lima : 22.06 — Es ist später Nachmittag. Queens. Eigentlich wollte ich durch die Gegend streifen, in der Louis Armstrong gelebt hatte, sein Haus besuchen, das zu einem Museum geworden ist. Als ich eintreffe, Station North Corona, bereits Dämmerung. Die Straßen schwach beleuchtet. In der Nähe eines Fensters, das von der Subway in einem Abstand von 1 Meter passiert wird, sitzt ein dunkelhäutiges Mädchen vor einem Fernsehgerät. Ich würde das Mädchen gern fragen, ob es mich sehen kann, ob es die Züge noch hört, die in fünf Minuten Frequenz an ihrem Wohnzimmer vorüber kommen. Das sind scheppernde Züge, kreischende, quietschende, blecherne Röhren. stop. Schlangen. stop. Ungetüme. stop. Wie viele Jahre, wie viele Züge, die das Mädchen vielleicht nicht hörte? — stop
Aus der Wörtersammlung: fragen
echo
india : 16.32 — Beobachtete, dass die Wahrnehmung eines Gedankens stets nur von einem weiteren, einem zweiten Gedanken aus möglich zu sein scheint. — Wieder die Fragen: Existieren Satzzeichen in der Gedankensphäre? Ist es möglich, einen ursprünglichen Gedanken zu erfinden? — stop
tastende fingerohren
alpha : 15.01 — Seit Wochen mobilisiert eine junge Frau meinen rechten Arm in Portionen der Zeit, die wohltuend sind. Eine eigenartige Erfahrung. Als würde sich die junge Frau mit meinem Arm unterhalten in einer Sprache komplizierter Bewegung. Dehnen. Strecken. Drehen. Ziehen. Drücken. Kreisen. Streichen. Dann Phasen der Ruhe. Bald scheint sie in meinen Arm hineinzuhören, als ob ihre Finger über sensible Ohren verfügten, tastende Ohren, die nach Bewegungen meiner Sehnen, meiner Muskeln fragen. Ein feines Gehör. Eine Sprache nachhaltiger Argumente, die meine Muskeln aus ihrer Schutzspannung lösen. Das Gespräch der Hände, Beschwörung, nachdrücklich, auch Ermunterung, Ermutigung: Erinnert Euch! – Schnee über Nacht. Sturmwind auf den Bergen. Dohlen sind ins Tal gekommen. — stop.
raumstation
sierra: 11.50 — An diesem Freitagmorgen, Nebelschleierwolken lungern über dem Tal der Salzach, konnt ich seit 47 Tagen erstmals mit meiner rechten Hand wieder mein rechtes Ohr berühren. stop. Angedockt. stop. Die Meldung gegen den Mittag zu, Neutrinos auf unterirdischem Wege von Genf nach Rom seien schneller geflogen als das Licht. — stop
schnürlkäfer
charlie : 8.58 — Wenn man mich fragen würde an diesem schönen Morgen im November, was ich mir wünsche, ich würde antworten, einen Banderlkäfer oder Schnürlkäfer in diesem Moment, einen Käfer, der an seiner Spitze aus einem Kopf und einem gepanzerten Brustsegment bestehen könnte, Fühlern, Augen, Beinen, Flügeln, einem Käfergefüge demzufolge wie wir es kennen, wenn da nicht eine bemerkenswerte Fortsetzung in der Gestalt des Käfers zu verzeichnen wäre, ein Hinterleib von enormer Größe, schmal und lang und feucht, als habe sich dem Käfer ein Regenwurm angeschlossen, der nun selbst an seinem Ende der Käfergestalt ein Paar weiterer Augen hinzufügte, und einen triebhaften Willen sich auf jeden Schuh zu stürzen, um ihn auf der Stelle, ob nun mit oder ohne Fuß, zu verschließen. – stop
venenstern
echo : 20.55 — Ein Schatten von Wörtern existiert in der elektrischen Welt, Anfragen der Suchmaschine g o o g l e, die particles mittelbar oder unmittelbar berührten: > Fliege : Mondfisch : Schreibmaschine : Roman Opalka : Kolibri gezeichnet : DNA : Doppelhelix : Trompetenkäfer : Venenstern : Brummkreisel : Geräuschwörter : Pergamenthaut : Chirurg : Pyramidenbahn : > 2345 Begriffe im Monat August. stop. Feuerkäfer. stop. Ich könnte vielleicht sagen, dass Wörter dieser Art Lockstoffen ähnlich sind. Oder Landebahnen. Oder Fliegenfallen. — stop
PRÄPARIERSAAL : nachtarbeit
