Aus der Wörtersammlung: einmal

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caravelle

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romeo : 0.02 — Ich über­leg­te, ob ich, wenn ich bei wol­ken­lo­sem Him­mel in 33000 Fuß Höhe befind­lich aus einem Flug­zeug­fens­ter spä­hen wür­de, ein Schiff erken­nen könn­te, ein Schiff von der Grö­ße der Queen Mary sagen wir, einen Luxus­damp­fer, der zur Zeit mei­ner Geburt noch regel­mä­ßig zwi­schen New York und Sout­hamp­ton über den Atlan­tik hin und her gepen­delt war. Ich stell­te mir zunächst einen Berg vor von ent­spre­chen­der Höhe, einen Berg, der Him­mel und Flug­zeug berühr­te, kurz dar­auf ein Schiff. Und ich ahn­te sehr bald, dass ich das Schiff wohl eher nicht, ver­mut­lich aber die ihm fol­gen­de Spur im Was­ser erken­nen wür­de, Wel­len und Wir­bel von Luft. Eine jun­ge Frau, so unsicht­bar wie das Schiff, an des­sen Heck sie steht, betrach­tet die Spur, die das Schiff im Was­ser hin­ter­lässt. Ein­mal wir­belt eine Bö ihren Hut durch die Luft. Sie schaut zum Him­mel. Ein Blit­zen viel­leicht. Ten-four. Char­lie. Char­lie. Kurz nach Mit­ter­nacht. Klir­ren­de Kälte.
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engelgeschichte für geraldine

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del­ta : 0.03 — Vor lan­ger Zeit habe ich eine klei­ne Geschich­te geschrie­ben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen war­um, ich habe die­se Geschich­te bereits zwei­mal aus dem Licht der Öffent­lich­keit zurück­ge­zo­gen, sie aber nie gelöscht. Als ich ges­tern nun über die Kind­heit eines Mäd­chens nach­dach­te, das in einer vor­neh­men Gegend Man­hat­tans auf­ge­wach­sen ist, fiel mir die Geschich­te wie­der ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich wer­de sie jetzt für Geral­di­ne an die­ser Stel­le end­gül­tig notie­ren. Lie­be Geral­di­ne, wo auch immer Du sein magst, die­se fol­gen­de Geschich­te gehört Dir. Hör zu : Ein­mal, immer nur ein­mal im Jahr, kom­men die Engel der Stadt New York in einer Kir­che zur gro­ßen Ver­samm­lung geflo­gen. Die stei­ner­nen Engel kom­men von den Fried­hö­fen her, die höl­zer­nen Engel aus den Gar­ten­lau­ben, kost­ba­re Por­zel­la­nen­gel öff­nen ihre Vitri­nen und segeln über den Hud­son durch die küh­le Abend­luft. Auch von den Tape­ten stei­gen Engel auf, ver­las­sen ihre Post­kar­ten­zim­mer, Bücher und Zei­len, in wel­chen sie ver­merkt wor­den sind Zei­chen für Zei­chen. Sie stei­gen aus den Träu­men der Kin­der, der Müt­ter, der Väter, wie Men­schen aus Stra­ßen­bah­nen stei­gen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwin­gen