bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von glimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
Aus der Wörtersammlung: etwas
zur menschenfaltung
marimba : 15.01 UTC — Sie haben, sagte ein Beamter von hohem Rang, vor einiger Zeit von einem faltbaren Medusenzimmer erzählt. Ich würde nun gerne wissen, sind sie in der Verwirklichung ihrer Vorstellung einen oder gar mehrfache Schritte vorangekommen? Ich frage deshalb vorsichtig an, fuhr der Beamte fort, weil ich mit dem Gedanken spiele, prüfen zu lassen, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, faltbare Menschen zu entwickeln, Menschen, die nach einer Prozedur rasend schneller Trocknung, gepresst und gefaltet, auf dem Postwege verschickt werden und an ihrem Zielort mittels Feuchtigkeit wieder entfaltet werden könnten. Auch eine Menschenlagerung über längere Zeiträume wäre in dieser Art und Weise denkbar. Kurz bevor ich antworten konnte, wachte ich auf . Seit einigen Stunden denke ich nun darüber nach, ob ich träumend tatsächlich wünschte, etwas zur Anfrage zu äußern. Möglicherweise erwachte ich, um eine Antwort zu verhindern. — stop
8.7 milligramm
echo : 22.58 UTC — An diesem späten Abend würde ich gern eine Geschichte erzählen. Sie handelt von einer Frau, die in der Lage ist, das Gewicht einer Ameise mittels der Zeigefingerbeere ihrer rechten Hand präzise zu bestimmen. Sie sagt: Diese Ameise wiegt 8.7 Milligramm. Ein zierliches Wesen, dachte ich, das sich im Moment des Wiegens auf der Fingerbeere der feinfühligen Frau niedersetzte und sich nicht im Mindesten rührte. Eigentlich eine seltsame Geschichte, die ich gern genauso erzählt haben würde, als wäre sie Wirklichkeit. Etwas muss sich verändert haben während der vergangenen Monate. — stop
deep
tango : 0.28 UTC — Ich habe gestern auf der Suche im Internet nach Walfischstimmen ein Mikrofon entdeckt, das sich im Atlantik nahe der grönländischen Küste unter der Meeresoberfläche befinden soll. Folgende Position war zu ermitteln: Statoil Greenland (Ölplattform) 79.056 N / ‑12.538 O. Es handelt sich möglicherweise tatsächlich um Live – Aufnahmen, die von dort gesendet werden, nicht um einen Loop, der vorgibt, Geräusche in Echtzeit zu übertragen. Das atlantische Meer, soviel kann ich nach längerer Beobachtungszeit sagen, knattert und rauscht und tickt und pfeift von Zeit zu Zeit. Ich meinte, buchstäblich Walfischstimmen gehört zu haben, ein berührender Moment. — Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben, dass Buckelwale zur Paarungszeit über eine Sprache verfügen, die einfachen menschlichen Sprachen ähnlich ist. Immer wieder seither die Frage, was ich unter einer einfachen menschlichen Sprache verstehen sollte. Ob eine dieser einfachen menschlichen Sprachen vielleicht geeignet wäre, sich mittels einer Prozedur der Übersetzung von Wal zu Mensch zu verständigen? Wir könnten uns vom Land und von der Tiefsee erzählen. Eine grandiose Vorstellung, wie ich in der Tiefe vor einem Wal schwebe und darauf warte, dass er bald, nach ein wenig Denkzeit, zu mir sprechen wird, etwas also sagen oder singen, das nur für mich bestimmt ist. Vielleicht eine Frage: Wie heißt Du, mein Freund? Oder: Ich hörte von Bäumen! — stop
regenzeit
