tango : 5.58 — Wieder Pseudonyme gesucht, gefunden, gesammelt. Feine Namen, Namen, die in keinem Verzeichnis der Suchmaschinenwelt enthalten sind. Es ist so, als würden Menschen, die einen dieser Namen tragen, nicht existieren, weswegen ich die Namen jener nicht existierenden Menschen auf einem Zettel notierte. Dann ging ich spazieren. Ich spazierte am See um die Ecke unter Kastanienbäumen und las die Namen laut vor mich hin, und als ich nach wenigen Minuten das Geräusch der ersten fallenden Kastanie dieses Herbstes hörte, wusste ich, wie ich fortan heißen werde. Also ging ich wieder nach Hause und legte den Namen vor mich auf den Schreibtisch. Ein guter Name, dachte ich, ein hervorragender guter Name für eine ernste Geschichte, aber auch für heitere Dinge. — stop
Aus der Wörtersammlung: gin
mollusken
marimba : 5.12 — Ich zählte Wolken, ein, zwei, drei. Ich lag auf dem Rücken in einem Kinderwagen, der rollte, und ordnete Kissen und Rasseln und einen Himmel, der nah war, sehr nah, zum Greifen nah war er gewesen, weil ich noch nicht stehen und laufen konnte, so wie ich wollte. Kaum konnte ich laufen, zählte ich Schnecken. Ich zählte die Schnecken im Wald, in dem ich spazierte, ich zählte die roten, die nackten, die gelben, die blauen Schneckenmollusken, ich zählte bis zehn, dann lernte ich hundert und zählte so lange ich ging ohne Summe, vorsichtig, weil ich noch klein war und die Schnecken so groß wie meine Schuhe. Dann lag ich wach, ich war verliebt und konnte nicht schlafen und hörte den Regen gegen die Fenster prasseln. Jetzt zählte ich Regen, das Wasser. Ich lernte, wohl weil ich verliebt gewesen war, dass es einen Regen gibt, der gezählt werden kann, und einen anderen Regen, den ich als Rauschen hörte, einen Regen, der zu schnell ist, um je von einem Menschen berechnet zu werden. – Es ist jetzt kurz vor halb sechs. Habe die Knochen der Hand studiert. Noch immer keine Dämmerung. Bald Winter. — stop
langustenfliege
india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen. — stop
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
fliegende arme
delta : 0.05 — Wieder kurz nach Mitternacht. Immer schneller laufen die Tage. Gerade eben entdeckte ich auf Karteikarte 705 eine Notiz, die ich am 7. März 2006 in einem anatomischen Präpariersaal vermerkte. Sie geht so: Heute beginnt die Präparation der Gesichter. Wilhelm, 21, erzählt, er habe von hautlosen Armen geträumt, die an Propellerflügeln hinter ihm her durch den Saal schwebten. Meistens schlafe er aber gut. Wenn Wilhelm einmal nicht schlafen kann, liest John Steinbeck. Das beruhige. — stop
yanuk : frogs
~ : yanuk le
to : louis
subject : LIGHT
date : july 12 08 6.15 p.m.
Lieber Mr. Louis, ich schreib Dir noch rasch, bevor die Dunkelheit wie ein nasses Tuch vom Himmel fallen wird. Ist Dir bekannt, dass ich seit bald zweihundert Tagen auf Baum No 728XZ sitze, ohne einmal den Erdboden berührt zu haben? Viel Zeit habe ich in den vergangenen Wochen damit verbracht, mein Zelt gegen das Licht der Sonne abzudichten. Werde fortan versuchen, am Tag zu schlafen und nachts meinen Forschungsarbeiten nachzugehen. Bin zufrieden, habe viele neue Wesen entdeckt, aber die Hitze setzt mir zu, und das Licht scheint doch eine Flüssigkeit zu sein, die durch den kleinsten Spalt fließen und mein Zelt auszufüllen vermag. Vielleicht ist das Licht deshalb nicht auszuschalten, weil ich weiß, dass es dort draußen, vor meinem Zelt unter dem Mantel von Blättern, hell ist, oder weil Licht in meinem Kopf brennt, das ich nicht zu Ende denken kann. Und doch, mein lieber Louis, bin ich glücklich. Dank Dir herzlich für den feinen Simmons Text. Das erste Buch, das ich per E‑Mail erhalten habe. Ich bin natürlich bislang nicht sehr geübt im Lesen vor Bildschirmen und die Falter setzen mir zu. Sie haben die Größe meiner Hände, sind staubig und zu schwer für die Zungen der Frösche, die in meiner Nähe sitzen und warten, dass ich mit meinen Selbstgesprächen beginnen werde. Manchmal habe ich das Gefühl, bereits seltsam geworden zu sein. Vielleicht bin ich ein erfundenes Geschöpf? Wirst Du schreiben, sobald Du etwas Verrücktheit bei mir findest? – 6.12 p.m. 32 °C. 97 Prozent Luftfeuchte. Position 1°38’S 61°42’W — Yanuk
eingefangen
22.05 UTC
1538 Zeichen
die sonne ist rund
india : 5.08 — Wie in schwieriger Zeit im Schlaf die Welt nach und nach neu geordnet wird, kein Stein bleibt auf dem anderen. Jeder beginnende Tag, ein Tag vor unbekannter Landschaft. Jede erlebte Geschichte erzählt sich, als wäre sie nie geschehen. Die Sonne ist rund.