füh­len, wer­fen sie ihre Gold­staub­män­tel von den Schul­tern, sprin­gen aus Bade­wan­nen, stark schon unterm Was­ser geschmol­zen, löschen das Licht, das auf ihren Köp­fen fla­ckert, umflat­tern noch ein­mal kurz die Häup­ter der stei­ner­nen Mari­en, auf deren Hän­den sie um ein wei­te­res Jahr geal­tert sind. Es ist kaum rich­tig Nacht gewor­den, da kann man es in den Kel­lern schon äch­zen hören, wenn sie sich mit ver­ein­ten Kräf­ten gegen die schwe­ren Deckel der Tru­hen stem­men, in denen sie auf­ge­ho­ben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezem­ber in Man­hat­tan, Queens oder Brook­lyn am rich­ti­gen Tag zur rich­ti­gen Stun­de vor einen Engel set­zen. Sobald es dun­kel gewor­den ist, setzt man sich hin und war­tet. Man war­tet nicht lan­ge, man war­tet eine Stun­de oder zwei und plötz­lich ist der Engel fort geflo­gen. Nach Süden ist er geflo­gen, oder nach Nor­den, auf kür­zes­tem Weg vor­bei an beben­den Vögeln zur größ­ten Kir­che der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Über­all sit­zen sie inzwi­schen bis unter die Gewöl­be, auf der Kan­zel, den Bet­stüh­len, den hei­li­gen Figu­ren, auch auf den Mosai­ken des Bodens, den Chö­ren, dem Altar, den Ver­stre­bun­gen der Kreu­ze, den Kno­chen­fi­gu­ren, ja, auf Chris­tus selbst haben sie Platz genom­men. Sie sind alle sehr leicht. Im Grun­de wie­gen sie nichts. Sie sind von der Schwe­re eines Wun­sches und spre­chen in einer von kei­nem For­scher erschlos­se­nen Spra­che. Fröh­li­che Engel­ge­stal­ten, jawohl. Sie lachen das Lachen der Engel, wie tol­le Fle­der­mäu­se lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mit­ter­nacht ist’s gewor­den, kommt einer der drei gro­ßen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, ist auf­ge­hal­ten wor­den im Auf­trag befind­lich, ein­mal ist es Gabri­el, dann Rapha­el, dann Micha­el. Sehr lang­sam, ein Künst­ler des Flie­gens, schwebt er her­ein, nimmt Platz auf den Stu­fen, schlägt die Bei­ne über­ein­an­der und leuch­tet. Ruhig sieht er unter die Ver­samm­lung, wäh­rend er sei­ne gewal­ti­gen Schwin­gen hin­ter dem Rücken fal­tet. Jetzt wer­den die klei­nen Engel andäch­tig und still. Ver­ein­zelt kommt noch ein ver­gess­li­cher Kund­schaf­ter durchs Kir­chen­schiff gerast, da und dort tru­delt ein betrun­ke­nes Feder­we­sen von höhe­rer Stel­le. Ist dann alles schön geord­net, erhebt der Erz­engel sei­ne Stim­me. Es ist ein Sin­gen, ein wun­der­ba­rer Alt­so­pran, eine uner­hört schö­ne Spra­che. Er sagt: Guten Abend, Engel.
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grüne schuhe