nordpol : 18.15 UTC — Es ist früher Abend und es regnet in Strömen. Tatsächlich, wenn ich vor dem Fenster stehe und meinen Blick derart in die Luft richte, dass ich den Regen wahrzunehmen vermag, meine ich für Sekunden, Schnüre von Wasser erkennen zu können, deren Ursprung ich nicht sehen kann. Die Beobachtung der Wasserschnüre bereitet mir Freude, ich sehe etwas, das ich nicht wirklich sehen, aber mir so gut vorstellen kann, dass es tatsächlich wirklich zu sein scheint. — stop
spulen
foxtrott : 1.15 UTC — Einmal beobachte ich ein Kästchen voller Daten, wie es in Zeitlupe zu Boden fällt. Kurz darauf tickt die Tastmaschine, die im Kästchen steckt, deutlich vernehmbar, als wäre sie eine Uhr. Ich ahne, dass sie blind geworden ist, etwas scheint zerbrochen zu sein. Kurz darauf kaufe ich mir ein weiteres Kästchen. Tagelang denke ich darüber nach, wie ich meine Daten festhalten könnte. Ich bemerke, dass Sicherheit nicht wirklich existiert. Ein anderes Mal stehe ich in der Küche. Ich habe eine Schachtel auf den Tisch gestellt. Ich öffne das Gefäß, entnehme Tonbandspulen, errichte Türme, suche Batterien, die das Abspielgerät bewegen. Es ist dasselbe Gerät, mit dem ich vor zwei Jahren zuletzt arbeitete. Ich setze das Gerät in Bewegung, zunächst Rauschen, dann helle Stimmen, Stimmen wie von Lachgas, immerhin Stimmen, Geräusche, Gedanken, Fragen. Es ist eine große Freude, diese Stimmgeräusche zu vernehmen. Wenn ich winzige Hebel auf der Rückseite des Gerätes bewege, werden die Stimmen noch heller oder sehr dunkel. Plötzlich höre ich meine eigene Stimme. Ich erzählte vom Gedächtnis. — stop
kalkutta
nordpol : 0.15 UTC – Es ist an diesem Abend seltsam mit meiner Schreibmaschine. Ich würde gern einen Text formulieren, der von meiner Erwartung der Stadt Kalkutta erzählt, aber es schreibt immer wieder etwas anderes auf den Bildschirm: Make Europe great again! Eigentlich will ich diesen Satz nicht notieren, weil er mich an einen Satz erinnert, der aus dem Mund eines Mannes kommt, über den ich möglichst gar kein Wort verlieren möchte, wenn er doch nur nicht so gefährlich wäre, oder genauer gesagt, jene Personen gefährlich wären, die ihn umgeben, die ihm zuflüstern, wenn sie Gelegenheit haben, ihn doch für einige Minuten von seinem Fernsehweltgerät zu lösen. Alle raten zur Gelassenheit. Gelassenheit ist immer gut. Auf nach Kalkutta. — stop
manhattan, 5th avenue no 45
himalaya : 15.15 UTC — Vor einigen Wochen hörte ich, das New Yorker Wohngebäude eines wohlhabenden Mannes in der 5th Avenue sei nicht etwa 68, sondern in Wirklichkeit, also mit bloßem Auge zählbar, 58 Stockwerke hoch. Ich dachte, der wohlhabende Besitzer des Hauses könnte vielleicht in mittlerer Höhenlage seines Gebäudes äußerst flache, kaum sichtbare Stockwerke errichtet haben. Kurz darauf las ich, der wohlhabende Mann habe seinem Gebäude tatsächlich zehn nicht existierende Stockwerke mittels Sprache hinzugefügt, demzufolge erfunden. Ich las weiterhin, dass der wohlhabende Mann selbst diesen Vorgang geistiger Erhöhung seines Bauwerkes bestätigt und als einen Vorgang übertriebener Wahrhaftigkeit bezeichnet haben soll. Das scheint nun doch eine verrückte Geschichte zu sein, oder aber eine Geschichte, die von einem Verrückten handelt. Wie, frage ich mich sorgenvoll, kann man einer Personengruppe oder einer Person argumentierend begegnen, die offensichtlich mit dem Gedanken spielt, eine Welt alternativer Wahrheit (Fakten) mittels permanenter Wiederholung in Wahrnehmung und Überzeugung der Menschen einzustempeln? — Früher Morgen. Ich habe noch etwas Weiteres zu vermelden, das schmerzt. Ein Freund, der am kommenden Donnerstag zum 26. Mal New York besuchen wollte, weil er seit drei Jahren Lilly liebt, die zeitlebens in Brooklyn in der Atlantic Avenue lebt, weil sie dort geboren wurde, wird seinen Koffer nicht packen, weil er wiederum in der persischen Stadt Izeh das Licht der Welt erblickte. Er lebt seit 28 Jahren äußerst friedvoll in der Bundesrepublik Deutschland. — stop
