nordpol : 2.28 — Man on wire. Wie der Artist Philippe Petit sich auf einem Seil, das in der Nacht vor einem windigen Tag heimlich zwischen den Türmen des Worldtrade Centers gespannt worden war, mit Balancierstange in Händen auf den Rücken legt. Keine Filmaufnahmen existieren von jenem Moment aus nächster Nähe, aber Fotografien, die im Wissen des Windes und der Tiefe einen dehnenden, einen zerrenden Schmerz in meinem Körper erzeugen. Der Seiltänzer wurde festgenommen und einem Psychiater vorgeführt. stop. Schnee in Zeitlupe. stop. Ruhe. stop. Der Luftraum, in dem sich Philippe Petit bewegte, existiert weiter fort. — stop
Aus der Wörtersammlung: fest
lufteisschrift
romeo : 2.18 — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge, nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Guten Morgen. Heute ist Mittwoch. — stop
taschenspielzeug
romeo : 2.01 — Träumte, obwohl ich New York besuchen wollte, nahe Montauk gelandet zu sein. Hatte meinen Impfpass vergessen und man sagte mir noch an Bord des Flugzeuges, dass ich ohne Impfpass niemals nach New York hineingelassen werden würde. Man landete also rasch an nächster Küste und setzte mich dort ab. Die Stadt Montauk nun bestand aus flachen Hütten. Seltsame Menschen lebten in diesen Hütten. Sobald ich mich einer Hütte näherte, traten sie zu mir auf die Straße und erzählten, wie ich den Flughafen wieder finden könnte, weil ich mich in der Stadt sofort verirrt hatte. Als sie hörten, dass ich ohne Impfpass sei, sagten sie: Vergessen Sie New York. Alle diese freundlichen Menschen, denen ich auf der Straße vor ihren hölzernen Häusern begegnete, führten eine Plastiktasche mit sich, die sie an einem Lederriemen nahe der Achselhöhle befestigt hatten. In dieser Tasche lebten ihre Kinder in einer weiteren Stadt, die den Namen Montauk trug. Die Stadt musste jeweils sehr leicht gewesen sein, weil die Menschen weder gebückt gingen, noch ihre Taschen auf den Boden stellten, um sich mit mir über meine vergebliche Reise nach New York zu unterhalten. Manchmal, wenn es leise wurde, wenn die Wellen des nahen atlantischen Meeres gerade einmal Pause machten, konnte ich sehr feine, helle Stimmen vernehmen, Automobilhupen und Flugzeuge, Geräusche direkt von der nächsten Tasche her. — stop
XZH-78
olimambo : 0.01 — Eine lebende Tapete, ein summendes Wesen aus Millionen zartester Mollusken, die einander verbunden sind und doch jede für sich alleine existieren könnten. Diese sehr kleinen Tiere nun sind so eingestellt, dass sie Stäube, Sporen, Pilze, aber auch Bakterien und Viren aus der Raumluft entnehmen. Und weil sie alle derart aneinander befestigt sind, dass ihre Ausscheidungsorgane sich nach außen richten, könnte man also von einer Wand sprechen, von einer lebenden Haut oder einem außerordentlich wirksamen Filter in einer Personengestalt. Sobald eine Molluske gestorben ist, wird sie von umgebenden Mollusken vertilgt, eine Prozedur, die nicht sehr häufig vorkommen wird, weil die Mollusken, so wie ich sie wünsche, ein hohes Alter erreichen, sagen wir, sie werden zweihundert Jahre alt oder um weitere Jahre älter. Einmal am Tag ist im Molluskenzimmer ein Brausen zu vernehmen, ein sehr tiefer, warmer Ton, der in einer Welle durch das Staatstier wandert. Das ist die Minute, da Molluske für Molluske je ihren Bauch entleert. — stop
minutenzeit