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lima : 22.02 — Beob­ach­tung des New Yor­ker Poli­zei­funks. Schep­pern­de Stim­men, als wür­de man Trans­pa­rent­pa­pier beatmen, Spra­che von Zah­len, von Codes. Ab und zu Pas­sa­gen, die Geschich­ten erzäh­len. Eine laut­hals sin­gen­de Frau im Cen­tral Park, Höhe Dako­ta Buil­ding, sie kehrt als Spur, als Wör­ter­in­sel immer wie­der zurück, man ver­mu­tet, dass sie viel­leicht ver­rückt sein könn­te. Die Frau ist etwa 50 Jah­re alt, trägt grü­ne Schu­he, Blue Jeans, eine beige Jacke und läuft im Kreis her­um. Ein­mal will man ihre Papie­re über­prü­fen und da hör­te ich im Rau­schen des Äthers tat­säch­lich eine hell­schim­mern­de Stimme.
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segelohren

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whis­key : 23.33 — Manch­mal, wenn ich nach Wör­tern, Sät­zen, Aus­we­gen suchend durch mei­ne klei­ne Woh­nung spa­zie­re, glau­be ich, auf einem Boden zu han­deln, der nicht fest ist, der schwankt, der schlin­gert. Ich gehe dann sofort anders­her­um, die­sel­be Stre­cke oder ein­mal kurz aus dem Haus rüber zum See, der in die­sen Tagen längst zuge­fro­ren sein müss­te. Das hilft gegen See­krank­heit auf dem Nacht­schiff und alle wei­te­ren Din­ge. — Kurz vor Mit­ter­nacht. Ruhi­ge, ent­spann­te Arbeits­stun­den ste­hen bevor. Ich hat­te seit dem frü­hen Abend eine Fra­ge in mei­nem Kopf solan­ge ver­geb­lich hin und her bewegt, dass ich sie nun guten Gewis­sens zur Sei­te legen kann. Sie wird wie­der­kom­men. Ich ver­such­te näm­lich zu ver­ste­hen, wes­halb Barak Oba­ma auf den Ein­satz der Land­mi­nen­waf­fen, die ins­be­son­de­re  gegen zivi­le Men­schen wir­ken, nicht ver­zich­ten will oder kann. In die­sen Momen­ten der Irri­ta­ti­on, wie­der die Ansicht, wie viel ich nicht weiß, eine Ahnung, die sich nur schwer wei­ter­den­ken lässt. Aber die Her­zen der Tief­see­ele­fan­ten sind mir bekannt, sind ver­traut, kom­men näher und näher, wie ihre Ohren, phan­tas­ti­sche Haut­se­gel­flä­chen, die sie sanft über den san­di­gen Boden des Atlan­tiks tra­gen. – Gute Nacht!

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regenschirmtiere vol.2

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tan­go : 22.28 — Seit eini­gen Tagen den­ke ich, sobald ich lese, begeis­tert an Neu­ro­ne, Syn­ap­sen, Axo­ne, weil ich hör­te, dass ich mit­tels Gedan­ken, die Ana­to­mie mei­nes Gehirns zu gestal­ten ver­mag. Vor­hin, zum Bei­spiel, ich folg­te der Ankunft eines Schif­fes in New York im Jah­re 1867, über­leg­te ich, was nun eigent­lich geschieht in die­sem Moment der Lek­tü­re dort oben hin­ter mei­nen lesen­den Augen, ob man ver­zeich­nen könn­te, wie für das Wort M a r y, das in dem Buch immer wie­der auf­ge­ru­fen wird, fri­sche Fäd­chen gezo­gen wer­den, indem sich das Wort nach und nach mit einer unheim­li­chen Geschich­te ver­bin­det. Oder der Regen, der Regen, was geschieht, wenn ich schla­fend, Stun­de um Stun­de, Geräu­sche fal­len­den Was­sers ver­neh­me? In der ver­gan­ge­nen Nacht jeden­falls habe ich wie­der ein­mal von Regen­schirm­tie­ren geträumt, sie schei­nen sich fest ein­ge­schrie­ben zu haben in mei­nen Kopf, viel­leicht des­halb, weil ich sie schon ein­mal nacht­wärts gedacht und einen klei­nen Text notiert hat­te, der wie­der­um in mei­nem Gehirn zu einem blei­ben­den Schat­ten gewor­den ist. Natür­lich besuch­te ich mei­nen Schat­ten­text und erkann­te ihn wie­der. Trotz­dem das Gefühl, Gedan­ken einer fer­nen Per­son wahr­ge­nom­men zu haben. Die Geschich­te geht so: Von Regen­schirm­tie­ren geträumt. Die Luft im Traum war hell vom Was­ser, und ich wun­der­te mich, wie ich so durch die Stadt ging, bei­de Hän­de frei, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spa­zier­te. Als ich an einer Ampel war­ten muss­te, betrach­te­te ich mei­nen Regen­schirm genau­er und ich staun­te, nie zuvor hat­te ich eine Erfin­dung die­ser Art zu Gesicht bekom­men. Ich konn­te dunk­le Haut erken­nen, die zwi­schen bleich schim­mern­den Kno­chen auf­ge­spannt war, Haut, ja, die Flug­haut der Abend­seg­ler. Sie war durch­blu­tet und so dünn, dass die Rinn­sa­le des abflie­ßen­den Regens deut­lich zu sehen waren. In jener Minu­te, da ich mei­nen Schirm betrach­te­te, hat­te ich den Ein­druck, er wür­de sich mit einem wei­te­ren Schirm unter­hal­ten, der sich in nächs­ter Nähe befand. Er voll­zog leicht schau­keln­de Bewe­gun­gen in einem Rhyth­mus, der dem Rhyth­mus des Nach­bar­schirms ähnel­te. Dann wach­te ich auf. Es reg­ne­te noch immer. Jetzt sit­ze ich seit bald einer hal­ben Stun­de mit einer Tas­se Kaf­fee vor mei­nem Schreib­tisch und über­le­ge, wie mein geträum­ter Regen­schirm sich in der Luft hal­ten konn­te. Ob er wohl über Augen ver­füg­te und über ein Gehirn viel­leicht und wo genau moch­te die­ses Gehirn in der Ana­to­mie des schwe­ben­den Schirms sich auf­ge­hal­ten haben. — stop
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echo