no 45
olimambo : 23.52 UTC – Gestern habe ich etwas Seltsames mit mir selbst erlebt. Ich saß am Tisch vor meiner Schreibmaschine, als es plötzlich dunkel wurde in der Wohnung, nur etwas Licht vom Himmel war noch zu erkennen gewesen. Auch war es ganz still geworden, John Coltrane in dem Augenblick verstummt, als sich das Radio ausschaltete, ein Klicken, kaum wahrnehmbar. Nach ein oder zwei Minuten bemerkte ich, dass der Bildschirm meiner Schreibmaschine noch hell ins Zimmer strahlte, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass es stockfinster geworden war, eine seltsame Beobachtung, dass ich das Licht der Schreibmaschine nicht als eigentliches Licht wahrgenommen habe. Was, fragte ich mich, würde ich unternehmen, wenn nun nach zwei oder drei Stunden meine Schreibmaschine sich erschöpft ausschalten würde, wie mein Radio sich ausgeschaltet hatte. Nehmen wir einmal an, dachte ich, es wird dunkel bleiben und still für Monate oder Jahre, wäre ich in der Lage, mich an meine Gedanken, an meine Geschichten, die sich in der Schreibmaschine noch immer aufhalten werden, aber nicht lesbar sein würden, erinnern? Tatsächlich überlegte ich bald, ob es möglich wäre, mit Gegenständen, die sich in meinem Besitz befinden, Strom zu erzeugen. Wie lange Zeit müsste ich eine Handkurbel drehen, um kurz darauf für eine Stunde Zeit, Texte auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine lesen zu können. — Kurz vor Mitternacht. Agenturen melden, dass Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern im Transferbereiches des New Yorker John F. Kennedy Airport gestrandet, das heißt, festgehalten sind. — stop
lichtbild
sierra : 3.24 — Man möchte fast glauben, die folgende Begebenheit könnte reine Erfindung sein, weil in unserer Zeit kaum vorstellbar ist, was ich in wenigen Sätze erzähle. Ich hatte mein Fernsehgerät beobachtet, dort waren auf dem Bildschirm Menschen zu erkennen, die auf Wagondächern eines Güterzuges von Mittelamerika aus durch Mexiko nach Nordamerika reisten. Eine gefährliche Fahrt, junge Männer, aber auch junge Frauen, immer wieder, so erzählt man, wurden sie beraubt oder fielen auf die Geleise und würden vom Zug überrollt oder von Blitzen heftiger Gewitter getroffen. Lang waren die Überlebenden bereits unterwegs gewesen, hatten nach einiger Zeit kaum noch zu essen oder zu trinken. Hunger und Durst würden sie ganz sicher gezwungen haben, vom Zug zu springen, wenn da nicht Menschen gewesen wären, arme Menschen, die entlang der Zugstrecke standen, um den Zugreisenden Wasser und Nahrungsmittel in Tüten zuzuwerfen. Eine Frau, Maria, erzählte, sie und ihre Familie würden immer wieder hierherkommen zu den Zügen mit ihren Broten, dabei hätten sie selbst nur sehr wenig zum Leben, aber das Wenige würden sie gerne teilen, immerzu habe sie das Gefühl, es sei viel zu gering, was sie unternehmen, um den Flüchtenden zu helfen. Bald verschwand sie aus dem Bild, trat in den dichten Wald zurück, auch der Zug entfernte sich langsam. — stop