india : 15.05 — Versuche, die Zeit vorzustellen, das heißt, die Zeit einer Minute zu messen oder zu fühlen oder zu denken, ohne eine Uhr zu Hilfe zu nehmen. Das ist natürlich nicht ganz richtig formuliert, weil ich die Genauigkeit meiner geistigen Messung prüfe, in dem ich nach Ablauf einer Minute, einer vorgestellten Minute, die tatsächlich verstrichene Zeit vom Zifferblatt einer kleinen Stoppuhr lese, die ich in dem Moment mit einer Handbewegung in Gang setze, da ich denke, jetzt, genau jetzt ist die Zeit einer Minute angebrochen. Nein, ich zähle nie bis sechzig, auch nicht bis dreißig! Und die Arbeit der Uhr, die in meiner Hand der Minutenzeit eine gültige Gestalt verleiht, ist nicht zu spüren, nicht zu hören. Ich habe festgestellt, dass die Minutenzeit des Morgens kürzer ist als die Minutenzeit des Abends an derselben Stelle. Seltsame Geschichte! — stop
quentin crisp
romeo : 18.12 — Samstag. Regen. Knisternde Fenster. Beobachtete die Filmbiografie des homosexuellen Schriftstellers Quentin Crisp vor und zurück. Gegen Ende seines Lebens folgende Sätze: Beharrlichkeit ist Ihre stärkste Waffe. Es liegt in der Natur von Barrieren, dass sie fallen. Versuchen Sie nicht so zu werden wie Ihre Widersacher. Sie tragen die Bürde und haben die große Freude, Außenseiter zu sein. Jeder Tag, den Sie leben, ist eine Art Triumph, daran sollten Sie immer festhalten. Sie sollten sich nicht bemühen und versuchen, sich der Gesellschaft anzuschließen. Nein, bleiben Sie stets da, wo Sie sind. Geben Sie Ihren Namen und Ihre Seriennummer und warten Sie darauf, dass die Gesellschaft sich um Sie herum bildet. Denn das wird sie höchstwahrscheinlich tun. Schauen Sie niemals nach vorn, wo es die Zweifel, und niemals zurück, wo es das Bedauern gibt. Nein, schauen Sie immer nach Innen, und fragen Sie sich nicht, ob es in der Außenwelt etwas gibt, was Sie wollen, sondern ob es Innen irgendetwas gibt, das Sie noch nicht ausgepackt haben. / zitiert nach der Tonspur des Films “An Englishman in New York”
mangrove
india : 22.58 — Im Palmengarten befinden sich acht wabenförmige Glashäuser, die durch Schleusenräume miteinander verbunden sind, sodass man in wenigen Minuten zunächst durch eine Wüste spazieren kann, dann durch einen Regen- und kurz darauf durch einen Nebelwald. Ich sitz gern dort, jenseits der Mangrovenabteilung im Bromelienhaus, und lese in wasserfesten Büchern herum. Es ist angenehm still. Kaum jemand verirrt sich hierher, so versteckt liegt die Wabe im Zentrum der Glashausversammlung. Und vielleicht genau aus diesem Grund, weil es von Menschen still ist, kommen dutzende, leise jaulender Wachteln unter Bäumen zusammen, auf welchen Blumen lungern wie schlafende Vögel. Hatte vor Stunden noch unter Luftwurzeln etwas Wilhelm Genazino beobachtet. Plötzlich bemerkte ich, dass kein Geräusch um mich herum zu hören war. Völlige Stille. Eine merkwürdige, eine trockene Stille. Für einen kurzen Moment der Eindruck, während des Lesens vielleicht taub geworden zu sein. Schaute mich um, sah eine Hand auf einer Buchseite liegen und dachte, dass ich jetzt mit dieser Hand sofort zur Beruhigung ein Papiergeräusch erzeugen müsse. Ich blätterte also um, und ich hörte ein Rascheln und das leise Sausen der Luft, hörte Vögel wieder pfeifen, das Tropfen des Wassers. Ich hörte meine Stimme das Wort seltsam sagen. — stop
die alte margareta spricht vom sterben
nordpol : 18.15 — Nachmittag. Wolken tief. Regen heut aus nächster Nähe auf den Schirm. Auch von der Seite her Tropfen, die so leicht sind, dass sie mit meinem Atem zurück gegen den Himmel fliegen. Mit Schreibmaschine sitz ich und beobachte handliches Kino. Dort das Gesicht einer uralten Frau. Sie heißt Margareta, die Margareta aus Wien. Margareta ist 91 Jahr alt. Von einem bösen Krebs schwer gezeichnet, spricht sie im Sterbehospiz in einer heiteren Weise Gedanken in die Kamera, die mich berührten, als ich sie zum ersten Mal hörte, so dass ich mir vorgenommen hatte, jeden ihrer Sätze in einer