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echo : 0.15 — Fol­gen­des. Wenn Sie die­se hin und her gefal­te­te Zei­le lesen und immer wei­ter lesen, wer­den Sie einer klei­nen Geschich­te begeg­nen, die ich in der ver­gan­ge­nen Woche bereits notier­te und gesen­det habe. Eine Foto­gra­fie war damals hin­zu­ge­fügt, und weil ich sehr müde gewe­sen war, leg­te ich mich schla­fen, um zwei oder drei Stun­den spä­ter mit dem Gedan­ken wach zu wer­den: Nein, Lou­is, nein! Das ist kein guter Text, den Du da gesen­det hast! Ich has­te­te also zum Schreib­tisch und lösch­te den Text, und auch die Foto­gra­fie, und schlief sofort sehr zufrie­den wie­der ein. Kaum eine Stun­de ist ver­gan­gen, seit ich den Text noch ein­mal gele­sen habe. Ich wun­der­te mich, weil mich die Geschich­te nun doch berühr­te, und ich ahne sehr gründ­lich, war­um das so ist. Hier also ist mei­ne klei­ne gelösch­te Geschich­te ohne Foto­gra­fie, eine Geschich­te, die von einem Spa­zier­gang erzählt, der mich über einen Nacht­flug­ha­fen führ­te. Still war die Zeit, über­all in den Hal­len und auf den Flu­ren lagen schla­fen­de Men­schen her­um. In einem beson­ders gro­ßen Saal aber schau­kel­ten zwei Män­ner durch Luft, die Glüh­birn­chen in Fas­sun­gen schraub­ten, um weih­nacht­li­che Stim­mung zu erzeu­gen. Bei­de waren sie gut gelaunt, mach­ten Spä­ße und erzähl­ten sich laut­hals irgend­wel­che Geschich­ten, sie hat­ten ganz ohne Zwei­fel viel Freu­de mit ihrer Arbeit unter dem glä­ser­nen Gewöl­be an Sei­len hän­gend. Ein­mal kamen sie auf den Erd­bo­den zurück. Sie stan­den etwas unsi­cher auf den Bei­nen und flat­ter­ten mit ihren Armen. Als ich mich erkun­dig­te, ob ihnen viel­leicht schon irgend­wann eine Glüh­lam­pe von der Decke gefal­len und zer­bro­chen sei, ant­wor­te­te einer der Män­ner: Nein! Nie­mals! Ich mach­te dann eine Auf­nah­me, merk­wür­dig, die­ser Moment, da sie zur Flug­ha­fen­schwe­be­bahn schlen­der­ten. Denn genau in dem Augen­blick, als ich den Aus­lö­ser der Kame­ra drück­te, war ich mir sicher gewe­sen, dass die zwei Män­ner in ihren blau­en Anzü­gen auf mei­ner Foto­gra­fie spä­ter nicht zu sehen sein wür­den. – So, das war mei­ne Geschich­te, die in der ver­gan­ge­nen Woche ver­schwand. Jetzt ist sie wie­der da und wird ver­mut­lich blei­ben. Kurz nach Mit­ter­nacht. Ich tra­ge das schö­ne Wort Gan­dhi­neu­ron in mei­nem Kopf.
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central park

