nordpol : 6.38 — Ein faszinierendes Wort geistert seit Monaten in meinem Kopf. Ich kenne das Wort schon lange Zeit, hatte ihm aber zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, bis ich das Wort in dem Zusammenhang einer unheimlichen Szene hörte aus dem Mund eines Reporters, der von der libyschen Stadt Misrata berichtete. Das war im Oktober des vergangenen Jahres gewesen. Im Kühlraum eines Supermarktes lagerte der Leichnam Muamar Gaddafis auf einer Matratze, das Haar des Diktators war zerzaust, seine Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, dünne Fäden von Blut sickerten aus zwei Wunden. Menschen standen in nächster Nähe, ihre Fußspitzen berührten das Lager des Toten. Sie standen dort auf neugierigen Füßen, um den Leichnam zu betrachten, manche fotografierten mit Handyapparaten, andere, auch Kinder waren unter ihnen, warteten in einer Schlange vor dem Gebäude darauf, eintreten zu dürfen. Ich dachte noch an den scharfen Geruch des Todes, der dort unsichtbar auf die wartenden Menschen einwirken musste, als der kommentierende Reporter bemerkte, die Bevölkerung der geschundenen Stadt würden sich aus allen Himmelsrichtungen nähern, um den Leichnam Gaddafis und den seines Sohnes zu b e ä u g e n. In diesem Augenblick war das Wort, von dem ich hier berichtete, eingetroffen, ein zartes Wort wandernder Augen. Wie sich unverzüglich in der Gegenwart dieses Wortes der Schrecken der Situation, in etwas Menschliches, beinahe Kindliches verwandelte, in ein Verhalten, das ich verstehen konnte, eine Berührung, eine Vergewisserung, dass wahr ist, wovon man hörte. Ein sanftes Wort in der Umgebung eines Krieges, ein neuronaler Hebel. — stop
Aus der Wörtersammlung: jahre
spulen
sierra : 15.01 — Ich hatte eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. — stop
judy
luftauster 2
sierra : 14.28 — Nach bald drei Jahren der Beobachtung vermag ich noch immer nicht zu sagen, ob ich im Zustand des Träumens über einen Geruchsinn verfüge oder nicht. — stop
radio
echo : 15.05 — Ich war einmal Besitzer eines Radios mit elektrischem Auge. Sobald ich auf einen Knopf drückte, glühte das Auge zunächst dämmernd, dann leuchtete das Auge grün wie das Wasser eines Bergsees und ich hörte seltsame Stimmen und Rauschen und Pfeifen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es existierte seit dem Jahre 1952, war also viel älter als ich selbst und musste nie zur Reparatur gebracht werden. Nur einmal hüpfte eine Taste heraus und das Radio sah fortan aus, als habe es einen Zahn verloren. An einem sehr heißen Julitag des Jahres 1974 saß ich gerade vor dem Radio ohne Zahn, als gemeldet wurde, Fallschirmjäger seien über Zypern abgesprungen. Von einem Konflikt war die Rede und das Auge des Radios leuchtete dazu und die Membran seines Lautsprechers zitterte. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass nun Krieg sei, ein wirklicher Krieg, der erste Kriegsbeginn, den ich als Wellenempfänger miterlebte. Irgendwann verschwand das alte Radio und ich bekam ein neues Radio. Dieses Radio konnte Geräusche speichern, und so speicherte ich Geräusche, singende Frösche vielleicht, oder meine Stimme, die mich befremdete, die nie meine eigene Stimme gewesen war, sondern immer die Stimme eines anderen, der ähnliche Dinge sagte. Bald machte ich mit einer weiteren Maschine Filme, nein, ich zeichnete Filme auf ein Band, den Film der Stadt Bagdad an einem Vorkriegsmorgen zum Beispiel. Die Sonne strahlte vom Himmel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwitscherte. Vielleicht saß der Vogel auf einer gepanzerten Kamera, die das Bild der leuchtenden Stadt zu mir hin übertrug. Dieser Vogel war noch Radio gewesen. — stop
salzburg : stefan zweig, kapuzinerberg no 5
