romeo : 15.12 UTC — Da war eine Straße, auf der sich dicht an dicht Panzerfahrzeuge reihten. Von weit oben her, aus dem Weltraum betrachtet, mochte man meinen, jene Panzerameisen, die sich über eine Straße hin bewegen, würden doch nicht sehr gefährlich sein. Aber jene Gegenstände oder Wesen, auf die die Panzerameisen schießen, sind noch kleiner, sie wären auf Weltraumbildern kaum noch sichtbar. Es ist schwer Größenverhältnisse zu verstehen in kriegerischen Wirklichkeiten. Und Feuerbälle. Und überhaupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Panzer auf einen Radfahrer. Auch dies wurde von oben her betrachtet, aus geringerer Höhe. Der Radfahrer hörte vollständig auf zu existieren in Bruchteilen einer Sekunde. — stop
Aus der Wörtersammlung: ereignisse
geräusche
ginkgo : 17.15 UTC — Es ist Nachmittag. Ich sitze vor dem Fenster nach Süden, ich sitze derart vor dem Fenster auf dem warmen Boden, dass ich den Himmel sehe, Wolken, nichts weiter, nicht, was darunter sich versammelt, Häuser, Türme, Kronen zahlreicher Bäume, Eichhörnchen, Automobile, Menschen. Ich höre eine Straßenbahn kommen, ich höre, wie sie anhält, ich höre Stimmen, ich höre, wie sich die Straßenbahn langsam in Bewegung setzt, wie sie beschleunigt, wie sie eine Weiche nimmt. Die Straßenbahn scheppert und ächzt. Ungezählte Male schepperte und ächzte eine Straßenbahn an diesem Ort. Kinderrufen. Eine Hupe, ein Martinshorn. Ich höre nicht sichtbaren Ereignissen zu. Vögel singen in diesem Augenblick, singen in meiner Vorstellung, das ist denkbar. Ich hatte vor, spazieren zu gehen. Es ist Nachmittag. Ein Telefon klingelt. — stop
ai : BURUNDI
MENSCHEN IN GEFAHR: „Die vier Iwacu-Journalist_innen Agnès Ndirubusa, Christine Kamikazi, Egide Harerimana und Térence Mpozenzi wurden am 30. Januar von einem Gericht in Bubanza zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. / Die vier waren am 22. Oktober 2019 bei ihrer Ankunft in der Provinz Bubanza zusammen mit ihrem Fahrer Adolphe Masabarakiza willkürlich festgenommen worden. Laut Iwacu waren die vier Jorurnalist-innen mit ihrem Fahrer dorthin gefahren, um von dort über gemeldete Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und einer bewaffneten Gruppe zu berichten. Adolphe Masabarakiza wurde am 20. November 2019 gegen Kaution freigelassen, die vier Journalist/innen mussten in Haft bleiben. Der Fahrer wurde am 30. Januar 2020 freigesprochen. Die zu Haftstrafen verurteilten Journalist-innen legten am 21. Februar 2020 Rechtsmittel gegen das Urteil ein. / Die ursprüngliche Anklage „Konspiration zur Untergrabung der Staatssicherheit“ war bei der Urteilsverkündung in „unmöglicher Versuch der Untergrabung der Staatssicherheit“ geändert worden. Das Gericht gestattete es den Rechtsbeiständen der Journalist-innen nicht, Argumente gegen diese neue Anklage vorzubringen. / Amnesty International geht davon aus, dass die vier Journalist-innen nur aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit und der friedlichen Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit strafrechtlich verfolgt werden. Das Verhalten, das zu ihrer Verurteilung führte – eine Recherchereise mit dem Ziel, über aktuelle Ereignisse zu berichten – entspricht genau dem Tätigkeitsprofil von Journalist-innen.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 22.4.2020 unter > ai : urgent action
monsun
sierra : 12.01 UTC — Bald einmal ist dringend eine Sammlung von Beobachtungen anzulegen, von Ereignissen, die ich mit meinem persönlichen Leben nicht unmittelbar in Verbindung setzen kann, die jedoch zentrale Erfahrungen ungezählter Menschen sind, die vor meinen Augen auf Fernsehbildschirmen erscheinen, auf Titelseiten papierener oder elektrischer Zeitungen. Kann ich mir Hunger vorstellen? Ich meine, nicht vorsätzlichen Hunger der Fastenzeit, vielmehr tatsächlichen Hunger, Hunger, der einen menschlichen Körper beschädigt oder zerstört. Wie fühlt es sich an, in Brooklyn ohne Ausweispapiere zu existieren? Oder die Furcht einer Frau, in einem Außenbezirk der Stadt Delhi nach einer Spätschicht einen Bus zu besteigen. L., der ich leibhaftig begegnete, erzählte Folgendes: Ich bin in Mumbai geboren, ich liebe mein Land. Ich liebe mein Land zu jeder Jahreszeit. In Indien bedeutet das Wort Regenzeit Monsun oder Barsaat. In Kalkutta wirst Du Monsunregen erleben, der vom Himmel kommt, auch außerdem eine Art Monsun, der aus dem Boden steigt. — stop