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tan­go : 0.10 – Man lässt sich abends trei­ben, sitzt mit Schreib­ma­schi­ne auf dem Sofa, schaut Regen zu, liest da einen Satz und dort einen Satz, und war­tet dar­auf, dass sich der Kopf end­lich ent­fal­ten möge. — Ein­mal such­te ich nach Spu­ren zwei­er Eich­hörn­chen, nach Bil­ly, nach Fran­kie, und lan­de­te im Cen­tral Park im Win­ter und zwar im Jah­re 1902. Genau genom­men lan­de­te ich in einem magi­schen Film, der von Mit­ar­bei­tern der Tho­mas Alpha Edi­son Inc. bei Eis und Schnee auf­ge­nom­men wor­den war. Ich stell­te mir vor, wie die Käl­te das Öl der Kame­ra­kur­bel fes­ter wer­den ließ, so dass ein Pfei­fen zu hören gewe­sen sein könn­te und der Kame­ra­mann frös­tel­te. Ja, so genau muss das gewe­sen sein, wes­we­gen der klei­ne Film, fest­ge­hal­ten in einer Zeit lan­ge vor mei­ner Zeit, auch heu­te noch zu beben scheint. Ich muss ihn noch fin­den. — stop

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01001010

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echo : 0.02 — Eine Foto­gra­fie, die ich lan­ge Zeit ver­geb­lich wie­der­zu­fin­den such­te, zeigt die Raum­sta­ti­on MIR in gro­ßer Höhe über der Erde schwe­bend. Ich kann mich noch gut an das far­bi­ge Bild erin­nern, viel­leicht des­halb, weil ich mich die Auf­nah­me tage­lang berühr­te. Ein Bull­au­ge, dort das Gesicht einer Frau, deren Namen ich ver­ges­sen habe, ein erns­tes Gesicht, Ahnung, Schat­ten, Züge einer rus­si­schen Kos­mo­nau­tin, die Mona­te allei­ne auf der MIR-Sta­ti­on leb­te. Sie beob­ach­tet die äußerst behut­sa­me Annä­he­rung eines Raum­schif­fes der NASA, in dem sich Men­schen befin­den, die mit­tels Funk ver­mut­lich bereits Kon­takt auf­ge­nom­men haben: Wir sehen Dich! — Da war das tie­fe Schwarz des Welt­alls im Hin­ter­grund, ein abso­lut töd­lich wir­ken­der Raum, der sich zwi­schen den bei­den Raum­kör­pern erstreck­te. Immer wie­der ein­mal in den ver­gan­ge­nen Jah­ren habe ich mich an das Gesicht der Kos­mo­nau­tin erin­nert, eine Iko­ne mensch­li­cher Ver­lo­ren­heit, und ins­ge­heim wei­ter gezeich­net.
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napapiin

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india : 6.22 — Schau­te gegen den Him­mel. Bemerk­te, dass sich die Dun­kel­heit wie eine Flüs­sig­keit ver­hielt. Vögel hüpf­ten in die­ser feuch­ten Licht­lo­sig­keit in Kas­ta­ni­en­bäu­men von Ast zu Ast, ein traum­ar­ti­ges Bild. Viel­leicht habe ich etwas gese­hen, das ich nur des­halb beob­ach­ten konn­te, weil ich ohne jeden Grund auf der Stra­ße stand, wie aus einem Ver­se­hen her­aus, ein Mann, der die fal­sche Tür genom­men hat­te. Jetzt, etwas spä­ter, ahne ich, dass ich dort vor dem Haus gelan­det war, weil ich ins­ge­heim wünsch­te, mit mei­nen Gedan­ken an den gewalt­sa­men Tod eines Tor­hü­ters, unter frei­em Him­mel zu ste­hen. Und wie ich so war­te­te, hör­te ich die Stim­me sei­ner muti­gen, jun­gen Frau in mei­nem Kopf, eine Stim­me, die ver­such­te, von all dem Wahn­sinn, dem Wahn­sinn des Ver­heim­li­chens zu spre­chen. Da war ein­mal ein Mensch gewe­sen, der nicht wei­ter­le­ben konn­te, der ster­ben muss­te, weil er sei­ne Ver­letz­lich­keit, sei­ne Schwä­che, sei­ne Mensch­lich­keit nicht zei­gen durf­te oder glaub­te, sie nicht zei­gen zu dür­fen. So könn­te das gewe­sen sein. Ein Mensch, der lan­ge Zeit über Was­ser has­te­te. So weit ist er gelau­fen, dass kein Land mehr zu sehen, kein Laut mehr zu hören gewe­sen war. — 2 Uhr und fünf­zehn Minu­ten. Die Welt dreht sich, um einen Atem­zug lang­sa­mer gewor­den, wei­ter, immer wei­ter. Soeben wur­de amt­li­cher­seits die Öff­nung fol­gen­der Weih­nachts­post­äm­ter, nörd­li­che Hemi­sphä­re, bekannt­ge­ge­ben: Nord­pol-Grön­land San­ta Claus Nord­po­len, Jule­man­dens Post­kon­tor DK-3900 Nuuk / Finn­land Santa’s Main Post Office FIN-96930 Napa­pi­in / USA San­ta Claus India­na 47579.
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dorothy parker

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india : 23.12 — Ein selt­sa­mer Traum. Als ich erwach­te, stol­per­te ich unver­züg­lich zum Schreib­tisch und notier­te: Mit Doro­thy Par­ker spa­ziert. Manch­mal fra­ge ich mich, wie mei­ne Träu­me ent­ste­hen, wie ich dazu kom­me, mir Geschich­ten zu erzäh­len, die von kos­mi­scher Fer­ne sind, obwohl ich doch selbst in ihnen ent­hal­ten bin. Vor dem Hotel im Traum, 37. Stra­ße West, war­te­te eine uralte, strah­lend schö­ne Frau, die nach mei­nem rech­ten Arm ver­lang­te, ohne ein Wort zu spre­chen, eine geschmei­di­ge, eine unwi­der­steh­lich rei­zen­de Ges­te, und schon waren wir auf dem Weg dem Süden zu. Win­ter­zeit, die Stra­ßen dampf­ten. Schwei­gend gin­gen wir neben­ein­an­der her. Die alte Frau trug einen schwe­ren, dunk­len Pelz­man­tel, fei­ne Leder­hand­schu­he von wei­ßer Far­be und einen roten Hut, auf den ich her­ab­se­hen konn­te, weil die Gestalt an mei­ner Sei­te sehr zier­lich gewe­sen war. Ich kann mich nicht erin­nern, wer nun wen durch Man­hat­tan führ­te, jeden­falls pas­sier­ten wir den Broad­way, die Bowery, die Brook­lyn­bridge. Wir muss­ten lan­ge Zeit unter­wegs gewe­sen sein, weil Mrs. Doro­thy Par­ker, die sich selbst im Traum nicht zu erken­nen gab, sehr, sehr lang­sam ging. Ein­mal hob ich sie hoch und trug sie eine Wei­le und sie schlief in mei­nen Armen ein. Dann erreich­ten wir den Pro­s­pect Park, eine Gegend, die mir bekannt zu sein schien. Da war eine Kreu­zung. Und da war Har­vey Kei­tel, der foto­gra­fier­te. Er kam auf mich zu und betrach­te­te das Gesicht der alten Frau und lächel­te und erkun­dig­te sich, ob ich denn wüss­te, wen ich da in den Armen hal­ten wür­de. — Und jetzt ist wie­der Nacht gewor­den und ich habe gute, sehr gute Lau­ne und fun­ken­de Lust traum­wärts wei­ter­zu­er­zäh­len. Wie nur kom­me ich über den Atlan­tik hin­weg genau an den Ort mei­ner klei­nen Schlaf­ge­schich­te zurück?
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