lima : 8.16 — Von der Linzer Gasse hinauf zum Paschingerschlössel, in dem Stefan Zweig mit seiner ersten Frau, der Schriftstellerin Friederike Maria Burger, 15 Jahre lang wohnte und arbeitete. Ein steiler Weg, 264 Treppenstufen, James Joyce und Thomas Mann werden diese Strecke gegangen sein vor einer Sekunde noch vor den langsam westwärts fließenden Bergen. Das Haus No 5, großzügige Terrasse, hinter Laubbäumen versteckt, scheint sich von selbst im leichten Wind zu bewegen. Unten im Tal, schneegrün an diesem Abend, die Salzach. Auf den Dächern der Stadt lungern moderne Menschen, sie lesen, trinken Wein, schlafen in ihren Himmelsgärten in der warmen Novembersonne. Ein später Feuerkäfer passiert den schmalen, steinigen Weg, längst bin ich im Wald angekommen. Das Kloster der Kapuzinermönche liegt hinter mir. Buchen, Eschen, Linden brennen. Eine gebückt gehende alte Frau, ich sehe, sie geht kreuz und quer über die Pfade des Berges. So betagt muss sie ihrer Erscheinung nach sein, dass sie Stefan Zweig noch persönlich gekannt haben könnte. Wie sie zuletzt unter den Bäumen verschwindet, uraltes Kind, dachte ich an eine Fotografie, die in der digitalen Sphäre existiert. Sie zeigt Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte Altmann in ihrem Haus in der brasilianischen Stadt Petrópolis leblos liegend auf einem Bett. Dieser Blick nun eines Journalisten und seiner Lichtfangmaschine, der seit dem 23. Februar 1942 nicht wieder zurückgeholt werden kann. — stop
fasankino
tango : 0.02 — Gestern, Dienstag, ist Ilse Aichinger 90 Jahre alt geworden. Ich erinnerte mich an einen Text, den ich vor einiger Zeit bereits aufgeschrieben habe. Der Text scheint noch immer nah zu sein, weshalb ich ihn an dieser Stelle wiederholen möchte. Ich betrachtete damals, als ich den Text notierte, eine Filmdokumentation. Es war ein früher Morgen und ich fuhr in einem Zug. Immer wieder spulte ich, Zeichen für Zeichen vermerkend, was ich hörte, den Film zurück, um kein Wort des gesprochenen Textes zu verlieren oder zu verdrehen. Und so kam es, dass auch Ilse Aichinger, von einem unruhigen Geleise geschüttelt, immer wieder auf dem handtellergroßen Bildschirm unter spazierenden Menschen vor mir auftauchte, indem sie von ihrer Kinoleidenschaft erzählte: Wenn ich mich recht erinnere, hörte ich in meiner frühen Kindheit eine ältere Frau zu einer anderen sagen: – Es soll jetzt Tonfilme geben. – Das war ein rätselhafter Satz. Und es war einer von den ganz wenigen rätselhaften Sätzen der Erwachsenen, die mich nicht losließen. Einige Jahre später, ich ging schon zur Schule, sagte die jüngste Schwester meiner Mutter, wenn wir an den Sonntagen zu meiner Großmutter gingen, bei der sie lebte, fast regelmäßig am späten Nachmittag: > Ich glaube, ich gehe jetzt ins Kino. < Sie war Pianistin, unterrichtete für kurze Zeit an der Musikakademie in Wien und übte lang und leidenschaftlich, aber sie unterbrach alles, um in ihr Kino zu gehen. Ihr Kino war das Fasankino. Es war fast immer das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könne sich den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich, und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. Aber man hat keine Wahl, was ich nicht nur bezüglich des Todes, sondern auch bezüglich der Auswahl der Filme zuweilen bedauere, wenn meine liebsten Filme plötzlich aus den Kinoprogrammen verschwinden. Obwohl ich es gerne wäre, bin ich leider keine Cineastin, sondern gehe sechs oder siebenmal in denselben Film, wenn in diesem Film Schnee fällt oder wenn die Landschaften von England oder Neuengland auftauchen oder die von Frankreich, denen ich fast ebenso zugeneigt bin. Ilse Aichinger: Mitschrift
asmara tigri
