøhus Norway. Mit bestem Dank im Voraus verbleibe ich mit herzlichen Grüßen: Ihr Louis /// Textprobe no1: go > 17.03 — Heute Morgen, war noch dunkel im Haus, hörte ich ein sirrendes Geräusch. Das Geräusch näherte sich über die Treppe abwärts. Zunächst war nichts zu sehen, dann aber eine der Brillen meiner Mutter, die seit dem Vorabend über zarte Rotoren verfügen, welche in der Lage sind, Brillenkonstruktionen bis zu einem Gewicht von 80 Gramm in die Luft zu heben, sie vorwärtszubewegen oder rückwärts durch Räume oder den Garten. Langsam durchquerte die Brille den Raum, kreiste einmal um meinen Kopf, und landete schließlich sanft auf dem Esstisch in der Nähe des Stuhles, auf dem meine Mutter sitzt, sobald sie ihr Frühstück zu sich nehmen möchte. Über drei Brillen verfügt meine Mutter, und jede dieser Brillen kann nun fliegen. Eine Brille wurde im Dachgeschoss stationiert, eine weitere Brille im Erdgeschoss, die dritte zu ebener Erde. Wenn nun Morgen werden wird, zu einer Zeit, da fast alle Menschen noch schlafen, erwachen vor den Vögeln bereits die Brillen meiner Mutter. Sie beginnen zu blinken, Dioden in gelber Farbe, Zeichen, dass sie sich mittels Funksignalen orientieren. Bald fliegen sie los, die Dachgeschossbrille ins Dachgeschoss, die Brille der ersten Etage in die erste Etage, die Brille des Erdgeschosses ins Erdgeschoss. Das Suchen hat ein Ende, alles wird gut! — stop ///
passport
echo : 5.05 — Ob ich etwas tatsächlich weiß, ist nicht bedeutend. Wirklich bedeutend ist, ob ein elektronisches System, das sich meiner Zeichen bemächtigt haben könnte, annimmt, dass ich von etwas oder jemandem Kenntnis habe, das oder der als geheim, beziehungsweise gefährlich zertifiziert werden müsste. Vor Jahren, auch heute, immer wieder die Frage: Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? Wie genau würde ich mich verhalten, wenn man versuchte, mich für Spionagearbeit unter Freunden zu gewinnen? Ich bin in der Suche nach einer Antwort noch keinen Schritt vorangekommen. Stattdessen weitere Fragen. Welcher Art könnten die Werkzeuge sein, Druck auf mich auszuüben? Würde mir Tortur angekündigt oder nahestehende Menschen mit dem Tod bedroht? Existieren Orte meiner Persönlichkeit, die sich als so schwach erweisen, dass man dort Zugang finden könnte? Habe ich einen geheimen Preis? Meine Schreibmaschine? Meinen Reisepass? — stop
über grönland
sierra : 0.25 — Plötzlich, wir flogen gerade über Grönland dahin, wurde das Mädchen wach mitten in der Nacht während eines Fluges gegen die Zeitrichtung von Ost nach West. Als wir in New York starteten, beinahe dunkel, oben, in großer Höhe über Boston wurde es etwas heller, Himmelsfarben von zartem Blau und orangefarbenen Tönen, die sich während des Nachtfluges kaum veränderten. Rauschende Stille unter dem Kabinendach, das sich über schlafenden Menschen wölbte, da und dort leuchtete der Bildschirm eines Computers oder eines Telefons im Dämmerlicht. Es war kühl geworden, vielleicht deshalb, weil es kühl geworden war, wachte das Mädchen auf. Das Mädchen war eine Japanerin, ungefähr sechzehn Jahre alt, zierlich, sie schien sehr routiniert im Fliegen zu sein, reckte sich, sah kurz zu mir hin, sah, dass ich eine Decke ausgebreitet hatte über meinen Beinen, fischte selbst eine Decke unter ihrem Sitz hervor, breitete sie über ihren Schoß, holte ein Handy aus ihrer Handtasche, die seltsam schillerte, als würde sie aus Flüssigkeit bestehen, und begann sofort zu schreiben. Das war eine seltsame Art und Weise zu schreiben, wie das Mädchen schrieb. Eine Hand, ihre linke Hand, hielt sie unter der Decke verborgen, in der rechten Hand ruhte das Telefon wie ein kleiner Vogel rücklings, so dass sein Telefonbauch sichtbar wurde, eine Tastatur, über welche nun ein Daumen in einer Geschwindigkeit hüpfte, dass ich meinen Blick nicht lösen konnte. Sie schrieb sehr lange Zeit, notierte WhatsApp — Nachrichten an Personen, deren Avatare ich gut, deren Zeichen ich unmöglich zu lesen vermochte, an Menschen oder Computer, die ihr unverzüglich antworteten, so dass sie von einem Dialog in einen anderen