italo calvino
romeo : Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
tabucchi
tango : 1.15 – Rettete am See zur Zeit der Abenddämmerung eine Raupe, die sich dem Netz einer Klammerspinne näherte. Legte das kühle, weiche Tier in meine linke Hand und zählte mit dem Zeigefinger der anderen Hand sechzehn sehr kurze Beine. Las dann weiter in Tabucchis Buch kleiner Missverständnisse. Sehr schöne erste Sätze gefunden. Wie die Dinge so laufen. Und was sie lenkt. Ein Nichts. Manchmal beginnt es mit einem Nichts, mit einer Phrase, die sich in dieser, die sich in dieser riesigen Welt voller Phrasen, Dinge und Gesichter verliert, in einer großen Stadt wie dieser, mit ihren Plätzen, der U‑Bahn, den Menschen, die aus dem Büro hasten, den Straßenbahnen. — stop
revolver
india : 3.26 — Das Seltsame an den Nachtbüchern ist, dass man sie nur nachts und nur unter freiem Himmel lesen kann. Ich war deshalb bis kurz nach Zwei im Palmengarten am See und hörte den Spinnen zu beim Seilen, und lauschte Panthern bei leiser Fresserei und anderen angenehmen Dingen, die man so macht, wenn man bemerkt, dass man ein Panther geworden ist in einer Vorsommernacht. Dann ging ich nach Hause und legte das Nachtbuch, das von einer Chinesin erzählt, die sich wundert, dass sie eine Chinesin ist, ins Regal zu anderen Nachtbüchern zurück. Sitze jetzt auf dem Sofa und die Fenster sind geöffnet und ein Falter flattert in einem Lampion herum und notiere eine kleine wilde Geschichte. Diese Geschichte geht so: Irgendwann, sagen wir im Sommer, sagen wir morgens. Ein Spieler steht am Fenster. Er schaut in Richtung des gegenüberliegenden Hauses. Die Sicht ist gut. Kein Nebel. Kein Dunst. Ein oder zwei Vögel, Laternenhöhe, auf und ab. Jetzt richtet der Spieler den Revolver gegen die Schläfe. Alle Kammern der Waffe sind munitioniert. Der Spieler wartet ab. Glühender Kopf. Film zurück, mal bunt, mal nicht. Brillanter Streifen. Verlässt ein Mann das Haus, schießt sich der Spieler eine Kugel in den Kopf. Game over. Ende. Fin. Verlässt eine Frau das Haus, hat der Spieler einen Tag gewonnen. Es ist dann ein Tag leichten Genießens, ein Tag aber auch von Unruhe, sobald Abend geworden ist. Jetzt schläft der Spieler. Dann wacht der Spieler auf. Wieder steht er am Fenster, wieder ist früher Morgen und wieder ist Sommer. Die Maschine lässt sich nicht anhalten, auch die Zeit nicht, — Revolver gegen Stirn. Entweicht dem Haus eine Katze, wird eine Kugel entnommen. Jede weitere Katze entnimmt der Revolvertrommel eine weitere Kugel. Sechs Katzen bedeuten eine Frau. Frauen und Katzen bringen Glück. Natürlich lässt sich das unendlich verfeinern. Eine rote Katze erzwingt eine zweite Aufführung noch an demselben Morgen. Kommt ein Nashorn aus dem Haus, hört der Spieler für immer auf zu spielen. Ein Nashorn mit drei Hörnern und der Spieler wird Priester. Wir sehen, die Bedingungen des Spielers ein Priester zu werden, sind eindeutig definiert. Kein Entkommen. Kein Ausweg. Ein Liebhaber konzentrierten Lichts. Cinema Paradiso.