lima : 16.01 — Die Frau, die mir sofort eine Geschichte erzählen wird, scheint müde zu sein. Immer wieder fallen für Sekunden ihre Augen zu. Früher Morgen, Tigri hat die Nacht über gearbeitet. Wir sitzen in einem Schnellzug vom Flughafen in die Stadt. Gerade wollte sie noch wissen, warum ich auf dem Notebook einen Film betrachte, der von einstürzenden Türmen des World Trade Centers berichtet. Sie habe, bemerkt Tigri, sechs Stunden lang Briefe sortiert, das heißt, Luftpostbriefe für Inseln, die im Pazifischen Ozean liegen, weil sie eine Spezialistin für Inseln ist, auch für Inseln atlantischer Gebiete, aber vor allem kenne sie sich aus mit Inseln, die Kiribati heißen oder Tonga oder Palau oder Vanuatu. Sie sagt, dass sie diese Namen lieben würde, dass sie Anfang der 70er Jahre in einem Dorf nahe der eritreischen Hauptstadt Asmara geboren worden sei und dass das Dorf im Jahr 1984 wieder aufgebaut werden musste, weil an einem Sonntagabend ein MIG-Flugzeug das Dorf zerstört habe und viele ihrer Freunde getötet. Zu diesem Zeitpunkt lebte Tigri bereits in Westdeutschland. Wenn sie den Namen ihres Dorfes ausspricht, bin ich nicht imstande, das schöne Geräusch in meinem Kopf zu behalten, aber das Wort Asmara kann ich mir merken. Sobald ich das Wort Asmara formuliere, leuchten ihre Augen, also sage ich dreimal Asmara und freue mich über die Wirksamkeit dieses Wortes. Asmara soll eine Stadt hellen Lichtes sein, sage ich, es soll dort immerzu nach Kaffee duften, und Tigri lacht und ich denke, dass das jetzt entweder so ist oder dass das nicht so ist, dass sie jedenfalls das Helle mag und auch den Kaffeeduft. Man spreche Tigrigna dort in ihrer Gegend, sagt Tigri, und ich bemerke, dass ihr ganzer Name selbst in diesem Wort enthalten sei. Wieder lacht die junge Frau, schließt kurz die Augen, erzählt, dass ihr Bruder, ein Gynäkologe, aus den Diensten eines Krankenhauses entlassen wurde, weil man ihn nicht als das behandeln wollte, was er zu sein wünschte. Mein Bruder, wissen Sie, möchte ein König sein. Nun ist er arbeitslos und König. Er ist natürlich schwarz wie ich, genauso schwarz, und schwarz steht den Königen nur in Afrika. Sie macht eine kurze Pause, reibt sich die Augen. Wir sind jetzt allein auf dieser Welt, sagt Tigri, alles ging sehr schnell. Im vergangenen Jahr sei ihr Vater gestorben in Eritrea, ein glücklicher Mensch, ein Busfahrer, ein sehr stolzer Herr. Im Oktober desselben Jahres sei schließlich die Mutter mit dem Flugzeug via Rom nach Frankfurt gekommen. Sie habe, ohne das zu wissen, einen Tumor im Kopf mitgebracht, im Februar war sie dann umgefallen und tot im März. Tigri lehnt ihren Kopf an die Wand des Zuges, schaut aus dem Fenster. Ein heißer, schwüler Morgen. Ob sie den Film ansehen dürfe, will sie wissen.
tiefschlafende menschen
delta : 20.16 – Manchmal, in Zeiten höchster Not, sprechen Menschen, die wach sind, stellvertretend für jene Menschen, die schlafen, zu Gott. Vor einigen Jahren einmal habe ich Sätze flehender Gespräche im Bittbuch einer neurologischen Klinik entdeckt. Ich kniete damals, ich war selbst verzweifelt, und las in der Hoffnung, im Lesen vielleicht schon eine leise Verbindung aufnehmen zu können, indem ich Gedanken der Menschen nachfühlte, die an derselben Stelle gekniet hatten wie ich. Marianne schrieb am 22. Februar 2004: Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich wieder aufwachen kann. Deine Britta. Und Peter nur wenige Tage später: Gestern hat Marcella meine Hand gedrückt. Ich danke Dir, lieber Gott. Lass sie zu uns zurückkommen, lass sie wieder wach werden. Heute ist unsere Anna Marie 1 Jahr alt geworden. Seit Anna Marie lebt, schläft die Mama. Es ist genug. — stop
time
hibiskus : 22.25 — Wenn ich mich sehr langsam bewege, so langsam, sagen wir, wie möglich bewege, ohne umzufallen oder einzuschlafen, meine ich, einer Person nachspüren zu können, deren Leben auf 2800 Jahre Zeit ausgedehnt worden ist. Drei Pulse pro Minute an einem Tag von 840 Stunden Dauer. Ich hörte die Wetterfrage (Regen?) eines Freundes, der sich in jener anderen, in jener für Menschen üblichen Lebensgeschwindigkeit befindet. Ich antwortete 5 weitere Minuten später in einem kaum noch wahrnehmbaren Geräusch. Wie nur unbeschadet eine Straße überqueren? — stop