hüpfte, indessen sie ihrerseits beobachtete, wie ich meinerseits ihren Daumen beobachtete, was sie nicht weiter zu stören schien, vielleicht weil ihr gefiel, dass ich ihre Geschicklichkeit bestaunte, oder auch weil sie fand, dass sie über einen hübschen Daumen verfügte. Ihr Daumen war klein, dachte ich noch, weil er einer winzigen Japanerin gehörte, die in der Zeit, da sie neben mir saß, keinen Laut von sich gab. Ihren notierenden Daumen beobachtend, schlief ich schließlich ein. Als ich erwachte, war auch das Mädchen wieder eingeschlafen. Sie lag unter der Decke, die sie bis zu ihren Schultern hochgezogen hatte, ihre Hände waren vermutlich vor der Brust gekreuzt, genau dort bewegte sich etwas, hüpfte. Das war über Irland gewesen. Struktur eines neuen Jahrtausends. — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um eine weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zurzeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop
beobachtung
ulysses : 6.12 — Während ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book las, bemerkte ich, dass ein Computer , vermutlich von Nordamerika aus verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde, um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist der 16. Oktober, leichter Regen. — stop
kalkutta
delta : 5.02 — Ein Brief, 12.5 Gramm schwer, den ich vor zwei Jahren als Sonde per Luftpost nach Kalkutta schickte, ist gestern zu mir zurückgekommen. Irgendwann während der vergangenen Monate muss ich ihn doch tatsächlich vergessen haben. Jetzt, da der Brief vor mir auf dem Schreibtisch liegt, erinnere ich mich präzise, dass ich ihn an ein zweistöckiges Haus in einer Straße adressierte, die sich nicht in unserer Wirklichkeit befindet. Da in Kalkutta zahlreiche straßenlose Häuser existieren sollen, stellte ich mir vor, ein Briefträger habe sich in dem Wunsch, meinen Brief erfolgreich zustellen zu können, ein Haus ausgedacht, das an einer Straße liegt, die tatsächlich existiert, oder eine Straße, die nicht existiert für ein Haus, in dem ein Mann namens Sini Shapiro lebt. Spuren, die ich auf dem Kuvert des Briefes entdeckte, erzählen von drei oder vier Versuchen, das Schriftstück an Mr. Shapiro auszuhändigen, so finden sich auf der Ansichtsseite des Briefes die Stempelmotive Adresse insuffisante (Anschrift unvollständig) sowie Pas de boîte à ce nom (Kein Namensschild), auf der Rückseite indessen unlesbare handschriftliche Zeichen, die mit Füllfeder oder Bleistift aufgetragen worden waren. Möglicherweise lagerte mein Brief zwei Jahre lang auf einem Schreibtisch in Kalkutta unter weiteren Briefen, die nicht zustellbar waren. Möglicherweise, auch das ist denkbar, wurde von Zeit zu Zeit ein postalischer Späher in die Stadt entsandt, um nachzusehen, ob das Haus oder die Straße, die kurz zuvor noch nicht existierten, nun doch zu finden waren. Kürzlich wurde dann jeder weitere Zustellungsversuch aufgegeben. Ja, das ist denkbar. Ich werde meinen weit gereisten Brief sorgfältig verwahren. Sicher ist: Mr. Sini Shapiro existiert tatsächlich. Er lebt in Manhattan in einem Haus an der Park Avenue Höhe 70. St., er liebt Brooklyn. — stop
indien
olimambo : 6.58 — Ein Freund rief an, er legte sofort los, erzählte dies und das, von einem Eichhörnchen beispielsweise, das in seinem Garten lebt, von einer Cousine, die sich das Bein brach im Gebirge, von der Hitze des Sommers, die seinen Kühlschrank killte, während er in Indien weilte. Eine Stunde lang berichtete mein Freund von seiner indischen Reise, von hölzernen Zügen, von offenen Feuern in der Landschaft, von Farben, die nur in Indien wirklich zu Hause sein würden. Plötzlich wusste er nicht weiter. Er fragte, wie er auf Indien eigentlich gekommen sei, er konnte sich an die Weiche, die ihn erzählend nach Indien führte, nicht erinnern. Er machte eine Pause, vielleicht weil er schweigend konzentrierter nachdenken konnte, dann legte er grußlos auf. Nach einer halben Stunde meldete er sich wieder zurück: Es war der Kühlschrank! Sofort reisten wir weiter fort in Richtung Darjeeling. Es war spät geworden und es regnete. — stop