julia : letzte position 29°05’22.3“N 12°25’35.9“E
tango : 2.01 — Vor wenigen Stunden erreichte mich die Nachricht von der Existenz weiterer Fotografien, die enthauptete Menschen zeigen sollen. Ein Verweis, der zu den Aufnahmen im Netz führe, sei auf Position Twitter zu lesen. Ich überlegte eine Weile, ob ich dem beigefügten Link folgen sollte. Ich dachte, wie nah wir doch immer wieder Höllenansichten kommen, die möglicherweise nur deshalb produziert werden, weil zu vermuten ist, dass Millionen Menschen weltweit sie betrachten werden. Ich notierte einen Briefentwurf: Mein lieber Maximilian, vielen Dank, dass Du mich wieder einmal auf schreckliche Ereignisse, die sich in der libyschen Wüste ereignet haben, aufmerksam machst. Noch einmal will ich Dich bitten, auf weitere Hinweise dieser Art zu verzichten, da ich leblose Köpfe nicht weiter besichtigen möchte, sie wirken so hilflos, müde, und entsetzt von der ungeheuren Gewalt, die in der letzten Sekunde ihres Lebens auf sie wirkte. Ich weiß, Du kannst selbst nicht damit nicht aufhören, Du zählst menschliche Köpfe ohne Leib, Du vergleichst leblose Gesichter, Du sicherst Beweise, ich nehme an, Du wirst Dich in dieser Arbeit weniger hilflos fühlen. Wie traurig, dass noch immer keine Nachricht von Julia bei Dir eingetroffen ist, keine Spur in der Wüste, kein Hinweis, es ist eine Tragödie. Vielleicht willst Du mich einmal besuchen! Wir könnten spazieren, Du könntest mir erzählen, ich könnte Dir zuhören. Im botanischen Garten wird gerade der Honig der Wildbienen geerntet. Herzliche Grüße sendet Dir Dein Louis – stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
teilchen
sierra : 2.01 — Erinnerung scheint zeitlos zu sein, zufällig, chronologisch ungeordnet, kommt in Sekundenportionen angeflogen, eine Stimme, eine Fotografie, ein Geruch, ein Gedanke, Teilchen wie Sandstürme, vergänglich, unscharf. Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, ein Teilchen festzuhalten, in dem ich das Teilchen mit einem Wort verbinde, um das Teilchen von diesem Wort aus zu erweitern, schwerer zu machen, und doch ist es immer so, dass ich das Teilchen, an dem ich arbeite, früher oder später loslassen werde, weil vielleicht das Telefon klingelt oder eine Fliege vorüber kommt, die sich auf dem Rücken segelnd fortbewegt. Wie viele Ereignisse meines Lebens habe ich mehrfach vergessen? Wie viel stille Zeit? — stop
manhattan : canal street
tango : 10.15 — Ich habe einen merkwürdigen Kondukteur der Subway mit Taucherbrille beobachtet. Der Mann war auf der N‑Linie von Brooklyn her kommend in die Canal Street eingefahren. Ein seltener Anblick. Sein schmaler Kopf, der aus einem der mittleren Waggons des Zuges ragte, im Fahrtwind wehendes, schlohweißes Haar, und eben seine Brille, deren Scheibe Augen und Nase unwirklich vergrößerte. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, die Taucherbrille des Mannes sei mit Wasser gefüllt. Ich wollte den Mann fotografieren, aber das Licht der Station war spärlich und der Mann schaukelte ohne Pause seinen Kopf hin und her wie ein alter, müder Elefant, vermutlich weil er sich um einen umfassenden Blick der Ereignisse auf dem Bahnsteig bemühte. Es ist nun denkbar, dass ich eine Person beobachtet habe, die fest mit dem Führerhaus des Zuges verwachsen war, denn der Mann fügte sich harmonisch in das Bild, das ich mir seit jeher von wirklichen Zugführern mache, Menschen, die auf Zugständen geboren werden, Menschen, die auf Zügen fahrend ihre Kindheit verbringen, Menschen, die letztlich ihren persönlichen Zug zur Lebzeit niemals verlassen. — stop
berührung
sierra : 10.01 — Ein besonderer Tag, 14. Dezember. Ich konnte heute Morgen um kurz nach 8 Uhr mein Gesicht wieder in beide Hände nehmen, ohne sofort das Gefühl zu haben, mein verletzter Ellenbogen würde unter Haut und Muskeln jeden Halt verlieren. Ein Moment freudiger Begrüßung, als ob ich nun wieder vollständig wäre durch die Entdeckung der Fähigkeit, eine bedeutende Region meines Körpers mittels beider Hände berühren zu können. Ich stelle fest: Bewegungen, die ein Leben lang selbstverständlich gewesen waren, werden zu Ereignissen. Ab sofort ist es wieder denkbar, meinen Kopf während des Lesens abzustützen, eine Geste, die zur Lektüre einerseits gehört, wie eine Tasse Kaffee, wie das Buch selbst, dessen Gegenwart ich mir andererseits hilfsweise vorstellen könnte. — stop