echo : 23.58 — Ich hatte gerade in einem Buch gelesen, als ich beobachtete, wie meine Hände, die den Buchkörper von entgegengesetzten Richtungen des Himmels her kommend berührten, sich bewegten, obwohl ich sie nicht dazu ermuntert hatte. Vielmehr war das so geplant gewesen, dass sie bewegungslos auf den Papieren ruhen sollten, um das Buch, das sich immer wieder schließen wollte, zu bändigen. Zunächst bewegte sich der linke, dann der rechte Daumen, ein Geräusch, ein helles Geräusch war zu hören, ich unterbrach meine Lektüre und legte das Buch zur Seite. Ich notiere: Sobald ich mich für ein oder zwei Minuten ganz und gar auf meine Hände konzentriere, vergesse ich mich selbst. Ich könnte mich, das ist denkbar, in dieser Übung einmal so gründlich vergessen, dass ich von außen her gerettet werden müsste, um wieder ganz anwesend und beweglich sein zu können. An einem anderen Tag, noch nicht lange her, war ich durch die Bewegung eines Fingers meiner linken Hand derart erschrocken, dass ich bald vom Tisch aufgesprungen wäre. Seltsame Sache. — stop
Aus der Wörtersammlung: minuten
ein Millionstel Gramm Wort
tango : 16.22 — Meine neue Schreibmaschine ist leicht und flach, ihr Atem geht leise. So fein ist sie gebaut, dass ich sie unter meinem Hemd verbergen könnte, niemand würde sie bemerken. Wenn das so weiter geht mit dem Leichterwerden der Maschinen, werde ich bald Schreibwerke zur Verfügung haben, die von geringerer Schwere sind als die Papiere, die ich mit ihren Zeichen fülle. — Wie viel genau wiegt eigentlich dieses elektrische Wort, das gerade vor mir auf dem Bildschirm erscheint? L i m a. Wie viele Male wird es heute oder morgen auf weiteren Bildschirmen aufgerufen, wie lange Zeit jeweils sichtbar sein? Es ist denkbar, dass das Wort L i m a, das in Europa vor wenigen Minuten verzeichnet wurde, schwerer wiegt, sobald es in Australien auf einem Bildschirm erscheint, als dasselbe Wort, wenn wir es in Europa lesen, 1 Millionstel Gramm schwerer, sagen wir, um 1 Millionstel Gramm Kohle schwerer und um den Bruchteil einer Sekunde. — stop
Edna St. Vincent Millay
sierra : 20.08 — Wie im Kurzschlaf die Welt neu geordnet wird. Alle Geschichten erzählen sich, als hätten sie sich über die kühle Hand einer Nacht gefaltet. Jede beginnende Stunde, eine Stunde vor unbekannter Landschaft. — Nachmittags dann begegnet mir im Park wieder einmal ein zentraler Satz des portugiesischen Erzählers António Lobo Antunes. Er sagte, um ein Buch zu schreiben, müsse man etwas riskieren. Ein Schriftsteller, der nichts wage, sei unaufrichtig. Ich spazierte und überlegte, was genau zu unternehmen ist, damit mein Schreiben so gefährlich werden könnte, dass ich von einem Wagnis sprechen dürfte. — Abend jetzt. Kühle Luft. Vor wenigen Minuten die Stimme der Dichterin Edna St. Vincent Millay. Sie liest ihr Poem RECUERDO. We were very tired, we were very merry, We had gone back and forth all night on the ferry. Das feine Dokument aufgehoben. Oder zu mir geholt. stop. Wie auch immer. — stop
PRÄPARIERSAAL : nachtarbeit
tango : 23.15 — Im Regen mit Tonbandgerät unter dem Schirm am See. Samstag. Augustkastanien fallen aus den Bäumen. Auf den Häuptern der Rotwangenschildkröten, die sich zu meinen Füßen arglos versammeln, als lauschten sie wie ich Magnetkopfstimmen, feuchte Häubchen von Ahornsamen. Kaum ein Mensch unterwegs. Ich dachte für einen Moment, weiß nicht wie das gekommen ist, dass ich an diesem Ort ohne Zeugen sofort den Versuch unternehmen könnte, eine der Schildkröten an ihrem Hals zu packen, sie aus dem Wasser zu heben, um sie zu Hause in der Küche mit einem Meißel zu öffnen. Auf Porzellan gebettet kurz darauf ein Reptilienhäufchen, rosafarben, feinste Streifen Schildkrötenbauches, dessen eigentliche Gestalt ich mir hinter Panzerhäuten liegend zurzeit nicht vorstellen kann. — 22 Uhr 58. Janine erzählt: > Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nachts aufwachte und den haarlosen Kopf meines Freundes vor mir gesehen habe. Ich erschrak fürchterlich. Ich saß ein paar Minuten senkrecht im Bett, dann bin ich aufgestanden. Wir haben eine sehr schöne Küche. Ich habe von Zeit zu Zeit in der Küche kampiert. Ich habe dort gelernt und manchmal bin ich mit dem Kopf auf dem Anatomieatlas eingeschlafen. Merkwürdig, über wie viel Kraft ich doch verfüge. Ich war beim Tanzen, zweimal wandern in den Bergen, ich habe gepaukt und ich habe mit dem Skalpell gearbeitet. Ich habe vormittags und mittags und Abend für Abend in der Bibliothek gelesen. Und wenn ich nachts in der Küche eingeschlafen bin, dann waren da plötzlich sehr scharfe Bilder in meinem Kopf. Aufblitzende Fotografien, die überfallartig Angst erzeugten. Der geöffnete Mund eines Toten. Sandige Zungen. Ein hoch aufragender, dunkelroter Penis. Das zerteilte und gehäutete Gesicht einer alten Frau. Das war nicht geträumt, ich habe diese Bilder bei vollem Bewusstsein vor mir gesehen. Jetzt kommen sie mich seltener besuchen. — stop
time
hibiskus : 22.25 — Wenn ich mich sehr langsam bewege, so langsam, sagen wir, wie möglich bewege, ohne umzufallen oder einzuschlafen, meine ich, einer Person nachspüren zu können, deren Leben auf 2800 Jahre Zeit ausgedehnt worden ist. Drei Pulse pro Minute an einem Tag von 840 Stunden Dauer. Ich hörte die Wetterfrage (Regen?) eines Freundes, der sich in jener anderen, in jener für Menschen üblichen Lebensgeschwindigkeit befindet. Ich antwortete 5 weitere Minuten später in einem kaum noch wahrnehmbaren Geräusch. Wie nur unbeschadet eine Straße überqueren? — stop
PRÄPARIERSAAL : zeppelin
echo : 2.16 — Wallstreet gestern Abend auf Fernsehbildschirm. Hinter einem Reporter, der vom abwärts strebenden Verhalten der Kurse erzählte, warteten japanische Menschen. Sie winkten fröhlich in die Kamera, grüßten, fächelten sich Luft zu mit fleischfarbenen Zeitungspapieren. Es schien warm zu sein in New York, schwül. Wäre ich jetzt dort, dachte ich, würde ich südwärts laufen zur nahegelegenen Hafenstation, würde mich auf das obere Deck eines der alten Fährschiffe begeben, würde bald im kühlenden Fahrtwind sitzen, eine Coke in der linken, eine Teigtasche mit Hummerfleisch in der rechten Hand, das Tonbandgerät in der Tasche und Mels Stimme im Kopfhörerohr, wie sie erzählt von anatomischer Zeit. — 2 Uhr und zwanzig Minuten. Regen. Blitze. Donner. Gerade eben hörte ich mich selbst, meine eigene Stimme. Ich formulierte vorsichtig eine Frage, wollte wissen, ob Mel sich im anatomischen Saal gefürchtet habe? Nein, antwortete Mel ohne zu zögern, sie habe sich nicht eine Sekunde lang vor den Toten gefürchtet. > Ich hatte in diesen 6 Wochen keine Zeit, Angst zu haben. Ich habe mich auf meine Aufgabe konzentriert. Ich habe mich vor Testaten ein wenig gefürchtet, und ganz am Anfang vielleicht davor einmal rasch umzufallen. Nur deshalb hatte ich wirklich Angst, umzufallen, das heißt nicht arbeiten zu können, aber davon erzählte ich bereits. Wenn ich mir das jetzt genau überlege, dann kann ich mich nicht erinnern, dass im Präpariersaal überhaupt irgendjemand umgefallen ist. Vielleicht musste man mal aus dem Saal gehen und sich setzen, weil man die Nacht zuvor nur kurz geschlafen hatte und deshalb müde war und weil die Augen brannten vom Formaldehyd in der Luft. Aber umgefallen, ich meine, ohnmächtig geworden, davon habe ich nichts mitbekommen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ich das alles nur geträumt habe. Auch in der Zeit, als ich noch präparierte, hatte ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Saal nicht wirklich war. Ich konnte meine Eindrücke nicht mit der Straße, über die ich nach Hause spazierte oder mit den Gesprächen der Menschen, die ich in der U‑Bahn gehört habe, in Verbindung bringen. Ich hatte den Eindruck, dass der Saal, dass die ganze Situation irgendwie frei schwebte, also ganz für sich war, isoliert. Und so reiste ich also hin und her, von da nach dort und wieder zurück, aber das war nicht schwer gewesen, so hin und her zu springen. Ich habe von dem ein oder anderen meiner Freunde gehört, dass sie Albträume gehabt hätten. Ich selbst habe aber nie geträumt. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Ich glaube, ich war in irgendeiner Weise geschützt. Ich kann nicht genau sagen, was mich geschützt hat, vielleicht war es die Dichte der Aufgaben, die mir gestellt waren. Ich hatte keine Zeit, lange über diese merkwürdige Situation nachzudenken. Ich meine, ich habe nicht lange darüber nachgedacht, dass ich, Mel, hier den Körper einer alten Frau so lange zerlege und betrachte, dass er fast verschwunden sein wird, wenn ich fertig sein werde. Ja, – es war sehr viel zu tun. Das hat es leichter gemacht.
PRÄPARIERSAAL : namen
marimba : 22.51 — Feuchte Fliegen lungern am Abend auf dem Boden herum. Das sanfte, einschläfernde Geräusch des Wassers, Dunkelheit kommt bald aus den Wolken gefallen. Unter dem Schirm dort weiter anatomische Tonbänder verzeichnet. Veronika* erzählt eine feine Geschichte, die ich beinahe genau so wiedergebe, wie ich sie vor wenigen Minuten hörte: > Ich stehe vor einem Tisch und betrachte einen Körper. Das ist ein Bild, das ich nicht erfunden habe, ein Bild, das jetzt zu meinem Leben gehört. Eine Frau, die in einem weißen Kittel vor einem Tisch steht, auf dem ein Mensch liegt, der tot ist. Ich habe mit den Ursachen dieses Todes nichts zu tun, ich empfinde keine Trauer, aber Respekt. In den ersten Minuten im Saal am Tisch habe ich nicht sehr geordnet, nicht systematisch jedenfalls nachgedacht. Ich glaube, ich habe zunächst versucht, ein Gefühl, ein geeignetes Gefühl für diese Situation zu finden, eine Position, meine Position. Kurz zuvor waren wir noch im Hörsaal gewesen. Unser Professor hatte ein Präparat mitgebracht. Dieser helle Körper, der weit entfernt in einem Oval unter den hoch aufragenden Sitzreihen auf einer Bahre lag, hatte etwas Einsames an sich. Als ich mich dann an meinem Tisch stehend über den Körper eines Mannes beugte, den ich in den folgenden Wochen zerlegen würde, suchte ich unwillkürlich nach Spuren, die zu einer Vorstellung führen könnten, wie er einmal lebte. Aber da war nichts, was mich mit seiner Zeit noch verbinden konnte, kein Name. Das Haar des Mannes war entfernt, an seinen Ohren waren hölzerne Schilder angebracht, auch an seinen Handgelenken und an seinen Füßen, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Ich erinnere mich, der Mann wirkte weder friedlich noch so, als würde er nur schlafen, da waren weder Zeichen einer langen Leidenszeit noch Spuren eines Kampfes. Das Gesicht war leblos, ein Gesicht ohne Ausstrahlung, ohne Elektrizität. Der Körper erinnerte mich an eine große Puppe, er hatte etwas Schematisches, aber vielleicht war das bereits mein Blick, meine Perspektive gewesen, die diesen Eindruck erzeugte? Ein Bein und noch ein Bein. Ein Arm und noch ein Arm, und ein Kopf. Ich konnte das bald gut, diesen Mann, diesen Körper betrachten. Ich war ganz entspannt dabei. Ich wusste auch, dass sich dieser Körper sehr rasch verändern würde in der Folge meiner Arbeit. Ich war der festen Überzeugung, dass wir dem Toten keinen Namen geben sollten. Ich war sehr froh, dass ich nicht wusste, wie sein Name lautete, als er noch lebte. Ich habe, kurzum, versucht, diesen Körper auf dem Tisch als ein Präparat zu betrachten, als eine für uns kostbare Hülle, als ein Vermächtnis. Meine Kommilitonen haben ihm einen Namen gegeben, aber wir haben uns deshalb nicht gezankt. Ich habe mich an der Suche nach einem Namen ganz einfach nicht beteiligt. - stop
* Name geändert
taubenstadt
~ : oe som
to : louis
subject : PIGEONS
date : july 17 11 8.15 a.m.
Seit gestern endlich wieder ruhige See, ein wolkenloser Himmel über uns. Noe, wohlauf in 550 Fuß Tiefe, liest Javier Tomeos Taubenstadt. Großartiges Buch. Vor 10 Tagen haben wir damit begonnen, Noes Stimme aufzunehmen. Wundervolle Funkgeräusche seither ohne Unterbrechung. Als wir Noe berichteten, dass wir seine lesende Stimme verzeichnen, dass man ihm zuhören könne in Lissabon, in Lima, in Shanghai, dass er eine Sensation sei, ein Mann, der das Lesen wasserfester Bücher erprobt, ein Mann im Taucheranzug, ein Mann, der seit 820 Tagen im Atlantik vor Neufundland lebt, eine menschliche Station, ein beleuchteter Körper in Lichtlosigkeit, – seit wir ihm gebeichtet haben, dass wir ihn konservieren, scheint Noes lesende Stimme ruhiger geworden zu sein. Wir haben den Eindruck, dass unser Mann nun fort jedes Zeichen genießt, das wir ihm zur Verfügung stellen. Nach wie vor heftige Debatten über die Temperatur des Tees, den wir in die Tiefe leiten. Noe behauptet, der Tee sei zu kalt. Er wolle in diesem Tee weder baden noch wolle er ihn trinken, wir sollten endlich alle Leitungen beheizen, die zu ihm führen. Vielleicht weil er sich darüber heftig erregte, verlor Noe gestern, um 20 Uhr und zwölf Minuten, Ovids Liebeskunst an das Meer. Eine Tragödie. In diesen Minuten, da ich Dir telegrafiere, liest Noe wieder ruhig vor sich hin. Wir hören seinen Atem. Wir hören das Funken der Wale. Beste Grüße Dein OE
gesendet am
17.07.2011
1579 zeichen
PRÄPARIERSAAL : erste schritte erste minuten
nordpol : 3.12 — Abends spät erreicht mich die E‑Mail eines jungen Mannes, den ich längst vergessen hatte, ich meine, ich hatte vergessen, dass dieser Mann jemals existierte, weil ich lange Zeit, ein Jahr ungefähr, nicht an ihn dachte. Sein Name ist Elia. Elia hatte auf eine Frage, die ich ihm schriftlich stellte, nicht geantwortet. Irgendwann habe ich aufgehört zu warten, ich kann nicht sagen, wann genau das gewesen sein könnte, im Winter vielleicht oder bereits im Herbst. Seltsam ist, das fällt mir in dieser Minute des Notierens auf, dass ich nie wahrnehmen kann, wenn ich etwas vergesse, den exakten Zeitpunkt des Leichterwerdens genauer, weil ich das Vergessen stets mit einem Eindruck der Schwerelosigkeit in Verbindung setzte. Das Vergessen scheint ein heimlicher Prozess zu sein, so heimlich, dass ich erst dann, wenn etwas Vergessenes zurückkehrt ins Leben, überhaupt in der Lage bin, sein Verschwinden zu bemerken. Nun ist sie also wieder hier bei mir, meine vergessene Frage. Ich hatte Elia gefragt, wie er die ersten Minuten in einem anatomischen Präpariersaal erlebte. Er beobachtete Folgendes: > Zuerst habe ich das Gebäude von außen gesehen, die Milchglasfenster, die riesigen Röhren an den Fenstern vorbei und die Rundungen des verheißenden und mich ängstigenden Raumes. dann hat mich das ehrwürdige Gebäude verschluckt. die Treppe hinauf konnte ich diesen widerlichen Geruch atmen. ich fand es unglaublich, mit welcher Liebe zum Detail dieses Gebäude ausgestattet ist. auf der Suche nach einem Ansprechpartner habe ich die Verzierungen im Boden bewundert. nachdem ich die Erlaubnis bekommen hatte, bin ich den langen Gang an den hautfarbenen Spinden vorbeigegangen zur Tür des Präpariersaales. sie war verschlossen. aber durch den kleinen Spalt konnte ich in eine Apsis voller mit rot leuchtenden Wachstüchern bedeckter Körper sehen. ich habe nur die Tücher gesehen, aber ich wusste, was darunter sein würde und war mir dabei trotzdem nicht sicher. ich hatte Angst. in der Nacht hatte ich Albträume und machte Sezierversuche. am nächsten Tag hatte ich meinen frischen weißen Kittel dabei, der aber durch das Bevorstehende schon jetzt mit einer seltsamen Schwere versehen war. ich wurde an ein paar Assistenten übergeben. willenlos folgte ich ihnen mit einer Mischung aus Angst und Neugier in den Saal. nach fünf Schritten blieb ich stehen. ich hatte das Gefühl, ich würde aufgesaugt vom Geruch und dem tosenden Lärm der klappernden Instrumente. mir war heiß und kalt. ich musste mich widerwillig zwingen tiefer zu atmen. und atmete noch intensiver den süßlich stechenden Duft des Formalins. diesmal mit den entsprechenden Bildern vor meinen Augen. ich befahl mir genau hinzusehen. ich zwang meine Augen ihre Blicke über die Körper schweifen zu lassen. um nicht mit den Mosaiken im Boden zu verschmelzen, musste ich alle Bilder vor meinen Augen mit Wörtern versehen.
the empress of weehawken
echo : 20.07 — Früher einmal, sobald ich spazieren ging oder auf eine Reise, zur Arbeit, ins Theater oder sonst wohin, nie verließ ich das Haus, ohne eines meiner zerschlissenen Unterwegsbücher mit mir zu führen. Wenn ich einmal doch kein Buch in der Hand oder Hosentasche bei mir hatte, sofort das Gefühl, unbekleidet oder von Leere umgeben zu sein. Als ob ich einen immerwährenden Ausweg in meiner Nähe wissen wollte, ein Zimmer von Wörtern, in das ich mich jederzeit, manchmal nur für Minuten, zurückziehen konnte. Da waren also Bücher von Malcolm Lowry, Kenzaburo Oe, Truman Capote, Friederike Mayröcker, Walter Benjamin, Janet Frame, Georg C. Lichtenberg, Heinrich von Kleist, Monika Maron, Alexander Kluge, Bohoumil Hrabal, Johann Peter Hebel, Patricia Highsmith, Elias Canetti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger. Irgendwann, weiß der Teufel warum, hörte ich auf damit. Seither trage ich meine Straßenbücher nicht mehr in der Hand, ich trage meine Straßenbücher auf dem Rücken. Gestern ist ein weiteres hinzugekommen, eines von Irene Dische. Das Buch ist 257 Gramm schwer am Morgen, o,5 Gramm leichter als am Abend. Seltsam. Ich habe keine Erklärung für dieses Verhalten. — stop