eigenen Textspur festzuhalten. Heute nun ist Margaretas Tag. Immer wieder halte ich den Film an und notiere Wort für Wort was Margareta zum Sterben sagt: Ich glaub nicht gar so. Ich glaub nicht, dass man in den Himmel kommt. Weil, mit was soll man denn? Ja, mit der Seele, nicht! Die Seele kommt in den Himmel. Ja, aber wer ist denn die Seele? Das weiß man dann auch nicht. Ich sag das nur, weil Sie mich gefragt haben. Weiß ich nicht, wie das dann geht! Ich hab eine Cousine gehabt, die war sehr christlich. Wenn die nur einmal nicht in die Kirche gegangen war, aber sie hat mir gesagt damals, sie war ein 18er-Jahrgang, ich bin ein 14er, mein Bruder war ein 17er, und sie hat gesagt: Das glaub ich nicht, dass es nach dem Tod noch was gibt. Sie meint halt, dass wenn man stirbt, dass es dann aus ist. Ich weiß es auch nicht. Aber ich schlafe jetzt auf die Nacht ein, und in der Früh werd ich munter, das hab ich jetzt dreimal schon gemacht, da denke und da träume ich gar nichts, so richtig nichts. Dann denk ich mir, siehst du, so wär das Sterben. Aber es ist halt so. Nein, so richtig weiß ich es nicht. Aber ich bin ja schon knapp davor. Mit 91 sind Sie knapp vor dem Sterben. Müssen Sie ja sein. — Margareta hebt einen kleinen Löffel vom Tisch. - Mein Gott, gar nichts essen möchte ich am liebsten. - stop
pong pong
alpha : 2.01 — Kuriose Beobachtung heut Nacht. Ich saß auf meinem Sofa und dachte an eine Apparatur, die in der Lage sein könnte, Bücher in einem vorgegebenen Rhythmus selbstständig umzublättern. Über zwei Arme sollte diese Maschine verfügen, gleichwohl über fingerähnliche Fortsätze, einen Motor und Sensoren, empfindlich für Licht. Während ich die Maschine in meinem Kopf zusammensetzte, notierte ich die Anzahl der Schrauben, die bald einmal im wirklichen Leben zur Festigung nötig sein werden, handschriftlich auf ein Blatt Papier. Immer wieder, wenn ich in meiner Arbeit gestört wurde, setzte ich neu an. Das ist nämlich sehr merkwürdig mit Maschinen, die ich erfindend montiere, sie verschwinden vollständig aus dem Sinn, sobald ich nur für eine Sekunde meine Arbeit zu unterbrechen habe, sagen wir, weil ich höre, wie draußen auf der Straße Schritte laufen. Eigentlich ist diese Nacht überhaupt ungeeignet, eine Kopfmaschine zu bauen. Ich habe die Fenster meiner Wohnung geöffnet, ein leichter Wind fährt durch die Kronen der Bäume vor dem Haus. Diese Bäume im Dunkeln sind Kastanien. Sie machen Nussmusik, pong, pong. — stop
central park — liegend
tango : 15.28 — Im Central Park für Stunden. Einmal lege ich mich ins Gras und notiere was ich sehe: Hunde, zum Beispiel, Riesenpudel im weißen Pelz, rosafarben die Haut ihrer Gesichter, Kreaturen, Menschenhunde, die uralte Bäume markieren. Das feine, helle Grün der Kronen, wisperndes Licht, als wär noch Frühling, solche Bäume, die geduldig flanierende Personen beschirmen. Und Läufer, männliche und weibliche Läufer, leicht bekleidet, entspanntes Lächeln, wie von unsichtbaren Fußsänften getragen. Vier Polizisten, je mit Mütze, schweres Gerät klimpert in der Mitte ihrer runden, festen Körper. Eisverkäufer streiten am Ufer eines Sees, auf dem Funksteuerboote segeln. Ein verliebtes Paar ist da noch, sie liegen, und ein weiteres, ein gleichgültiges Paar lungert auf einer Bank, die Frau einerseits türmt mit zartesten Bewegungen ihrer rot bemalten Zehen Baumsamenspreu zu Gebirgen, der Mann andererseits beobachtet ein filigranes Wesen, das von Leibwächtern umringt über eine Wiese nordwärts schreitet. Ich schlafe bald ein. Eine nordamerikanische Biene, brummend. Das Blau des Himmels. Zwei Luftballons wippen vorüber, als würden sie auf eigenen Beinen gehen. — stop