echo : 6.27 — An einem schwülwarmen Tag besuchte ich Ellis Island. Gewitter waren aufgezogen, der Himmel über Manhattan bleigrau. Trotzdem fuhren kleine weiße Schiffe von Battery Park aus los, um Besucher auf die frühere Quarantäneinsel zu transportieren. Ehe man an Bord gehen konnte, wurde jeder Passagier sorgfältig durchsucht, Taschen, Schuhe, Computer, Fotoapparate. Ein griechischer Herr von hohem Alter musste mehrfach durch die Strahlenschleuse treten, weil das Gerät Metall alarmierte. Er schwitzte, er machte den Eindruck, dass er sich vor sich selbst zu fürchten begann, auch seine Familie schien von der ernsten Prozedur derart beeindruckt gewesen zu sein, dass ihnen ihr geliebter Großvater unheimlich wurde. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Es begann heftig zu regnen, das Wasser wurde grau wie der Himmel, Pusteln, Tausende, blinkten auf der Oberfläche des Meeres. Im Cafe des Einwanderermuseums kämpften hunderte Menschen um frittierte Kartoffeln, gebratene Hühnervögel, Himbeereis, Sahne, Bonbons. Ihre Beute wurde in den Garten getragen. Dort Sonnenschirme, die der Wind, der vom Atlantik her wehte, davon zu tragen drohte. Am Ufer eine herrenlose Drehorgel, die vor sich hindudelte, Fahnen knallten in der Luft. Über den sandigen Boden vor dem Zentralhaus tanzten handtellergroße Wirbel von Luft, hier, genau an dieser Stelle, könnte Mary Mallon im Alter von 15 Jahren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße vertreten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Manhattan einreisen durfte. Ihr Schatten an diesem Tag in meinen Gedanken. Ein weiteres Gewitter ging über Insel und Schiffe nieder, in Sekunden leerte sich der Park. Dann kamen die Möwen, große Möwen, gelbe Augen, sie raubten von den Tischen, was sie mit sich nehmen konnten. Wie ein Sturm gefiederter Körper stürzten sie vom Himmel, es regnete Knochen, Servietten, Bestecke. Unter einem Tisch kauerte ein Mädchen, die Augen fest geschlossen. – stop
Aus der Wörtersammlung: orgel
PRÄPARIERSAAL : xiangs momentaufnahme
nordpol : 8.27 — Xiang, 24, notiert in einer E‑Mail über Musik und Anatomie – zwei Begriffe, die auf den ersten Blick unvereinbar scheinen. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher erkenne ich eine mögliche Verbindung. Sicher ist es das Thema des Todes, das die Musik dort dominieren würde, so dass mir spontan Besetzungen wie Orgel (allmächtiger Charakter), Xylophon (Kälte, Leblosigkeit) oder Chor (Totenklage) einfallen. Ich kann mir entweder sehr alte Musikstile, wie Gregorianik und Frühbarock, aber auch Musik des 20./21.Jahrhunderts vorstellen, z.B. John Cage oder George Crumb, deren Intention immerhin gerade in einer gewissen Absurdität, Grenzüberschreitung, bzw. in gewollter Entfernung von der Ästhetik der Wirklichkeit zu finden ist. Gerade dieses Moment prägt die Atmosphäre des Präpariersaales: eine zwar artifizielle, jedoch nicht primär ästhetische Arbeit an menschlichen Körpern, die durch den Tod und den Vorgang des Haltbar-Machens von einem Individuum zu einem Präparat verwandelt wurden, so dass Zeitlosigkeit an die Stelle dynamischen Lebens getreten ist. Es ist nicht leicht an Musik in diesem Zusammenhang zu denken, da sich Musik gerade durch ihren ewigen Fluss, ihre im Inneren geborgene Lebendigkeit auszeichnet, ihre Seele, die niemals sterben kann, selbst dann nicht, wenn noch so viele Versuche unternommen werden, sie in Momentaufnahmen zu konservieren. — stop
doppellunge
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : DOPPELLUNGE
Heute, liebe Daisy, liebe Violet, als ich im Park spazierte, hab ich an Euch gedacht. Das war nämlich so gewesen, dass ich wieder einmal übte, im Wandern die Luft anzuhalten. Ich versuchte 100 Meter weit zu kommen, langsam, sehr langsam, dann etwas schneller gehend. Es ist möglich, heute endlich ist es möglich geworden. Plötzlich fragte ich mich, welche Wirkungen die Übung des Luftanhaltens bei Euch früher einmal gezeitigt haben könnte. Ich überlegte, ob ihr Euch über das Luftanhalten verständigt haben würdet. Es ist immerhin denkbar, dass das Anhalten der Luft in Euerem Falle, bei der einen wie der anderen eine gewisse Kurzatmigkeit hervorgerufen haben müsste. Vielleicht werdet Ihr Euch erinnern? Wenn ja, dann gebt mir recht bald Bescheid. Ich arbeite zur Zeit sehr hart in diesen Dingen. Vor einigen Tagen habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las solange ich konnte, ich las ohne zu atmen, ich las bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorne an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Diesmal las ich mit leiser Stimme wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile a 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. — Herzlichst grüsst euch Euer Louis. Ahoi! – stop
gesendet am
10.07.2012
22.01 MESZ
2252 zeichen
atem
tango : 6.52 — In der vergangenen Nacht von 2 bis 3 Uhr habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las solange ich konnte, ich las ohne zu atmen, ich las bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorne an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Diesmal las ich mit leiser Stimme wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile a 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. – stop
metamorphose
india : 7.32 — An einem Tisch im wilden Garten. Die Sonne schien kräftig über nahen Bergen, wärmte mich und eine Ameise, die über das Holz des Tisches spazierte als würde sie einen Ausweg suchen, auf und ab, hin und her. Ich habe sofort bemerkt, dass es sich bei dieser Ameise um eine sehr besondere Ameise handelte, es war nämlich die erste Novemberameise meines bewussten Lebens, weswegen ich ihr einen Tropfen Marmelade vorgelegt habe, was das fiebrige Insekt zu erfreuen schien, weil es den Tropfen zunächst umkreiste, um sich kurz darauf mit Zangenwerkzeug an die Arbeit zu machen. Ich stellte mir vor, in dem ich die Ameise beobachtete, dass sie, satt geworden, zum Rand des Tisches laufen könnte und sich in die Tiefe stürzen. Ihr großartiger Flug weit über das Gartenland auf Lederhäuten, die sich zwischen ihren zarten Beinchen entfalteten. Stattdessen fiel eine Fliege vom Himmel, überschlug sich zweifach und blieb auf dem Rücken unmittelbar vor meinen Augen liegen. Aber das ist jetzt schon eine ganz andere Geschichte. — stop
holly — july 26
ginkgo : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klappstuhl nahe der Busstation Port Authority in einem Subwaytunnel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann vollzieht auf einer Hammondorgel Ohrenwurmmelodien ohne Pause. Weißes Haar, gelblich schimmernd, grauer Anzug, blaues Hemd. Dürr springen seine Hände über die Tastatur, auf dem spiegelnden Rücken des Instrumentes tanzt eine elektrische Jazzfigur im schwarzen Anzug. Die kleine Personenmaschine scheint defekt zu sein, hält immer wieder einmal an, bebt ein wenig nach, federt, fordert einen weckenden Stoß unverzüglich. Unweit, auf dem Boden, eine weitere Puppe, rotes Haar, lebensnah, durchblutet, ein Bonsaimädchen, dem zwei Finger der rechten Hand verloren sind. Geschmeidige Bewegungen der hellen Arme in jede Himmelsrichtung, grazil, leicht und rhythmisch als verfügte sie über wirkliche Ohren ihres hochbetagten Freundes, dessen Kopf von wandernden Wirbelknochen tief über die Tastatur gezwungen wird. Jede bäumende Bewegung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußerste schmerzhaft zu sein. Für Sekunden sind Augen eines jungen Menschen zu sehen, seltsam helle Augen. Eine elegant gekleidete Frau kniet vor dem Klappstuhl auf dem Boden. Sie betrachtet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht.
februarbrief
romeo : 0.15 — Noch war Februar gewesen, da verfasste ich einen Brief an ein Mädchen, das ich bereits kannte, als sie noch nicht laufen konnte. Sie heißt Rosario, was eigentlich nicht ganz richtig ist, weil das natürlich an dieser Stelle nicht ihr wirklicher Name sein darf. Aber dass ich ihr Patenonkel bin, ist eine Tatsache, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Rosario, ein zauberhaftes Wesen, wohnt jetzt in Brooklyn, New York, und zwar in der Hicksstreet nahe eines Hauses, in dem Arthur Miller sein Drama Tod eines Handlungsreisenden notierte. Genau dorthin nun schickte ich meinen Brief, einen papierenen Brief in einem Luftpostumschlag, den ich in ein Päckchen zu einer Büchersendung steckte. Ich schrieb, — ich darf das zitieren, weil ich die Erlaubnis dazu erhalten habe -, folgende Zeilen: “Liebe Rosario, hiermit sende ich Dir ein spektakuläres Buch, einen Katalog Leanne Shapton’s, der mich Tage lang begeisterte. Von einer Liebe wird berichtet, Du solltest sie unbedingt lesen, eine wundervolle, in seltsamer Weise erzählte Geschichte. Was das Buch wohl bei sich denken mag, jetzt da es nach einer Schiffsreise über den Atlantik her, im Flugzeug wieder zurück nach Amerika hin getragen werden wird? Gut, wir werden das vielleicht niemals herausfinden, oder, sag, hast Du gelernt mit den Büchern selbst zu sprechen? Erinnerst Du Dich noch an Abende, da ich Dir vorgelesen habe? Du lagst auf meinem Bauch, eine kleine Katze, und einmal legtest Du Dein Ohr an meine Stirn, und wolltest meine Gedanken hören. Und als Du nichts vernehmen konntest, sagtest Du zu mir mit großen Augen: Du musst lauter denken, Louis, ich kann dich nicht hören! Viel Vergnügen beim Lesen und Schauen wünscht Dir Dein Louis”
weitrufend
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : RADAR
Mein lieber Jonathan. Noch immer kein Zeichen. Aber ich weiß, ich spüre, dass Sie am Leben sind. Deshalb schreibe ich weiter, übermittle meine Nachrichten an Sie in der Hoffnung, dass irgendwann einmal eine Antwort eintreffen wird. – Vor zwei Tagen von einer kleinen Reise zurückgekommen, bin ich noch etwas müde, aber froh und voller Zuversicht. Ich habe in einem Saal vor Menschen aus einem Text vorgelesen, den Sie bereits kennen. Ich konnte meine Zuhörer nicht sehen, weil mein Gesicht beleuchtet war. Und weil ich sie so wenig hören wie ich sie sehen konnte, dachte ich für einen Moment, dass sie vielleicht aufgehört haben zu atmen oder ganz verschwunden sind, ohne dass ich ihre Flucht bemerkte. Ich beobachtete meine Stimme während ich las. Sie war zunächst eine fremde, öffentliche Stimme gewesen, entfernt, aber dann, Wort für Wort, kam sie zu mir zurück. Ja, wie ich langsamer wurde, weil mein Herz sich langsamer, ruhiger bewegte. Wie jene Wörter, in einer weiteren Zeile als der gerade beschallten Zeile, bereits hörbar waren in meinem Kopf. Ihre besänftigende Gegenwart, mein lieber Jonathan! Und nun bin ich also zurück und denke nach und schreibe Ihnen in der Hoffnung, dass Sie lesen werden, was ich für sie notiere. Ich habe von Ihnen erzählt, wissen Sie! Ich habe erzählt, dass ich mich um Sie sorge. Und ich war stolz, von dem ersten Menschen berichten zu können, der sich mit künstlichen Lungen versehen, in die nordamerikanische Wildnis wagte. Ja, mein lieber Kekkola, ich weiß, dass Sie noch am Leben sind. — Ihr Louis
gesendet am
28.10.2009
23.58 MESZ
1161 zeichen
louis to jonathan
noe kekkola »
nadja einzmann : zeit vergeht
tango : 8.25 — Ein warmer Wind wehte gestern Abend Laub von der Straße her ins Cafe. Lauschte einer angenehmen Stimme. Hörte eine Geschichte, die einmal meine Geschichte gewesen war und noch immer zu mir gehört und doch eine ausgewanderte, eine geschenkte Geschichte ist. Diese Geschichte schildert eine erste Wahrnehmung der Zeit. Als ich sie vor zwei oder drei Jahren an genau jenem Tisch erzählte, an dem sie nun aus einem Buch vorgelesen wurde, hatte ich nicht die Erwartung, sie einmal kunstvoll zwei Sätzen eingeschrieben und gedruckt zu sehen: Seine vielleicht erste Erinnerung, dass er unter dem Weihnachtsbaum liegt und sich in einer roten Weihnachtskugel spiegelt. Als er sich im folgenden Jahr wieder so gespiegelt vorfindet, denkt er zurück und weiß auf einmal, dass Zeit vergangen ist, dass Zeit vergeht. Nadja Einzmann
im wald
14.12 — Träumte einen Wald. Kühle Luft dort, steinerne Halme bis unter den Himmel, uraltes Zeug. Auch Affen, sie waren durchblutet, mächtige Tiere, von Kopf bis Fuß schwarzweiß in Streifen. Auch die Ohren, schwarz und weiß. Sehr kleine Ohren, Ohren aus Mensch. Auf einer Lichtung drehte sich eine Kugel dicht über dem Boden, rasend schnell, elektrisch beleuchtet, warmes, angenehmes Licht. Sand flog auf an Ort und Stelle, und Laub. Da war noch Musik, eine Orgel, direkt aus dem Boden, Walzermusik. Auch Stimmen von dort, gedämpfte Stimmen. Nicht weit, etwas loses Papier im Gras. Und leere Flaschen. Die Luft stank nach Schnaps, nach Urin und diesen Dingen. Im Schatten einer kräftigen Buche lagen ein paar Bücher herum, ein Lowry, etwas Duras, etwas Fitzgerald, auch von Joyce ein paar Seiten, von O’Neill. Plötzlich Dämmerung, Zwielicht. Ich erinnere mich an das Haupt von Patricia Highsmith, das aus dem Boden ragte. Das war ein sehr schmutziger Kopf, ein Kopf, der lachte. Der Kopf sah mich an und sagte, heisere Stimme: Malcolm hat wieder ein Manuskript verloren. Dann schwieg er. Dann aber kühl: Ich wünsche eine Bestellung aufzugeben. — stop