tango : 23.15 — Im Regen mit Tonbandgerät unter dem Schirm am See. Samstag. Augustkastanien fallen aus den Bäumen. Auf den Häuptern der Rotwangenschildkröten, die sich zu meinen Füßen arglos versammeln, als lauschten sie wie ich Magnetkopfstimmen, feuchte Häubchen von Ahornsamen. Kaum ein Mensch unterwegs. Ich dachte für einen Moment, weiß nicht wie das gekommen ist, dass ich an diesem Ort ohne Zeugen sofort den Versuch unternehmen könnte, eine der Schildkröten an ihrem Hals zu packen, sie aus dem Wasser zu heben, um sie zu Hause in der Küche mit einem Meißel zu öffnen. Auf Porzellan gebettet kurz darauf ein Reptilienhäufchen, rosafarben, feinste Streifen Schildkrötenbauches, dessen eigentliche Gestalt ich mir hinter Panzerhäuten liegend zurzeit nicht vorstellen kann. — 22 Uhr 58. Janine erzählt: > Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nachts aufwachte und den haarlosen Kopf meines Freundes vor mir gesehen habe. Ich erschrak fürchterlich. Ich saß ein paar Minuten senkrecht im Bett, dann bin ich aufgestanden. Wir haben eine sehr schöne Küche. Ich habe von Zeit zu Zeit in der Küche kampiert. Ich habe dort gelernt und manchmal bin ich mit dem Kopf auf dem Anatomieatlas eingeschlafen. Merkwürdig, über wie viel Kraft ich doch verfüge. Ich war beim Tanzen, zweimal wandern in den Bergen, ich habe gepaukt und ich habe mit dem Skalpell gearbeitet. Ich habe vormittags und mittags und Abend für Abend in der Bibliothek gelesen. Und wenn ich nachts in der Küche eingeschlafen bin, dann waren da plötzlich sehr scharfe Bilder in meinem Kopf. Aufblitzende Fotografien, die überfallartig Angst erzeugten. Der geöffnete Mund eines Toten. Sandige Zungen. Ein hoch aufragender, dunkelroter Penis. Das zerteilte und gehäutete Gesicht einer alten Frau. Das war nicht geträumt, ich habe diese Bilder bei vollem Bewusstsein vor mir gesehen. Jetzt kommen sie mich seltener besuchen. — stop
tiefenschatten
~ : oe som
to : louis
subject : SCHATTEN
date : aug 18 11 5.12 p.m.
Seit zwei Tagen bereits keine Nachricht aus der Tiefe. Wir hören Noes Atem, wir verzeichnen das Gewicht seines Taucheranzuges an der Winde des Schiffes. Noe ist noch bei uns, aber kein Wort zu hören von Noe. Weder antwortet er auf Fragen noch folgt er unserem Wunsch, er möge doch weiter lesen in Tony Morrisons Roman Jazz. Wir hatten das Buch am vergangenen Montag zu ihm in die Tiefe geschickt. Noe las noch an demselben Abend drei Stunden, dann war er eingeschlafen. Seither schweigt Noe, weshalb Miller sich vor Stundenzeit zur Inspektion auf den Weg nach unten begab. 2 Fuß in der Minute, schneller geht das nicht, schneller würde Miller das Leben kosten, wir müssen uns gedulden. Fünf Stunden noch, dann wird Miller Noe erreichen, eine spannende Situation, vielleicht wird auch Miller dann schweigen, das ist denkbar, eine beunruhigende Vorstellung wie unsere beiden Tiefseemänner schweigend in der Düsternis schweben, wie sie sich vielleicht unterhalten werden in der Zeichensprache der Taucher. — Habe ich Dir, lieber Louis, berichtet, dass es vor wenigen Tagen schneite? Noch nie habe ich Schnee auf offener See beobachtet. Seemöwen jagen dicht über die Wasseroberfläche hin. Es sieht so aus, als würden sie Flocken fangen, mächtige Tiere, gelbe Schnäbel, hellbraune Flügel. Sie wirken in etwa verkleidet, Möwenvögel, die sich in Kostümen junger Habichte bewegen, ihre schrillen Rufe, ein weiteres Dutzend sitzt auf unserem Funkturm, Eiszapfen haben sich gebildet, Wolken kommen näher, berühren das Wasser. Miller ist in diesem Moment auf fünfhundert Fuß Tiefe angekommen. Unter ihm, meldet Miller, sei in der Dunkelheit Noe zu erkennen, das Licht seiner Lampen. Ein gewaltiger Körperschatten soll vor ihm zu sehen sein. Ich melde mich bald wieder. Dein OE
gesendet am
18.08.2011
1796 zeichen
elst-pizarro
delta : 0.03 — Vor wenigen Tagen die Existenz des erdnahen Kometen Elst-Pizarro bemerkt, eines reisenden Körpers, der bereits im Jahre 1997 entdeckt worden ist. Vielleicht könnte es sinnvoll sein, von diesem Vorgang als einer einseitig wirksamen Kollision zu sprechen, weil ich mich mit der Sekunde der ersten Wahrnehmung verformte, durch meine Begeisterung einerseits, andererseits durch eine Versammlung von Fragen, die nun an mir zerren, als verfügten sie über eine physikalisch messbare Gravitation. – stop
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unter dem Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste, wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert